
Inhaltsverzeichnis
Hintergründe und Quellen
Dem islamischen Glauben zufolge enthält der Koran das perfekte und für alle Zeiten gültige Wort Gottes, das von dem Propheten Mohammed offenbart wurde.
Die in diesem Roman zitierten Koranverse stammen aus der Übersetzung von Rudi Paret.[1] Parets Koranübersetzung ist die Standardübersetzung der deutschen Islamwissenschaft und gilt als die wörtlich genaueste Übersetzung ins Deutsche. Die Koranzitate in diesem Roman wurden an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst. Einige ergänzende Anmerkungen von Paret wurden entfernt. Einfügungen und Auslassungen in den Koranversen sind mit eckigen Klammern gekennzeichnet.
Die Hadithe sind Überlieferungen über Mohammeds Leben und Wirken. Die in diesem Roman erwähnten Hadithe wurden von islamischen Gelehrten als authentisch (arabisch: sahīh) eingestuft. Wenn nicht-authentische Hadithe erwähnt werden, wird dies im Text deutlich genannt.
Der Roman nimmt an vielen Stellen Bezug auf real existierende Ereignisse und sozialwissenschaftliche Befunde. Die genutzten Quellen sind mit eingeklammerten Ziffern im laufenden Text gekennzeichnet und im Anhang aufgelistet. Der Anhang enthält außerdem ergänzende Bemerkungen zu einigen Passagen.
Kapitel 1
Der Dschinn tastete nach der Pistole in seiner Jacke. Langsam fuhr er mit der Hand über den Schalldämpfer. Die Berührung mit dem kalten Stahl beruhigte ihn.
Als er die Waffe fühlte, musste er wie so oft an den Schwertvers denken, einen der letzten Verse, den der Prophet – Friede sei mit ihm – offenbart hatte:
[9:5] Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf! […]
Der Dschinn mochte diesen Vers und seine stürmische Sprache. Er selbst hielt es mit dem Töten jedoch weniger leidenschaftlich. Natürlich empfand auch er Befriedigung, wenn er Ungläubige niederstreckte. Es gefiel ihm, die Panik in ihren Gesichtern zu sehen, wenn sie ihr wertloses, unreines Leben unter ihm aushauchten. Das alles gefiel ihm sogar sehr. Aber der Dschinn tötete nicht zu seinem eigenen Vergnügen. Wenn der Dschinn tötete, dann nur, um Gott zu dienen.
Und heute würde er Gott einen ganz besonderen Dienst erweisen. Die Mission, auf die der Herr ihn geschickt hatte, war die wichtigste seines gesamten Lebens.
Der Dschinn warf einen Blick durch die Windschutzscheibe seines Wagens. Niemand war zu sehen. Die vornehmen Einfamilienhäuser, die die Straße links und rechts säumten, wirkten völlig still. Nur einige wenige Häuser waren weihnachtlich mit Lichterketten geschmückt, doch die meisten lagen unbeleuchtet in der winterlichen Dunkelheit. Der Dschinn befand sich im Osten Berlins, im Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Diese Gegend war bieder und strahlte eine wohlbehütete Ruhe aus – ganz anders als die laute, graue Berliner Innenstadt, in der er sich sonst aufhielt. Der Dschinn wusste, dass er mit seinem arabischen Aussehen hier deutlich auffiel. Und auffallen wollte er auf keinen Fall. Umso dankbarer war er dem Herrn dafür, dass kein Ungläubiger zu sehen war. Niemand schien sich daran zu stören, dass er mit gelöschtem Licht am Straßenrand parkte und immer wieder zu einem bestimmten Punkt sah.
Der Dschinn hatte seinen Wagen so platziert, dass er sein Ziel gut im Blick hatte: ein schlichtes Einfamilienhaus, das von einer hohen Hecke umgeben war.
Der Dschinn kontrollierte sein Smartphone. Auf dem Display war eine Karte zu sehen, in deren Mitte ein roter Punkt leuchtete. Dieser rote Punkt gehörte zu einem kleinen GPS-Sender, den der Dschinn seiner Zielperson untergeschoben hatte. Er schaute noch einmal zu dem Haus rechts von ihm. Es gab keinen Zweifel: Der GPS-Sender musste sich hinter der hohen Hecke befinden, die um das Haus verlief.
Hier beginnt meine Mission, dachte der Dschinn. Er musste jetzt nur noch abwarten, bis er die Zielperson entdecken würde.
Seine Hand fuhr unwillkürlich zurück zu der Pistole in seiner Jacke. Wenn es so weit war, würde er zuschlagen. Er war zu allem bereit.
Der Dschinn lächelte. Gott hatte Großes mit ihm vor. Seine heutige Mission würde die Welt der Ungläubigen für immer verändern.
Kapitel 2
Wie jeden Abend kümmerte sich Paul Kampel um die Pflanzen in seinem Gewächshaus. Stolz betrachtete er seine geliebten Gewächse, die akkurat nebeneinander in ihren Töpfen ruhten. Kampels Blick glitt über den Lavendel. Ein Symbol der Reinheit und der Erinnerung, dachte er. Dann gab es noch die Vergissmeinnichts. Ein Mahnmal gegen das Vergessen. Am liebsten waren Paul Kampel jedoch seine weißen Rosen. Weiße Rosen standen für die Liebe über den Tod hinaus. Und für Geheimnisse …
Als Kampel die weißen Rosen betrachtete, wanderten seine Gedanken wie so oft zu seinem Sohn. Es war jetzt beinahe ein Jahr her, dass Dominik verschwunden war. Damals hatte Kampel sich das Gewächshaus angeschafft und mit dem Gärtnern angefangen. Seine Pflanzen sollten ihm Trost spenden und ihn gleichzeitig daran erinnern, welche schrecklichen Fehler er bei Dominik begangen hatte …
Wie so oft postierte Paul Kampel sich vor seinen weißen Rosen, faltete die Hände, schloss die Augen und dachte eine Minute lang schweigend an Dominik.
Ich vermisse dich jeden Tag, dachte er. Bitte vergib mir. Ich wollte immer nur das Beste für dich, aber ich war dir kein guter Vater.
Kampel seufzte schwer und öffnete die Augen. Es war Zeit, zurück an die Arbeit zu gehen. Er verließ das Gewächshaus und schloss die Glastür hinter sich ab.
Kampel durchquerte den Garten und ging zurück in das Haus, das er vor nicht allzu langer Zeit noch mit seiner Frau und seinem Sohn bewohnt hatte. Jetzt war er der einzige Bewohner. Das Haus ist viel zu groß für mich alleine, dachte er traurig, als er auf das Gebäude blickte. In den vergangenen Jahren hatte er sein Heim im Dezember immer weihnachtlich geschmückt, doch ohne seine Familie sah er keinen Sinn darin. Das Haus sah dieses Jahr genauso trist aus, wie er sich fühlte.
Als Kampel den Hausflur betrat, fiel sein Blick auf ein Foto, das auf einer Kommode stand. Das Bild zeigte ihn und Dominik, wie sie nach einem Angelausflug stolz ihre gefangenen Fische in die Höhe hielten. Wie immer, wenn Kampel seinen Sohn so neben sich sah, erstaunte ihn die Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden. Dominik war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Diese Ähnlichkeit hatte Kampel sehr stolz gemacht.
Unglaublich, dass dieser Ausflug schon sechs Jahre her ist, dachte Kampel. Auf dem Bild grinste Dominik breit über den Fisch in seiner Hand. Damals war sein Sohn noch anders gewesen: so unbefangen und glücklich. Innerhalb weniger Jahre hatte er sich völlig verändert.
Aber auch Paul Kampel hatte sich verändert. Es kam ihm vor, als wäre er in den letzten sechs Jahren um Jahrzehnte gealtert. Er warf einen kritischen Blick in den Flurspiegel und erschrak darüber, wie wenig er dem glücklich lächelnden Mann auf dem Foto ähnelte.
Kampel war zwar erst Anfang Vierzig, aber seine vollen, dunklen Haare waren schon stark ergraut und in seinem Gesicht zeigten sich bereits die ersten Falten. Er wusste nicht, ob es Alters- oder Sorgenfalten waren. Immerhin lenkt die Brille ein wenig von meinen Krähenfüßen ab, dachte er, als er das dicke, schwarze Gestell betrachtete, das seine grün-braunen Augen einrahmte – Kampel wusste, dass solche Brillen derzeit modern waren. Zufrieden registrierte er außerdem, dass er nicht zugenommen hatte: Er war noch immer so schmal wie eh und je. Mit seinen 1,85 Metern wirkte er nach wie vor lang und drahtig.
Wie üblich trug Kampel ein bunt kariertes Hemd über einem T-Shirt, eine dunkle Jeans und dazu schwarze Sneakers. Dieser lockere Kleidungsstil hatte schon viele seiner Leser überrascht, die ihn nur von dem kleinen Foto auf der Rückseite seiner Bücher kannten. Wenn sie Kampels öffentliche Auftritte besuchten, erwarteten sie zumeist einen ernsten, mürrischen Mann in einem dunklen Anzug. Die Zuschauer waren dann stets erstaunt, dass Kampel ein locker gekleideter Mann war, der häufig lachte und gerne Witze machte. Sogar einer seiner größten Kritiker hatte Kampel erst kürzlich in einem Zeitungsartikel als eine »gewinnende Persönlichkeit« beschrieben.
Kampel betrachtete seinen traurigen Gesichtsausdruck im Spiegel und dachte daran, dass der Zeitungsartikel wohl ganz anders ausgefallen wäre, wenn der Reporter ihn so gesehen hätte. Seit Dominiks Tod fühlte er sich ganz und gar nicht charismatisch, sondern unglaublich müde. Nur wenn es um seine Bücher ging, blühte er noch auf.
Kampel warf einen letzten Blick auf das Foto von Dominik und stellte es zurück auf die Kommode. Es war Zeit, an die Arbeit zu gehen. Das bin ich dir schuldig, Dominik.
Kampel betrat die Wohnküche. In der hinteren Ecke des großen Raumes hatte er sich seinen Arbeitsbereich eingerichtet. Dort stand ein schwerer, alter Schreibtisch, auf dem ein bestens ausgestatteter Computer thronte. Daneben hing eine große Pinnwand, an die Kampel zahllose Zeitungsartikel, Buchausschnitte und Computerausdrucke geheftet hatte, die mit Anmerkungen und Notizen versehen waren. Die beiden Wände um den Schreibtisch wurden von deckenhohen Regalen gesäumt, die randvoll mit Büchern gefüllt waren. Kampels Frau hatte seine Arbeitsecke immer als die »Hausbibliothek« bezeichnet.
Kampel setzte sich in den Drehstuhl an den Schreibtisch und atmete tief durch. Er liebte diesen Platz. Fast alle seine Bücher waren genau hier entstanden.
Stolz schaute Kampel auf den oberen Teil des Bücherregals, wo er die Erstausgaben seiner eigenen Werke aufbewahrte. Die Bücher in dem Regal trugen Titel wie:
WORAN GLAUBEN DSCHIHADISTEN?
Die theologischen Grundlagen des Heiligen Krieges
VOM KRUMMSÄBEL BIS ZUR AK-47
Der Heilige Krieg im Wandel der Zeit
SCHARIA IN EUROPA
Islamische Privatgerichte in westlichen Ländern
DIE KAIROER ERKLÄRUNG DER MENSCHENRECHTE
Was bedeutet sie für Europa?
Kampel konnte ohne Übertreibung behaupten, einer der bekanntesten Religionswissenschaftler Deutschlands zu sein. Am häufigsten beschäftigte er sich in seinen Werken mit dem Islam, wobei er vor allem den Dschihadismus und die Scharia erforschte. Bereits sein erstes Buch, in dem er aufzeigte, wie Dschihadisten ihre Taten theologisch begründen, war zu einem Standardwerk der Dschihadismusforschung geworden.
Kampel fuhr den Computer an seinem Schreibtisch hoch. Seit einigen Monaten arbeitete er an einem neuen Buch und er war fest entschlossen, auch dieses zum Erfolg zu führen.
Als Kampel das Schreibprogramm öffnete, klingelte es an der Haustür. Überrascht hielt er inne. Besuch? Um diese Uhrzeit? Er überlegte kurz, ob er womöglich einen Termin vergessen hatte. Schließlich schüttelte er den Kopf. Er war sich sicher, dass er für heute niemanden mehr erwartete.
Instinktiv wurde Kampel misstrauisch. War das vielleicht einer seiner Kritiker? Zuweilen kam es vor, dass sich jemand von seinen Veröffentlichungen auf den Schlips getreten fühlte. Das war als Religionswissenschaftler leider nicht zu vermeiden. Um sich unangenehme Besucher fernzuhalten, legte Kampel großen Wert darauf, dass seine Adresse vor seinen Lesern geheim blieb.
Wieder klingelte es an der Tür, diesmal gefolgt von einem hastigen Klopfen.
Wer auch immer das ist, er hat es eilig, dachte Kampel verärgert, als er sich aus seinem Drehstuhl erhob. Langsam ging er in den Flur zur Haustür. Er bewegte sich leise auf die Tür zu, sodass der Besucher möglichst keine Notiz von seiner Anwesenheit nehmen würde. Vorsichtig warf er einen Blick durch den Türspion.
Was Kampel durch das Glas sah, überraschte ihn: Vor seiner Tür stand eine kleine Frau, die ihre langen, hellblonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Er schätzte ihr Alter auf Ende dreißig ein. Die ungebetene Besucherin trug fellbesetzte Winterstiefel, eine dunkle Jeans und eine eng anliegende dunkelblaue Jacke, die ihre blauen Augen unterstrich. Obwohl Kampel sie nur durch die verzerrte Fischaugenperspektive des Türspions ausmachen konnte, fand er sie sehr attraktiv.
Kampel wandte seinen Blick von der Frau auf den Hintergrund der Szenerie. Hinter der unbekannten Blondine stand ein großer, auffällig roter Lieferwagen – mitten auf seinem Grundstück.
Was will diese Frau bloß? Kampel war nicht sicher, ob er sich ihr zeigen oder einfach warten sollte, bis sie verschwinden würde.
Doch die blonde Frau schien bereits gemerkt zu haben, dass er hinter der Tür stand. Ihre stechenden blauen Augen blickten ihn durch den Türspion hinweg durchdringend an.
»Bitte machen Sie auf!«, sagte sie ernst. Sie machte eine kurze Pause. Was sie dann sagte, versetzte Kampel in einen Schockzustand: »Ich weiß womöglich, wer Ihren Sohn für den Islamischen Staat rekrutiert hat.«
Kapitel 3
Kampel war völlig gelähmt. Die Worte der unbekannten Frau vor seiner Tür hallten immer wieder durch seinen Kopf: Ich weiß womöglich, wer Ihren Sohn für den Islamischen Staat rekrutiert hat.
Eine Flut von unangenehmen Erinnerungen stürzte auf Kampel ein. Für einen Augenblick hatte er wieder die Stimme seiner Ex-Frau im Ohr, die ihm erklärte, dass Dominik seit mehreren Tagen vermisst wurde. Dann sah er sich selbst dabei zu, wie er zusammen mit der Polizei Dominiks Wohnung betrat, nachdem dieser seit Tagen verschwunden war. Ein Polizist erklärte ihm nüchtern, dass sein Sohn vermutlich nach Syrien gereist sei, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen – jener grausamen Terrororganisation, die seit Jahren die Schlagzeilen beherrschte …
Kampel schnappte nach Luft. Ihm war, als wäre er aus einem reißenden Strom aufgetaucht. Er musste sich auf die Gegenwart konzentrieren.
Woher wusste die Frau vor seiner Tür, was mit Dominik passiert war? Kampel hatte alles Menschenmögliche getan, um das Verschwinden seines Sohnes vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Die Reporter wären wie Piranhas über Dominik hergefallen, wenn sie erfahren hätten, dass ausgerechnet der Sohn eines bekannten Religionswissenschaftlers sich dem Islamischen Staat angeschlossen hatte. Dominik hatte ein besseres und respektvolleres Andenken verdient, als das Opfer der gierigen Sensationspresse zu werden. Kampel hatte dafür gesorgt, dass niemand von seinem Verschwinden erfuhr. Die einzigen, die davon wussten, waren Maria – seine Ex-Frau – und die Polizei. Also wie konnte die fremde Frau vor seiner Tür von Dominik wissen?
»Bitte machen Sie auf, Herr Kampel«, wiederholte die Unbekannte. »Ich weiß, dass Sie da sind.«
»Wer sind Sie überhaupt?«, rief Kampel durch die Tür hindurch. »Und woher wissen Sie, dass …« Er stockte. Er brachte die Wahrheit nicht über die Lippen. Dominik ist in den Heiligen Krieg gezogen. »Woher wissen Sie von meinem Sohn?«, vollendete Kampel den Satz.
»Mein Name ist Lisa Albers. Ich bin Kommissarin beim Bundeskriminalamt. Ich arbeite in einer Abteilung zur Abwehr von Dschihadisten. Wir führen eine lange Akte von allen Deutschen, die nach Syrien reisen, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen.« Die Frau hielt kurz inne. »Ihr Sohn ist auch in dieser Akte.«
»Was wollen Sie von mir?«, fragte Kampel, noch immer durch die geschlossene Tür.
Die angebliche Kommissarin zögerte einen Moment. Sie schien zu überlegen, wie sie es formulieren sollte. »Unseren Ermittlungen zufolge muss Ihr Sohn von einem hochrangigen Mitglied des Islamischen Staats gezielt ausgewählt und geschult worden sein. Wir haben diesen Mann allerdings nie gefunden und wir wissen bis heute nicht, wer er ist. Er ist immer noch dort draußen und rekrutiert Jugendliche, genau wie Ihren Sohn.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich habe einen neuen Hinweis, der uns zu diesem Mann führen könnte, aber mir bleibt nur wenig Zeit, um dieser Spur nachzugehen. Ich benötige dafür einen Experten für islamische Theologie. Einen Experten wie Sie.« Die Stimme der Frau wurde sanft. »Ich brauche Ihre Hilfe, Herr Kampel. Also bitte, lassen Sie mich rein. Dann erkläre ich Ihnen alles.«
Kampel fühlte sich plötzlich schwach. Er lehnte sich einen Moment lang gegen den Türrahmen und schloss die Augen. Seit Dominik verschwunden war, wurde er in fast jeder wachen Minute von Schmerz verfolgt. Was auch immer er tat, die Qual war allgegenwärtig und stets in seinem Hinterkopf präsent. Es hatte lange gedauert, doch irgendwie hatte er sich mit dem Schmerz arrangiert. Er hatte sich zum Andenken an seinen Sohn in seine Arbeit und in seine Pflanzen gestürzt und die schrecklichen Erinnerungen tief in sich vergraben. Und nun zerrte diese Kommissarin alles zurück an die Oberfläche.
Konnte diese Frau wirklich einen Hinweis auf den Mann haben, der Dominik für den Islamischen Staat angeworben hatte? Bisher waren alle Spuren ins Leere verlaufen. Die Polizei hatte in zahllosen Moscheen ermittelt, in denen islamische Gefährder angeworben wurden, aber nie einen konkreten Hinweis entdeckt. Auch Kampel hatte Nachforschungen über radikale Prediger angestellt, die sein Sohn besucht haben könnte. Aber das alles hatte zu nichts geführt. Was für einen Hinweis sollte die Frau vor seiner Tür also haben? Oder lügte sie womöglich? War sie vielleicht nur eine Reporterin auf der Suche nach einer guten Story?
Kampel atmete tief durch. Letztendlich waren all diese Überlegungen irrelevant. Wenn auch nur der Hauch einer Chance bestand, dass er den Mann finden könnte, der Dominik in den Dschihad geführt hatte, musste er sie nutzen.
Vorsichtig öffnete Kampel die Tür. »Kommen Sie rein«, sagte er.
Die Kommissarin trat ein. Kampel schloss schnell die Tür hinter ihr. »Zeigen Sie mir Ihren Dienstausweis!«, forderte er und versuchte dabei möglichst selbstbewusst zu wirken.
Die blonde Frau holte einen Ausweis aus ihrer Steppjacke und drückte ihn Kampel in die Hand.
Aufmerksam untersuchte er das Dokument:
BUNDESKRIMINALAMT
Kommissarin Lisa S. Albers
Fachabteilung »Polizeilicher Staatsschutz« (ST)
Kampel nickte. Die Angaben auf dem Ausweis stimmten mit dem überein, was die Frau gesagt hatte. Kampel wusste, dass Dschihadisten von der Polizei in den Bereich »politisch motivierte Kriminalität« eingeordnet und deshalb vom Polizeilichen Staatsschutz untersucht wurden. Außerdem wirkte das Dokument echt. Er entspannte sich ein wenig.
Kampel gab der Polizistin den Ausweis zurück und kam gleich zur Sache: »Was ist das für ein Hinweis, den Sie haben?«
Lisa Albers griff erneut in ihre Steppjacke und holte eine Kette aus grünem Samt hervor. An der Kette baumelte ein schwarzer, zylinderförmiger Anhänger von der Größe eines Lippenstiftes. Auf dem Anhänger war in goldener Farbe schwungvoll ein arabisches Wort geschrieben:
فتنة
Als Kampel den Anhänger sah, fuhr er erschrocken zusammen. Sofort riss er der Kommissarin die Kette aus der Hand. Er wendete den zylinderförmigen Anhänger vor seinen Augen und betrachtete ihn aufmerksam von allen Seiten.
Kampel zitterte. Er hatte so einen Anhänger schon einmal gesehen …
»Wie hilft uns dieser Anhänger dabei, den Mann zu finden, der meinen Sohn für den Islamischen Staat rekrutiert hat?«, fragte er und versuchte, sich seinen Schock nicht anmerken zu lassen.
»In dem Anhänger ist ein Hinweis«, sagte Lisa Albers.
»In dem Anhänger?«
Die Kommissarin nickte. »Der Anhänger lässt sich öffnen. Schauen Sie.«
Sie nahm Kampel die Kette aus der Hand und schraubte mit einer Drehbewegung den oberen Teil des kleinen Zylinders ab. Offenbar handelte es sich bei dem Anhänger um einen Behälter. Aus dem Inneren zog sie einen kleinen Zettel hervor und überreichte ihn Kampel.
Gespannt faltete Kampel den Zettel auseinander. Darauf stand ein kurzer Text.
Als Kampel den Zettel las, konnte er seinen Schrecken nicht mehr verbergen. In sein Gesicht trat das blanke Entsetzen.
Kapitel 4
Der Dschinn hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er saß noch immer in seinem Wagen und beobachtete das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Langsam wurde er nervös. Seitdem er seinen Beobachtungsposten eingenommen hatte, war nichts passiert.
Er kontrollierte noch einmal das Display auf seinem Handy. Nichts. Der GPS-Sender hatte sich in den letzten Minuten um keinen Zentimeter bewegt. Das Signal befand sich immer noch hinter der hohen Hecke, die um das Haus verlief. Irgendwo dort, vor den Blicken des Dschinn geschützt, musste sich seine Zielperson befinden. Sie hatte sich in den letzten Minuten nicht von der Stelle gerührt.
Worauf wartet dieser Kerl bloß?, dachte der Dschinn verärgert.
Er ging noch einmal in Gedanken durch, wie er der Zielperson den GPS-Sender untergeschoben hatte. Hatte er dabei womöglich einen Fehler gemacht?
Es war in einer kleinen Hinterhof-Moschee gewesen, wie es sie mittlerweile zuhauf in Berlin gab. Die Moschee war eine ehemalige Fabrikhalle, die erst kürzlich zu einer Gebetsstätte umfunktioniert worden war. Dementsprechend kalt und unbehaglich war es dort. Derartige Hinterhof-Moscheen überzeugten jedoch nicht durch Komfort oder eine beeindruckende Architektur, sondern durch Prediger, die das Wort Gottes unverfälscht wiedergaben … Das Gotteshaus war randvoll gewesen. Überall hatten Männer auf dem Teppich gesessen und auf den Beginn des rituellen Gebets gewartet. Der Dschinn hatte sich in eine der hinteren Reihen zwischen die Betenden gesetzt, sodass er sein Ziel gut im Blick hatte.
Die Person, die der Dschinn schon den ganzen Tag über unauffällig verfolgt hatte, war ein junger Mann namens Tariq. Tariq stand kurz davor, zu einem Mudschahid zu werden – einem Krieger Gottes. Er würde in Kürze die Instruktionen erhalten, die ihn auf den Weg Gottes führen würden. Tariq kannte den Dschinn nicht – und das sollte auch so bleiben. Der Dschinn sollte den angehenden Mudschahid zunächst nur beobachten.
Kurz nach dem Gebet war der Moment gekommen, auf den der Dschinn so lange gewartet hatte: Ein Mann kam auf Tariq zu und überreichte ihm mit einer flüchtigen Handbewegung einen kleinen schwarzen Anhänger an einer grünen Samtkette. Als der Dschinn den Anhänger aus der Ferne sah, konnte er förmlich spüren, wie sich das Blut in seinen Adern erhitzte. Endlich begann die Mission, auf die Gott ihn geschickt hatte. Von nun an musste er unter allen Umständen Tariq und dem Anhänger folgen.
Der Dschinn hatte Tariq im Schutz der betenden Menge beobachtet und geduldig gewartet. Als der angehende Mudschahid die Moschee verlassen wollte, stolperte der Dschinn scheinbar zufällig gegen Tariq und brachte dabei in einer fließenden Bewegung einen kleinen GPS-Sender in seiner Jackentasche an. Das Gerät war so klein, dass Tariq es nicht bemerkt hatte. Der Sender teilte dem Dschinn jederzeit seine Position mit. Er konnte Tariq von nun an überall hin folgen.
Der Dschinn hatte sich in seinen Wagen gesetzt und auf seinem Smartphone beobachtet, wie das GPS-Signal über die Karte gewandert war. Das Signal hatte sich zunächst langsam bewegt, war in einer Seitenstraße kurz zum Stehen gekommen und dann plötzlich schneller geworden. Vermutlich war Tariq in ein Fahrzeug gestiegen.
Der Dschinn war dem Peilsender in seinem eigenen Wagen quer durch Berlin gefolgt. Er hatte dabei stets darauf geachtet, mindestens einen Kilometer Abstand zwischen sich und seinem Ziel zu behalten. Irgendwann war das Signal dann stehen geblieben und hatte sich seither nicht mehr bewegt.
Dieser Punkt war genau hier.
Der Dschinn warf einen Blick zu dem gepflegten Einfamilienhaus auf der anderen Straßenseite. Das GPS-Signal befand sich nach wie vor hinter der hohen Hecke, die um das Gebäude verlief. Dort musste sich Tariq befinden.
Wieder überkamen den Dschinn Zweifel. Was wollte Tariq ausgerechnet in dieser vornehmen Berliner Gegend? Und warum rührte er sich schon seit zehn Minuten nicht von der Stelle? Tariq sollte doch der Spur des Anhängers folgen, der ihm zugesteckt worden war! Oder hatte der Anhänger ihn tatsächlich hierhergeschickt? Möglich wäre es, dachte der Dschinn. Er wusste nicht, welche Instruktionen sich in dem kleinen Schmuckstück befanden. Nur zwei Personen kannten seinen Inhalt: der Absender und der Empfänger, der auf den Weg Gottes geführt werden sollte – Tariq.
Unwillkürlich schüttelte der Dschinn den Kopf. Irgendetwas war hier faul. Dem Dschinn gefiel diese Situation ganz und gar nicht. Die Mission verlangte es, Tariq und dem Anhänger unbemerkt zu folgen. Er durfte dabei auf keinen Fall von dem angehenden Mudschahid bemerkt werden. Wenn Tariq jedoch etwas zugestoßen sein sollte, würde das die gesamte Mission in Gefahr bringen. Der Anhänger durfte unter keinen Umständen in die falschen Hände geraten. Der Dschinn musste nach dem Rechten sehen, auch wenn er dabei Gefahr lief, von Tariq entdeckt zu werden. Die Sicherheit des Anhängers hatte oberste Priorität.
Der Dschinn war froh, dass die Dunkelheit in diesem gottlosen Land schon so zeitig einsetzte. Obwohl es noch früher Abend war, war es bereits stockdunkel. Er stieg aus dem Wagen und ging im Schutz der Dunkelheit zu dem Einfamilienhaus, das er beobachtet hatte. Er warf einen raschen Blick auf den Briefkasten und das darauf angebrachte Namensschild: »Kampel«.
Der Dschinn geriet ins Grübeln. Der Name klang nach einem Ungläubigen. Was will Tariq bei diesem Kampel?
In dem Haus brannte Licht. Der Dschinn schlich vorsichtig um die hohe Hecke, die das Grundstück umgab, und achtete darauf, nicht gesehen zu werden. In dem Hof hinter der Hecke parkte ein auffälliger, roter Kleintransporter. Der Dschinn kontrollierte das GPS-Signal auf seinem Handy. Das Signal war sieben Meter von ihm entfernt. Es musste aus dem Lieferwagen kommen. Tariq musste sich darin befinden. Aber was machte er in dem Wagen?
Mit leisen Schritten ging der Dschinn auf den Kleintransporter zu und behielt dabei sein Handy im Blick. Als er an der Rückseite des Fahrzeugs ankam, verkündete das Display: ein Meter Entfernung. Tariq müsste nun unmittelbar vor ihm sein.
Der Dschinn inspizierte die Rückseite des Kleintransporters. Zwei große Türen am Heck des Wagens führten auf die Ladefläche. Als der Blick des Dschinn an den Türen nach unten wanderte, zuckte er zusammen: An der Unterseite, zwischen Stoßstange und Ladefläche, klebte Blut.
Der Dschinn hatte derartige Blutspuren schon häufig gesehen. Sie entstanden, wenn eine Leiche in einen Wagen geladen wurde.
Noch einmal warf er einen Blick auf sein Handy: ein Meter Entfernung.
Es bestand kein Zweifel. In dem Transporter vor ihm musste Tariq liegen. Es war sein Blut. Jemand hatte ihn getötet, in den Wagen geladen und ihn dann hier abgestellt.
Der Dschinn war nicht Tariq gefolgt, sondern seinem Mörder.
Kapitel 5
Lisa musste schmunzeln, als sie Kampels entsetzten Blick sah. Er hatte den Zettel nun schon mehrere Male aufmerksam gelesen und noch immer kein Wort gesagt. Er war völlig schockiert. Ihr selbst war es ähnlich ergangen, als sie den Text zum ersten Mal gelesen hatte.
Kampel gewann seine Fassung zurück. Er deutete auf den Anhänger, aus dem Lisa den Zettel gezogen hatte. »Woher haben Sie das?«
»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Lisa. »Wollen wir uns nicht setzen?«
Kampel überlegte kurz, ob es klug war, eine ihm fremde Polizistin in sein Haus zu bitten. Doch schließlich nickte er knapp.
Er ging den Flur voran und führte die Kommissarin in einen großen, gemütlich eingerichteten Raum, der beinahe das gesamte Erdgeschoss des Hauses einnahm. Vorne befand sich eine moderne Küche, die mit allerlei Geräten und einer großen Kochinsel ausgestattet war. Weiter hinten verwandelte sich der Raum in ein Wohn- und Arbeitszimmer. In einer Ecke stand ein großer Schreibtisch, der von gewaltigen Bücherregalen eingerahmt war. Dieser Bereich war ganz offensichtlich Kampels Arbeitsplatz und vermutlich der Teil des Hauses, in dem er sich am häufigsten aufhielt.
Lisa musterte das Zimmer mit dem schnellen Blick fürs Detail, mit dem sie sonst Tatorte untersuchte. Sie versuchte aus dem Raum Rückschlüsse auf Kampels Persönlichkeit zu ziehen. Wie immer interessierte sie sich dabei besonders für die kleinen Nachlässigkeiten, die ihr ins Auge sprangen: Eine der Glühbirnen im Deckenleuchter funktionierte nicht mehr. In dem Parkett zu ihren Füßen befand sich ein schwarzer Brandfleck. Das Gewächshaus im Garten, das sie durch die breite Glasfront an der Rückseite des Raumes sehen konnte, stand völlig schief. Lisa fragte sich, ob Kampel all diese Nachlässigkeiten nicht aufgefallen waren oder ob sie ihn lediglich nicht kümmerten.
Lisa hatte bei ihrer Arbeit als Polizistin schon häufig erlebt, dass derartige Details tiefe Einblicke in die Persönlichkeit zuließen. Und sie wollte so viel über Kampel in Erfahrung bringen wie möglich. Für gewöhnlich war Lisa eine Einzelgängerin, doch in diesem Fall benötigte sie Hilfe. Wenn sie dem merkwürdigen Text in dem Anhänger nachgehen wollte, brauchte sie Unterstützung von einem Religionswissenschaftler. Und Paul Kampel war der Beste. So ungern sie es auch zugab: Sie war auf Kampel angewiesen. Sie würde alles dafür tun, um ihn von einer Zusammenarbeit zu überzeugen.
Kampel setzte sich in den großen Drehstuhl an den Schreibtisch und deutete auf die Couch neben ihm. »Bitte setzen Sie sich«, sagte er.
Lisa nickte und nahm ihm gegenüber auf der Couch Platz.
»Also«, begann Kampel und ließ den Anhänger an der grünen Kette vor seinen Augen hin- und herpendeln. »Woher haben Sie das?«
Lisa antwortete mit einer Gegenfrage: »Wissen Sie, was das goldene Wort auf dem Anhänger bedeutet?«
Kampel nickte. »Das ist Arabisch. Es heißt Fitna.«
»Fitna? Was bedeutet das?«
»Ich frage Sie nochmal«, sagte Kampel ungeduldig. »Woher haben Sie diesen Anhänger? Und wie kann er uns zu dem Mann führen, der meinen Sohn für den Islamischen Staat rekrutiert hat?«
Lisa machte eine beruhigende Geste. »Herr Kampel, ich verspreche, dass ich Ihnen alles erzählen werde, was ich weiß. Sie müssen mir aber bitte zunächst erklären, was Sie über das Wort auf dem Anhänger wissen. Ich muss mir erst selbst einen Reim auf diese ganze Geschichte machen.«
Kampel stieß einen leisen Seufzer aus. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass die Polizistin ihn im Unklaren ließ. Aber es ging hier um Dominik. Er musste tun, was sie verlangte.
Er setzte zu einer Erklärung an: »Wörtlich übersetzt bedeutet das Wort Fitna so viel wie Prüfung. Im Koran wird der Begriff etwas enger gefasst und bezeichnet eine Glaubensprüfung.«
»Worin besteht diese Glaubensprüfung?«
»Fitnas sind im Koran Situationen, in denen große Teile einer muslimischen Gemeinde an ihrem islamischen Glauben zweifeln. Eine Fitna-Situation stellt die Frömmigkeit der Gläubigen auf die Probe. Wer an dieser Prüfung scheitert, fällt vom Glauben ab und entsagt dem Islam. Er wird damit zum Apostat. Eine Fitna überstehen nur die Muslime, die den Zweifel an ihrem Glauben überwinden. Sie halten am Islam fest und unterwerfen sich weiterhin Gott.«
»Muslime unterwerfen sich Gott?«, fragte Lisa leicht irritiert zurück. »Das ist ziemlich überspitzt formuliert.«
»Keineswegs«, erwiderte Kampel. »Gerade weil sich die Gläubigen im Islam Gott unterwerfen, werden sie als Muslime bezeichnet. Das arabische Wort Muslim bedeutet wörtlich übersetzt sich Unterwerfender. Auch der Name der Religion, Islam, drückt diese Beziehung aus: Das arabische Wort Islām heißt so viel wie Unterwerfung oder völlige Hingabe. Ein gläubiger Muslim ist eine Person, die sich Gott unterwirft. Deshalb können nur wahre Muslime eine Glaubensprüfung überstehen: Wer sich Gott unterwirft, zweifelt nicht an ihm.«
Kampel machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Nicht immer geht es in Fitna-Situationen darum, dass einzelne Muslime sich völlig von ihrem Glauben abwenden wollen. Häufig handelt es sich bei Fitnas bloß um Streitigkeiten darüber, wie der Islam im Einzelnen ausgelegt werden soll. Solche Auseinandersetzungen können jedoch zu gewalttätigen Konflikten führen. Die erste historische Fitna beispielsweise war der innerislamische Bürgerkrieg, der im Jahr 656 nach Christi begann und erst 661 endete. Für muslimische Gemeinschaften waren solche Glaubensstreitigkeiten, oder auch Fitnas, seit jeher sehr bedrohlich. Deshalb gilt der Abfall vom islamischen Glauben, die Apostasie, in der islamischen Welt als eine der schlimmsten Taten überhaupt. Im Jahr 2013 gab es dreizehn Länder auf der Welt, in denen Apostaten und Atheisten mit dem Tode bestraft wurden – alle diese Länder waren islamisch.«[2]
Lisa saß eine Weile schweigend da und ließ sich Kampels Ausführungen durch den Kopf gehen. »Wenn ich das richtig verstehe, sind Fitnas also Situationen, die den Glauben eines Muslims auf die Probe stellen. Aber diese Prüfungen sind eher abstrakter Natur, richtig?«
Kampel nickte. Die Kommissarin hatte seine Erklärungen korrekt zusammengefasst.
Lisa deutete auf den Anhänger in Kampels Händen. »Der Text in diesem Anhänger ist ebenfalls eine Glaubensprüfung – aber im ganz konkreten Sinn. Es handelt sich dabei um die Aufnahmeprüfung in eine Terrororganisation.«
Kampel zuckte überrascht zusammen. Entsetzt starrte er den unscheinbaren Anhänger in seiner Hand an. »Heißt das … Heißt das, dieser Anhänger ist vom Islamischen Staat?«
»Ja. Solche Anhänger werden von Führungspersonen des Islamischen Staats an angehende Rekruten weitergegeben. Viele Terrororganisationen benutzen derartige Aufnahmeprüfungen. Nur die ideologisch gefestigtsten Personen können diese Prüfungen bestehen. Auf diese Weise wollen Terroristen sicherstellen, dass sie niemanden in ihren Reihen aufnehmen, der an ihrer Ideologie zweifelt und womöglich die gesamte Organisation verrät.«
Kampel musste schwer schlucken. Bei seinen Recherchen hatte er schon häufig von derartigen Fitnas gehört, mit denen der Glaube von angehenden Terroristen geprüft wurde, doch er hatte diese Darstellungen immer für eine Legende gehalten. Als er nun den unscheinbaren schwarzen Anhänger in seiner Hand betrachtete, wurde ihm übel. Dieses Ding gehört zum Islamischen Staat? Er dachte mit Schrecken daran, dass er einen solchen Anhänger schon einmal in der Hand gehalten hatte. Damals hatte er es jedoch bloß für kitschigen Schmuck gehalten.
Lisa lehnte sich ein Stück vor. Ihre Stimme wurde sanft: »Ihr Sohn hatte auch so einen Anhänger, nicht wahr?«
Kampel schaute die Kommissarin überrascht an. Es war, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Sie wusste es. Es war sinnlos, es ihr zu verheimlichen.
Er nickte resigniert. »Ja, mein Sohn – Dominik – hatte auch so einen Anhänger. Er sah ganz genau so aus wie dieser hier …« Während Kampel sprach, schien sich eine düstere Wolke um ihn zu schließen. »Ich werde nie vergessen, wie ich dieses Ding bei Dominik entdeckt habe. Es war meine letzte Begegnung mit ihm, bevor er in den Heiligen Krieg zog …«
Kapitel 6
Als Kampel den Anhänger in seiner Hand betrachtete, glitten seine Gedanken in die Vergangenheit. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er ein ganz ähnliches Schmuckstück bei Dominik entdeckt hatte. Es war die letzte Begegnung mit seinem Sohn gewesen, bevor er in den Dschihad gezogen war.
Es war vor ziemlich genau einem Jahr … Ein kalter, dunkler Dezemberabend, genau wie heute …
Jedes Mal, wenn Kampel den Potsdamer Platz besuchte, hatte er das Gefühl, er wäre nicht mehr in seiner Heimatstadt Berlin, sondern mitten in New York. Er fühlte sich winzig zwischen den gigantischen, gläsernen Hochhäusern, die den Platz einrahmten. An beinahe jeder freien Fläche waren riesige Plakate mit Werbebotschaften angebracht, die ihn zu erschlagen schienen. Überall um ihn herum strömten Menschenmassen über den Bürgersteig: Touristen schossen Fotos, junge Leute liefen zur nächsten Party und Geschäftsmänner mit Aktenkoffern hasteten schnell über rote Ampeln, um noch rechtzeitig zu ihren Terminen zu kommen. Untermalt wurde die Szenerie von den vorbeirasenden Autos, die nur anzuhalten schienen, um sich gegenseitig anzuhupen.
Der Potsdamer Platz war seit jeher ein zentraler Verkehrsknotenpunkt Berlins. Im Jahr 1924 war der Potsdamer Platz einer der weltweit ersten Orte, an denen eine Ampel installiert wurde. Eine Nachbildung dieser historischen Ampel stand heute noch auf dem Platz: ein kleiner, fünfeckiger Metallturm mit schlichten Uhrenblättern an der Spitze.
Kampel schaute nach oben zu der großen Uhr an der historischen Ampel: 19:55 Uhr. In wenigen Minuten würde er sich genau hier mit Dominik treffen. Kampel hatte seinen Sohn seit Monaten nicht gesehen. Das heutige Treffen war das erste, seitdem Dominik und Maria ausgezogen waren.
Bei dem Gedanken an die kürzliche Trennung schnürte sich Kampels Herz zusammen. Ein paar Monate zuvor hatte er sich endgültig von Maria getrennt. Sie hatten vergeblich versucht, ihre Streitereien in den Griff zu bekommen und ihre Ehe zu retten, doch es hatte nichts genützt. Maria war ausgezogen und die Scheidung würde schon bald rechtskräftig werden. Mit ihr war auch Dominik gegangen. Er hatte die Trennung seiner Eltern als Chance genutzt, um in seine erste eigene Wohnung zu ziehen. Jetzt wohnte nur noch Kampel in dem Haus in Berlin-Marzahn. Bei dem Gedanken, am Abend wieder in das einsame Gebäude zurückzukehren, schauderte er. Das Haus schien ihm wie ein Denkmal für das Scheitern seiner Ehe.
Kampel sah noch einmal zu der Verkehrsampel hoch. Inzwischen war es 20:00 Uhr. Dominik müsste jetzt jeden Moment auftauchen, dachte er glücklich.
Kampel nahm sich fest vor, heute Abend seine Ex-Frau anzurufen und sich bei ihr zu bedanken. Es war Maria gewesen, die Dominik zu diesem Treffen zwischen Vater und Sohn überredet hatte. Kampel hatte Dominik schon seit Monaten wiedersehen wollen, aber sein Sohn hatte ihn immer auf Abstand gehalten und all seine Anrufe ignoriert. Erst Maria hatte ihn davon überzeugen können, sich endlich mit ihm zu treffen. Sie wusste, wie wichtig Kampel sein Sohn war.
Kampel seufzte. Am liebsten würde er Dominik viel öfter sehen, aber was sollte er tun? Sollte er den Jungen etwa zwingen, Zeit mit seinem Vater zu verbringen? Damit würde er nur das Gegenteil erreichen. Dominik war schon als kleiner Junge sturköpfig und leicht reizbar gewesen. Mit der Pubertät hatten sich diese Charakterzüge noch verstärkt. Kampel gab es nur ungern zu, aber je älter Dominik wurde, desto fremder war er ihm geworden. Dominik war übermutig und stolz, denn er wusste, dass er begabt war, doch gleichzeitig faul und ohne großen Ehrgeiz. Seine Schulnoten waren schon seit Jahren im Keller und er schien keinerlei Zukunftspläne zu haben.
Die größte Veränderung in Dominiks Leben war jedoch seine Konversion zum Islam gewesen. Kampel schämte sich für diesen Gedanken, doch Dominiks neu entdeckte Religiosität beunruhigte ihn mehr als alles andere. Dominik konnte glauben, woran immer er wollte – aber musste es denn ausgerechnet der Islam sein? Kampel wollte diese Vorstellung einfach nicht in den Kopf bekommen. Er hatte fast sein ganzes Leben damit verbracht, den Islam aus kritischer Distanz zu erforschen. Es schien ihm völlig surreal, dass ausgerechnet sein Sohn den Islam nicht wie er aus der Perspektive eines Forschers betrachtete, sondern aus der eines Gläubigen.
Kampel erinnerte sich noch gut an den Abend, als Dominik seine Konversion zum Islam verkündet hatte. Er hatte am Esstisch gesagt, dass er fortan kein Schweinefleisch mehr essen wolle, da es harām sei – unrein. Er hatte erklärt, dass er ein Muslim geworden war und von nun an dementsprechend leben wolle. Kampel war von dieser Ankündigung völlig schockiert gewesen, hatte sich aber nichts anmerken lassen. Er ließ die Geschichte größtenteils unkommentiert. Maria verhielt sich genauso. Sie beide dachten, dass es Dominik mit dem Islam nicht ernst sei und er seine Eltern wie so oft nur provozieren wollte, weil sie sich immer häufiger stritten. Denn Dominik hatte unter ihren ständigen Streitereien sicherlich am meisten zu leiden. Sie beide glaubten, Dominiks Konversion wäre nur eine Phase des Trotzes, die irgendwann wieder vorbeigehen würde.
Aber es war keine Phase.
In den nächsten Wochen hatten sie beobachten können, wie ernst es Dominik mit dem Islam war. Er hielt sich streng an die islamischen Gebote und richtete sein ganzes Leben nach seiner neuen Religion aus. Er betete fünfmal täglich auf einem Teppich in Richtung Mekka, aß kein Schweinefleisch mehr, trank keinen Alkohol und verbrachte jede freie Minute damit, in seinem Koran zu lesen. Freitags ging er zusammen mit einem muslimischen Schulfreund in die Moschee und besuchte dort das Freitagsgebet.
Gleichzeitig stritten sich Kampel und Maria immer häufiger – zu diesem Zeitpunkt wussten sie bereits beide, dass eine Trennung unvermeidlich sein würde. Je mehr sie sich voneinander entfernten, desto seltener bekamen sie ihren Sohn zu Gesicht. Statt mit seinen eigenen Eltern zu Abend zu essen, zog es Dominik immer häufiger zu der streng muslimischen Familie seines Schulfreundes. Dessen Familie legte größten Wert auf ihre Religion und hielt sich wortgetreu an die Worte des Propheten. Beispielsweise zeigten sich die Frauen in der Öffentlichkeit stets verhüllt und wurden von den Männern der Familie streng bewacht. Kampel vermutete, dass Dominik sich zu diesem traditionellen Familienmodell hingezogen fühlte, weil er sich nach einem Ersatz für sein eigenes zerrüttetes Elternhaus sehnte. Es brach Kampel das Herz, dass er Dominik nicht den gleichen Familienzusammenhalt bieten konnte. Doch es war nicht zu ändern. Die Ehe zwischen ihm und Maria war unweigerlich zum Scheitern verurteilt. Als Kampel sich dann von seiner Frau trennte, war es so, als hätte er sich auch von seinem Sohn getrennt. Er war völlig aus seinem Leben verschwunden.
Kampel wurde abrupt aus seinen Gedanken gerissen, als ihm jemand von hinten auf die Schulter tippte. Als er sich umdrehte, zuckte er unwillkürlich zusammen.
Vor ihm stand Dominik in einem bis zum Boden reichenden, dünnen, schneeweißen Gewand mit langen Ärmeln. Kampel wusste, dass dieses Kleidungsstück als Thawb bezeichnet wurde. Die meisten Leute brachten den Thawb mit reichen Öl-Scheichs in Verbindung, denn in Ländern wie Saudi-Arabien wurde er noch heute regelmäßig getragen.
»Was ist?«, blaffte Dominik, als er den überraschten Blick seines Vaters bemerkte.
Kampel schluckte. »Entschuldige, ich bin nur ein wenig überrascht«, sagte er diplomatisch. »Ich habe dich noch nie in einem Thawb gesehen. Ist dir darin nicht kalt? Immerhin ist es Mitte Dezember.«
»Mir geht’s gut«, gab Dominik trotzig zurück. »Mohammed – möge Gott ihn loben und Heil schenken – hat so etwas immer getragen und dem war nie kalt.«
Kampel verkniff sich die Bemerkung, dass der Prophet des Islam auch nicht im kalten Deutschland, sondern in einer heißen Wüstenregion gelebt hatte. Stattdessen warf er einen betonten Blick auf seine Uhr. »Wenn wir jetzt losgehen, schaffen wir es noch rechtzeitig zu dem Tisch, den ich für uns reserviert habe.«
»Du kannst es ja kaum erwarten, von hier wegzukommen«, sagte Dominik angriffslustig. Er deutete auf die vorbeiziehenden Menschenmassen. »Es ist dir unangenehm, mit mir gesehen zu werden, nicht wahr? Es wäre wahrscheinlich peinlich, wenn dich jemand hier erkennt: einen der bekanntesten Religionswissenschaftler Deutschlands zusammen mit seinem muslimischen Sohn …«
Kampel zuckte bei dieser Bemerkung zusammen, denn Dominik hatte einen wunden Punkt getroffen. Tatsächlich waren ihm die neugierigen Blicke der vorbeiziehenden Menschen unangenehm. Kampel wollte so schnell wie möglich raus aus der Menge. Er schämte sich zutiefst für diesen Gedanken, doch es war die Wahrheit. Was war er nur ein Vater? Er sollte seinen Sohn unterstützen, doch er wollte einfach nur weg.
Kampel entschied sich dafür, die Situation zu überspielen: »Nein, nein. Ich habe es nur eilig wegen unserer Reservierung. Lass uns gehen.«
Dominik machte ein murrendes Geräusch und folgte seinem Vater. Sie gingen über den Potsdamer Platz zu einem Fußgängerüberweg und stellten sich an die Ampel.
Auf der anderen Straßenseite war wie immer um diese Jahreszeit ein kleiner Weihnachtsmarkt aufgebaut. Der imposante Weihnachtsbaum und die winterlich geschmückten Buden mit ihren bunten Lichtern strahlten in der Dunkelheit.
»Bloß weg von hier«, murmelte Dominik, als er und Kampel die Straße überquerten und sie sich dabei dem Weihnachtsmarkt näherten.
Kampel konnte sich einen Seufzer nicht verkneifen.
»Was ist?«, zischte Dominik ihn herausfordernd an.
Kampel biss sich auf die Lippen. Er hatte sich fest vorgenommen, kein falsches Wort gegenüber Dominik zu verlieren, aber sein Sohn machte es ihm nicht leicht. Er wusste, wie er seinen Vater zur Weißglut treiben konnte.
»Früher hast du Weihnachtsmärkte geliebt«, sagte Kampel. Seine Stimme füllte sich mit Sehnsucht nach den alten Zeiten: »Ich weiß noch, wie gerne du kandierte Äpfel und Makronen gegessen hast. Und wie wir mit dir …«
»Damals war ich noch ungläubig!«, unterbrach Dominik ihn. »Heute sind mir Weihnachtsmärkte unangenehm. Ein Muslim sollte sich von solchen Veranstaltungen fernhalten!«
»Warum denkst du das? Ich habe schon häufig Muslime auf Weihnachtsmärkten gesehen.«
Dominik machte ein verächtliches Geräusch. »Das waren ganz bestimmt keine Muslime, die du dort gesehen hast. Ein echter Muslim richtet sein Leben nach dem Propheten aus – Gott segne ihn und schenke ihm Heil. Er hat uns streng davor gewarnt, die Feste und Gebräuche der Ungläubigen nachzuahmen, da wir dann selbst zu Ungläubigen werden. Der Prophet – Friede sei mit ihm – sagte: ›Wer ein Volk nachahmt, wird einer von ihnen!‹«[3]
Kampel ging schweigend weiter. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Einerseits war er beeindruckt, dass sein Sohn gerade aus einem Hadith zitiert hatte, andererseits fand er es erschreckend, wie streng sich Dominik an diese jahrhundertealten Worte hielt.
Sein Sohn legte nach. Er fing an, sich in Rage zu reden: »Muslime sollten sich von Weihnachtsmärkten fernhalten. Sie sind eine Erfindung der Schriftenf–« Er brach mitten im Wort ab.
Doch Kampel wusste, was Dominik hatte sagen wollen. »›Weihnachtsmärkte sind eine Erfindung der Schriftenfälscher.‹ Wolltest du das sagen?«
Dominik atmete tief ein. Er schien zu überlegen, ob er diesen Streit wirklich fortsetzen sollte. Schließlich entschied er sich, in die Vollen zu gehen: »Ja, Weihnachtsmärkte sind eine Erfindung der Schriftenfälscher, die ihren Götzen anbeten!«
Schriftenfälscher? Götzen? Kampel war von Dominiks Vokabular ebenso beeindruckt wie erschrocken. Dominik musste sich sehr aufmerksam mit den islamischen Quellen beschäftigt haben. Kampel wusste nicht, was er darauf entgegnen sollte. Er wollte keinen Streit provozieren und schwieg. Es wäre vermutlich am besten, das Thema Religion auf sich beruhen zu lassen.
Auch Dominik schwieg eine Weile. Er murmelte halblaut: »Egal, du verstehst das nicht.«
Das wiederum konnte Kampel so nicht stehen lassen. »Du unterschätzt mich, Dominik. Ich verstehe sogar sehr gut, wovon du sprichst. Mit den Schriftfälschern meinst du die Christen, die nach islamischem Glauben die Bibel abgeändert und so das Wort Gottes verfälscht haben. Natürlich kenne ich diese Geschichte. Ich habe fast mein ganzes Leben lang den Islam erforscht und zahlreiche Bücher über ihn geschrieben.«
»Du kennst dich ja toll aus«, sagte Dominik sarkastisch. »Aber du verstehst es nicht!«
»Was meinst du damit?«
Dominik rang nach Worten. »Mag sein, dass du dich mit dem Islam beschäftigt hast, aber du verstehst ihn nicht! Wenn du die Botschaft Gottes wirklich verstehen würdest, würdest du nicht diese schrecklichen Bücher schreiben, in denen du den Koran analysierst wie ein gewöhnliches Buch, das ein gewöhnlicher Mensch geschrieben hat!«
»Ich bin ein Wissenschaftler Dominik, kein Gläubiger.«
»Und genau deshalb kapierst du es einfach nicht!«
Kampel wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Er wollte keine Grundsatzdiskussion mit seinem Sohn führen. »Lass uns einfach essen gehen«, sagte er und ging weiter.
Doch Dominik blieb stehen. »Dieses Treffen war keine gute Idee. Ich hätte mich von Mama nicht dazu überreden lassen dürfen. Ich kann einfach nicht mit jemandem reden, der sich vor Gottes Worten so sträubt wie du!« Er schwieg einen Moment und schüttelte dann den Kopf. »Ich gehe jetzt besser.«
Mit diesen Worten machte Dominik auf dem Absatz kehrt und ging zurück zu der Ampel, die sie gerade überquert hatten.
»Warte, Dominik! Es tut mir leid.« Kampel zog an Dominiks Thawb, um ihn am Gehen zu hindern.
Als er an dem weißen Gewand zog, fiel etwas aus dem Stoff und landete auf der Straße. Kampel bückte sich danach. Es war ein kleiner, schwarzer Anhänger, der an einer Kette aus grünem Samt hing. Auf dem Schmuckstück war in schwungvollen, goldenen Lettern ein arabisches Wort geschrieben: Fitna.
Dominik riss Kampel die Kette aus der Hand. »Fass das bloß nicht an!«, schrie er seinen Vater an. Sein Gesicht war von einer Sekunde auf die andere rot vor Wut geworden.
Kampel war von Dominiks plötzlicher Heftigkeit erschrocken. »Tut mir leid, ich wollte doch nur …«
»Es ist mir egal, was du wolltest! Ich will dich nie wieder sehen!«
Mit diesen Worten drehte sich Dominik um und rannte über die rote Ampel, ohne die hupenden Autos zu beachten. Er lief über den Platz und verschwand in der S-Bahn-Station, deren große, viereckige Überdachung so charakteristisch für den Potsdamer Platz war.
Kampel rannte seinem Sohn nicht hinterher. Es wäre sinnlos gewesen. Er blieb stattdessen auf dem Potsdamer Platz zurück, allein zwischen den vorbeiströmenden Menschenmassen. Er fühlte sich schrecklich einsam.
Kapitel 7
»Das war meine letzte Begegnung mit Dominik, bevor er in den Dschihad zog«, schloss Kampel seine Erzählung ab. »Nach diesem Streit hat er mich völlig gemieden. Er hat meine Anrufe nicht angenommen und mir nicht einmal die Tür aufgemacht, als ich ihn besuchen wollte.« Kampels Stimme wurde schwer. »Und dann verschwand er …«
»Das tut mir leid«, sagte Lisa leise. Sie empfand aufrichtiges Mitleid mit Kampel. Es stand außer Frage, wie nahe ihm das Verschwinden seines Sohnes ging.
Ihr Blick wanderte zu einem Foto auf seinem Schreibtisch. Es zeigte Paul Kampel zusammen mit einer großgewachsenen Frau mit langen, dunkelblonden Haaren und einem kleinen, dunkelhaarigen Jungen. Die Familie auf dem Bild sah glücklich aus.
»Ihr Sohn sah ihnen unglaublich ähnlich«, sagte Lisa, als sie den Jungen auf dem Foto betrachtete.
Kampel lächelte matt. »Danke. Das habe ich schon häufig gehört und es hat mich immer stolz gemacht. Je älter Dominik wurde, desto ähnlicher sah er mir. Viele Bekannte scherzten, er könnte mein jüngerer Klon sein.«
Die Kommissarin wurde nachdenklich. »Es ist schwer zu glauben, dass dieser lächelnde kleine Junge auf dem Foto später zu einem Dschihadisten wurde.«
Kampel nickte traurig. »Ich kann es immer noch nicht richtig wahrhaben …« Er deutete auf die oberste Reihe des Regals hinter ihm. Dort standen die Bücher, die er selbst geschrieben hatte. »Ich habe mich fast mein ganzes Leben lang mit Dschihadisten beschäftigt und dann wurde mein Sohn selbst zu einem.«
Kampel starrte wieder auf den Anhänger in seiner Hand. »Der Anhänger, den ich bei Dominik gefunden habe, sah genauso aus wie dieser hier. Werden diese Dinger wirklich von Dschihadisten benutzt, um neue Rekruten anzuwerben?«
»Ja. Der Anhänger Ihres Sohnes war wahrscheinlich Teil einer Aufnahmeprüfung in den Islamischen Staat.«
»Und diese Prüfung hat er offensichtlich bestanden«, murmelte Kampel traurig. »Er ist in den Heiligen Krieg gezogen …«
Lisa lehnte sich auf der Couch ein Stück nach vorne. Ihre Stimme wurde eindringlich: »Herr Kampel, der Anhänger in Ihrer Hand stammt wahrscheinlich von demselben Mann, der Dominik seinen Anhänger gegeben hat. Dieser Mann ist immer noch dort draußen und rekrutiert junge Leute dafür, in Syrien oder sogar hier in Deutschland Terroranschläge zu verüben. Ich und meine Kollegen hatten bisher keine Chance, an den Kerl heranzukommen. Wir haben überhaupt keine Ahnung, wer er ist. Er bleibt immer im Hintergrund und steht mit seinen Rekruten niemals in direktem Kontakt. Er gibt seine Fitnas niemals selbst an die von ihm ausgewählten Anwärter, sondern lässt sie über ein weit verzweigtes Netzwerk übermitteln. Wenn ein Anhänger einen Anwärter erreicht, wurden sie zuvor durch so viele Hände gegeben, dass keiner mehr den ursprünglichen Absender verraten kann. Glauben Sie mir, meine Abteilung hat alles versucht, um den Mann hinter diesen Anhängern zu finden, aber bisher sind alle Spuren im Sand verlaufen.«
Die Frustration war aus Lisas Stimme deutlich herauszuhören. »Diese Dschihadisten kommunizieren fast nur mündlich miteinander. Sie benutzen so gut wie keine Handys oder Computer und entziehen sich damit völlig unseren gängigen Abhörmethoden. Noch dazu ist ihr ganzes System wie eine Hydra aufgebaut: Jedes Mal, wenn wir einen ihrer Kontaktmänner erwischen, setzen sie an seiner Stelle zwei neue ein.«
Die Kommissarin deutete auf den Anhänger in Kampels Hand. »Aber jetzt haben wir eine neue Spur. Diese Fitna ist die erste, die wir abfangen konnten, kurz nachdem sie ihren Empfänger erreicht hat. Sie wird uns direkt zu dem Mann führen, der Ihren Sohn in den Heiligen Krieg geschickt hat, Herr Kampel.«
Ein Schauer jagte über Kampels Rücken, als er die Kette in seiner Hand betrachtete. Konnte dieses unscheinbare Schmuckstück ihn wirklich zu dem Mann führen, der seinen Sohn zu einem Dschihadisten gemacht hatte?
»Wie sind Sie an diesen Anhänger herangekommen?«, fragte Kampel.
»Ich habe ihn einem angehenden Rekruten für den Islamischen Staat abgenommen«, erwiderte Lisa. »Ich habe diesen Kerl schon seit langer Zeit beobachtet. Mir war klar, dass er sich demnächst einer Dschihadistengruppe anschließen würde. Heute bin ich dem Anwärter in eine Moschee gefolgt und ich hatte Glück: Nach dem Gebet kam jemand auf ihn zu und gab ihm den Anhänger. Als er die Moschee verließ, habe ich ihn abgefangen und ihm das Ding abgenommen.«
»Sie waren in einer Moschee?«, fragte Kampel überrascht. »Sind Sie dort nicht aufgefallen?«
»Nein. Ich war in einer Burka dort.«
Kampel nickte anerkennend. Bei einer Burka handelte es sich um ein Kleidungsstück für muslimische Frauen, das den kompletten Körper verhüllte. Die einzige Verbindung zur Außenwelt war ein feinmaschiges Stoffgitter, durch das die Trägerin hindurchsehen konnte. Die Burka gab weder das Gesicht, noch die Körperform einer Frau preis. Es war wenig verwunderlich, dass Lisa Albers in diesem Aufzug in der Moschee nicht aufgefallen war.
Kampel war ernstlich beeindruckt von dem Tatendrang der Kommissarin. Sie schien zu allem entschlossen zu sein.
»In welcher Moschee wurde der Anhänger übergeben?«, fragte er.
Lisa nannte ihm einen Namen. Kampel hatte von dieser Moschee noch nie gehört, aber das überraschte ihn nicht: In Berlin gab es viele sogenannte »Hinterhof-Moscheen«, die nur den dort verkehrenden Gläubigen bekannt waren und von denen die Öffentlichkeit nichts wusste. Nicht einmal die deutschen Behörden konnten sagen, wie viele dieser Moscheen es in Deutschland gab. Anders als bei Kirchen, die im Zusammenhang mit der Kirchensteuer amtlich gemeldet werden mussten, benötigten neu entstehende Moscheen keine behördliche Genehmigung. So konnten Hinterhof-Moscheen völlig unbemerkt in alten Fabrikhallen, Lagerhallen und anderen abgeschiedenen Orten eröffnet werden.
Kampels Gedanken rasten. Dominik musste seinen Anhänger ebenfalls in einer Moschee zugesteckt bekommen haben, doch Kampel hatte nie herausgefunden, in welcher. Und das, obwohl er intensive Recherchen über alle Berliner Moscheen angestellt hatte, die extremistisch aufgefallen waren. Da gab es etwa die Ibrahim-al-Khalil-Moschee in Berlin-Tempelhof. Die Moschee war 2015 von fast vierhundert Beamten untersucht worden, weil der Imam in Verdacht stand, Muslime zum Heiligen Krieg in Syrien angestiftet zu haben und tauchte seitdem regelmäßig in den Berichten des Berliner Verfassungsschutzes auf.[4] Auch die Al-Nūr-Moschee in Berlin-Neukölln war immer wieder extremistisch aufgefallen. Mehrere dort auftretende Imame wurden wegen Volksverhetzung angezeigt, weil sie die Vernichtung der Juden gepredigt hatten. Der bekannte deutsche Konvertit und Salafist Pierre Vogel war dort ein genauso gern gesehener Gast wie Denis Cuspert – besser bekannt als der Rapper Deso Dogg –, der sich dem Islamischen Staat in Syrien angeschlossen hatte.[5] Cuspert war auch in der As-Sahāba-Moschee in Berlin-Wedding häufig zugegen gewesen.[6] Die Moschee galt als rein salafistisch und versuchte vor allem deutsche Konvertiten anzusprechen. Die Predigten, die den Heiligen Krieg im Namen des Islamischen Staats verherrlichten, HeiHeiwurden deshalb ausschließlich auf Deutsch gehalten. Im Umfeld der Hicret-Camii-Moschee in Berlin-Moabit hatte Kampel ebenfalls erfolglos nach Hinweisen auf Dominik gesucht. Die Hicret-Camii-Moschee wurde vom Verfassungsschutz als Treffpunkt für Extremisten eingeordnet und der dort tätige Imam war wegen des Anwerbens von Kämpfern für den Islamischen Staat zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden.[7] Unter den Besuchern der Moschee hatte sich auch Anis Amri befunden – jener Dschihadist, der am 19. Dezember 2016 mit einem Lastwagen in einen Berliner Weihnachtsmarkt gefahren war und dabei zwölf Menschen getötet und über 50 weitere teils schwer verletzt hatte.[8] Amri hatte 600 Meter von der Hicret-Camii-Moschee entfernt ein Handyvideo aufgenommen, in dem er erklärt hatte, er wolle zum Märtyrer werden.[9]
Wie sehr Kampel sich auch bemüht hatte, all diese Recherchen rund um radikale Moscheen waren letztlich erfolglos geblieben. Er hatte nie herausgefunden, welche Moscheen Dominik besucht hatte und von wem er zum Eintritt in den Heiligen Krieg motiviert worden war.
Lisa Albers riss Kampel aus seinen Gedanken: »Der Anhänger in Ihrer Hand ist die bisher heißeste Spur zu dem Mann hinter der Fitna. Der Anhänger wird uns direkt zu ihm führen.«
Die Kommissarin hielt einen Moment inne. »Der Text in dem Anhänger ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Fitna: eine Glaubensprüfung. Diese Prüfung kann nur jemand bestehen, der sich bestens mit dem Islam auskennt. Deshalb brauche ich Ihre Hilfe, Herr Kampel. Sie müssen mir helfen, dieser Fitna zu folgen.«
»Aber warum wenden Sie sich ausgerechnet an mich?«, fragte Kampel. »Warum bitten Sie nicht einen Ihrer Kollegen um Hilfe? Sie müssen in Ihrer Abteilung doch jemanden haben, der sich mit dem Islam auskennt. Ich habe überhaupt keine Ahnung von Polizeiarbeit!«
Lisa seufzte. »Natürlich haben wir in unserer Abteilung auch ausgewiesene Experten zum Islam. Aber an diese Kollegen kann ich mich nicht wenden. Das hat zwei Gründe.« Sie streckte einen Finger nach oben. »Erstens: Ich habe für den offiziellen Weg keine Zeit. Wir müssen die Aufgabe, die uns dieser Anhänger stellt, innerhalb eines Tages lösen. Wenn wir es bis dahin nicht schaffen, wird der Mann hinter der Fitna alle Hinweise, die uns zu ihm führen könnten, für immer löschen. Dieses schmale Zeitfenster ist eine Sicherheitsmaßnahme bei derartigen Aufnahmeprüfungen.« Lisa schüttelte den Kopf. »Es würde viel zu lange dauern, mich an meine Kollegen zu wenden. Wir müssen die Fitna heute lösen.« Sie hob einen zweiten Finger. »Zweitens: Ich könnte den offiziellen Weg nicht mal dann in Anspruch nehmen, wenn ich es wollte. Ich wurde von diesem Fall nämlich explizit abgezogen. Man hat mich an den Schreibtisch strafversetzt. Ich hätte niemals in der Moschee sein und dem Anwärter diesen Anhänger abnehmen dürfen.«
»Warum wurden sie von dem Fall abgezogen?«, fragte Kampel überrascht.
»Weil ich in dieser ganzen Angelegenheit persönlich befangen bin. Sie und ich haben etwas gemeinsam, Herr Kampel: Wir beide haben private Gründe, um den Mann hinter diesem Anhänger zu finden. Diese Sache ist für mich etwas Persönliches.«
Lisa verschränkte unwillkürlich die Arme vor sich. Ihre ganze Körpersprache verriet Kampel, dass es zwecklos sein würde, sie nach dem konkreten Grund zu fragen, aus dem sie den Mann hinter der Fitna fassen wollte.
»Wie auch immer«, fuhr Lisa fort. »Wenn ich mich jetzt an meinen Vorgesetzten wende und ihm eröffne, dass ich immer noch diesen Fitnas hinterherjage, wird man mir den Fall sofort wegnehmen. Es wird zu einer Untersuchung meiner Arbeitsmethoden kommen und das wird sich über Monate hinziehen. Aber diese Zeit haben wir nicht. Diese Fitna muss heute gelöst werden. Wenn der Mann, den wir suchen, innerhalb eines Tages nichts von seinem Anwärter hört, vernichtet er alle Hinweise, die uns zu ihm führen könnten.«
Die Kommissarin blickte Kampel eindringlich an. »Gemeinsam können wir den Mann finden, der Ihren Sohn in den Heiligen Krieg geschickt hat.Heiligen Krieg geschickt hsd Also werden Sie mir helfen?«
Kampel hielt einen Augenblick inne. Sein Blick wanderte zum Fenster und hinaus zu dem kleinen, schiefstehenden Gewächshaus in seinem Garten. Jedes Mal, wenn er in dem Gewächshaus vor seinen Rosen stand, dachte er an Dominik. Und jedes Mal fragte er sich, was genau mit ihm passiert war, bevor er verschwand. Diese Unwissenheit nagte an ihm. Er würde alles dafür tun, um endlich Antworten zu erhalten.
»Ich helfe Ihnen«, sagte Kampel.
Er wusste noch nicht, dass er sich mit diesem Satz auf den längsten Tag seines Lebens eingelassen hatte.
Kapitel 8
In Potsdam, einer Stadt wenige Kilometer vor Berlin, saß ein Mann in einem abgedunkelten Büro vor seinem Computer. Er war einer der Letzten in dem großen Bürogebäude. Die meisten Leute, die hier arbeiteten, waren bereits in ihren wohlverdienten Feierabend gegangen. Dem Mann im Büro machte es jedoch nichts aus, länger zu bleiben. Auf den heutigen Arbeitstag hatte er sein ganzes Leben lang hingearbeitet.
Er warf einen nervösen Blick auf sein Handy. Er erwartete den Anruf von einem seiner Kontaktmänner. Dieser Anruf würde die Sache Gottes einen gewaltigen Schritt voranbringen.
Seine Kontaktmänner kannten den Mann im Büro nur unter seinem Decknamen: Raschid. Er hatte sich diesen Namen zu Ehren von Raschid ad-Din Sinan gewählt, dem »Alten vom Berge«. Der Alte hatte im zwölften Jahrhundert westlicher Zeitrechnung die ismailitischen Assassinen in Syrien angeführt und sich während der Kreuzzüge mutig dem Heer der Ungläubigen gestellt.
Die Assassinen hatten Raschid schon immer fasziniert. Die Assassinen waren ihren Feinden zahlenmäßig weit unterlegen gewesen, hatten ihre geringe Truppenstärke jedoch mit umso raffinierteren Kampfmethoden ausgeglichen. Sie hatten zugeschlagen, wenn es ihre Gegner am wenigsten erwarteten und sie dann in helle Panik versetzt. Sie waren Meister der asymmetrischen und psychologischen Kriegsführung gewesen.
Raschid bewunderte besonders, wie geschickt die Assassinen die Strukturen ihrer Feinde infiltriert hatten. Die Assassinen hatten an ihren Einsatzorten oft jahrelang gelebt, direkt unter den Blicken ihrer Feinde, aber doch im Verborgenen. Sie hatten sich an ihre Umgebung angepasst und die Sprache, Sitten und Bräuche ihrer Gegner aufmerksam studiert, sich dabei jedoch immer auf ihre wahre Aufgabe vorbereitet. Wenn es der Feind am wenigsten erwartete, schlugen sie schließlich zu: In aller Öffentlichkeit und bei hellem Tageslicht schlachteten sie mit Messern hochrangige politische Figuren ab und erfüllten die Herzen ihrer Feinde mit Angst und Schrecken.
Inzwischen waren Jahrhunderte vergangen, doch noch heute inspirierten die Methoden der Assassinen Mudschahidin auf der ganzen Welt. Einer dieser Mudschahidin war Raschid. Genau wie die Assassinen hatte er sich an die Ungläubigen angepasst, ihr Vertrauen gewonnen und war tief in ihre Strukturen eingedrungen. Er kämpfte jedoch nicht mit Messern und Schwertern, wie die alten Assassinen. Die wichtigsten Waffen der heutigen Zeit waren Informationen.
Und Raschid saß direkt an der Quelle.
Das Bürogebäude, in dem Raschid sich befand und in dem er schon seit Jahren täglich ein- und ausging war das Bundespolizeipräsidium in Potsdam. Von hier aus wurde die polizeiliche Strategie der gesamten deutschen Polizei ausgearbeitet und koordiniert. Besonders interessant war das Bundespolizeipräsidium für Raschid, weil es ein Teilorgan des GTAZ war. Die Abkürzung GTAZ stand für Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum. Das GTAZ war im Jahr 2004 gegründet worden und beschäftigte sich ausschließlich mit islamisch motiviertem Terrorismus. Es war keine eigenständige Behörde, sondern ein Zusammenschluss von insgesamt 40 deutschen Sicherheitsbehörden, die ihre Informationen bündelten, um den Kampf gegen Dschihadisten besser aufeinander abzustimmen.
Raschid musste lächeln, als er an die Ironie des Ganzen dachte. Er war in genau jenes Organ eingedrungen, das ihn und seine Glaubensbrüder bekämpfen wollte. Der Alte vom Berge wäre stolz auf mich.
Raschid wusste jedoch, dass er nicht der einzige Mudschahid war, der so tief in die Strukturen des Feindes eingedrungen war. Seine Glaubensbrüder hatten einige der höchsten Sicherheitsapparate in ganz Europa infiltriert. Allein in Deutschland gab es Dschihadisten in zahlreichen hohen Positionen. Beispielsweise hatte Raschid lange Zeit mit einem Glaubensbruder in Kontakt gestanden, der für den Verfassungsschutz gearbeitet hatte und dort ironischerweise über islamischen Extremismus ermitteln sollte. Leider war seine Tarnung im November 2016 aufgeflogen.[10] Das war ein schlechter Monat für unsere Sache. Nicht nur der Verfassungsschutzmitarbeiter war im November 2016 enttarnt worden, sondern auch 20 Dschihadisten in der Bundeswehr.[11] Kein Wunder, dass sie aufgeflogen sind, dachte Raschid verärgert. Die haben sich wie Amateure angestellt! Natürlich fiel es den Behörden auf, dass sich immer mehr Leute nur für wenige Monate bei der Bundeswehr verpflichten wollten und sich dabei vor allem für eine intensive Waffen- und Geräteausbildung interessierten. Raschid bedauerte seine enttarnten Glaubensbrüder zwar, aber zugleich wusste er, dass es in diesem Krieg nicht auf einzelne Männer ankam. Wenn einer ausschied, rückten andere nach.
Das Handy in Raschids Tasche vibrierte und riss ihn aus seinen Gedanken.
Endlich.
Mit einem Tastendruck auf das moderne Headset an seinem Ohr nahm Raschid das Gespräch an.
»Ich bin’s«, sagte eine raue Stimme durch den Hörer.
Unwillkürlich lockerte Raschid den Sitz seines Headsets. Jedes Mal wenn er diese Stimme hörte, hatte er das Gefühl, ihm würde eine sengende Hitze durch die Ohren fahren. In der Stimme des Anrufers lag ein gespenstisches, ungezähmtes Feuer, das nur darauf zu warten schien, alles in seiner Nähe in Brand zu stecken.
Der Mann, dem diese Stimme gehörte, nannte sich selbst den Dschinn. Er war der überzeugteste Krieger Gottes, dem Raschid jemals begegnet war. Dieser Mann war zu allem fähig und kannte keine Skrupel. Raschid gab es nur ungern zu, aber er war ihm ein wenig unheimlich.
»Wir haben ein Problem«, sagte der Dschinn düster und in akzentfreiem Deutsch. »Ich bin Tariqs Signal wie geplant gefolgt. Er hat sich lange Zeit nicht gerührt, deshalb habe ich nach dem Rechten gesehen.« Er machte eine kurze Pause. »Er wurde ausgeschaltet.«
Raschid schnappte schockiert nach Luft. Hatte er sich gerade verhört? »Bitte wiederholen.«
»Tariq ist tot«, sagte der Dschinn. »Jemand hat ihn getötet und seine Leiche in einem Kleintransporter quer durch Berlin gefahren. Ich bin die ganze Zeit nicht ihm, sondern seinem Mörder gefolgt.«
In Raschids Kopf schrillten die Alarmglocken. Tariq war ein neuer Anwärter auf eine hohe Position im Islamischen Staat gewesen. Er hatte heute seine Fitna bekommen sollen, die Aufnahmeprüfung in die Organisation. Die Mission des Dschinn und Raschids lautete, dem Anwärter zunächst zu folgen und sicherzustellen, dass der Anhänger mit der Fitna in sicheren Händen blieb.
Aber jetzt war Tariq tot. Raschids Gedanken rasten. Sie mussten unter allen Umständen die Fitna zurückbekommen.
»Wo ist der Anhänger?«, stieß Raschid hervor. »Ist er noch an der Leiche?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete der Dschinn. »Dem GPS-Signal zufolge befindet sich Tariqs Leiche noch immer in dem Kleintransporter. Die Türen zum Laderaum haben keine Fenster, deshalb konnte ich seine Leiche nicht sehen. Aber ich vermute, der Anhänger ist weg. Wer auch immer ihn getötet hat, hat es vermutlich auf die Fitna abgesehen.«
Raschids Puls beschleunigte sich. »Du musst unter allen Umständen diesen Anhänger zurückholen! Die ganze Mission hängt davon ab!«
»Ich weiß, ich weiß!«, loderte die Stimme des Dschinn durch das Telefon. »Du musst in der Zwischenzeit ein paar Nachforschungen anstellen! Wir müssen wissen, wem der Kleintransporter gehört, in dem Tariqs Leiche herumgefahren wurde und zu wessen Haus er gebracht wurde. An dem Briefkasten an der Hauseinfahrt steht der Name ›Kampel‹.«
Raschid erschrak erneut. »Hast du gerade ›Kampel‹ gesagt?«
»Ja, warum?«
Raschid schluckte. Sie hatten womöglich ein gewaltiges Problem. Aber zunächst musste er sichergehen. »Ich erzähle dir später mehr«, sagte er. »Ich will das erst überprüfen.«
»Vor dem Haus steht außerdem noch ein anderes Auto«, sagte der Dschinn. »Vielleicht ist dieser Kampel nicht der Mörder, sondern hat nur Besuch von ihm bekommen. Wir brauchen Informationen über beide Wagen.« Der Dschinn gab die Nummernschilder der beiden Fahrzeuge durch und nannte die genaue Adresse, an der er sich befand.
Raschid tippte die Daten rasch in seinen Computer ein. »Ich brauche zehn Minuten«, sagte er und legte auf.
Er holte tief Luft. Er konnte es immer noch nicht fassen. Jemand hatte Tariq umgebracht und den Anhänger an sich genommen. Die Fitna durfte auf keinen Fall in die falschen Hände geraten, sonst wäre die gesamte Sache Gottes in Gefahr.
Raschid sprach ein schnelles Gebet und ging an die Arbeit. Wer immer hinter Tariqs Tod steckte, er würde es herausfinden.
Ein paar Kilometer weiter saß der Dschinn in seinem Wagen und kontrollierte noch einmal den Sitz seines Messers und seiner Pistole.
Jetzt musste er abwarten. Natürlich hätte der Dschinn auch in das Haus stürmen, Tariqs Mörder töten und ihm den Fitna-Anhänger abnehmen können. Aber das wäre viel zu riskant gewesen. Der Dschinn durfte keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich lenken. Das oberste Gebot der Mission lautete, dass niemand von seiner Existenz erfahren durfte. Er musste geduldig sein. Er würde hier warten und die nächsten Schritte von Tariqs Mörder beobachten. Dann, wenn sich eine passende Gelegenheit ergab, würde er ihm den Anhänger abnehmen.
Die Hand des Dschinn fuhr unwillkürlich über die Pistole in seiner Jackentasche. Und dann werde ich ihn töten.
Kapitel 9
»Also, Herr Kampel«, begann Lisa und beugte sich in ihrem Stuhl ein wenig nach vorne. »Lassen Sie uns diese Fitna lösen.«
Sie hatte sich neben Kampel an den Schreibtisch gesetzt, wo sie den Zettel aus dem Anhänger ausgebreitet hatte. Gemeinsam lasen sie noch einmal den rätselhaften Text:
Es gibt nur einen Gott und Mohammed ist sein Prophet.
Und er will Tod für jeden, der die Schrift verfälscht zuhauf,
damit die Fitna hier im Dār al-Harb nicht mehr besteht.
Nun such’ aus Ost die Sieben und aus Süd die Siebzehn auf,
dort wo Berlin das Schicksal der verstoß’nen Affen sieht.
Und schließlich unterwirf dich, nur so nimmt es seinen Lauf.
Unter dem Text war ein kryptisch aussehendes Symbol abgebildet:

»Ist das ein islamisches Symbol?«, fragte Lisa.
Kampel schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, was das bedeuten soll. Es sieht aus, als käme es aus einem Computer.«
»Was ist mit dem Text? Was will diese Fitna von uns?«
Kampel überlegte eine Weile und schüttelte dann noch einmal den Kopf. »Ich weiß es nicht. Teile davon verstehe ich zwar, aber …«
»Fangen wir mit den Teilen an, die Sie verstehen«, unterbrach die Kommissarin ihn. »Erklären Sie mir einfach, was Sie aus dem Gedicht herauslesen können.«
Kampel deutete auf die oberste Textzeile. »Die erste Zeile des Gedichts ist eine abgewandelte Form der Schahāda, so viel ist sicher.«
»Schahāda?«
»Die Schahāda ist das Glaubensbekenntnis des Islam. Auf Arabisch lautet sie: Lā lāha illā ‚llāhu Muḥammadun rasūlu ‚llāhi.«
Kampels perfekte arabische Aussprache rang Lisa einen anerkennenden Blick ab.
Der Religionswissenschaftler fuhr fort: »Dieser arabische Satz drückt in etwas anderen Worten genau dasselbe aus wie der erste Vers in diesem Gedicht: ›Es gibt keinen Gott, außer dem einen Gott und Mohammed ist sein Gesandter und Prophet.‹ Ein Muslim, der die Schahāda ausspricht, bezeugt damit, dass er nicht an andere Götter – sogenannte Götzen – glaubt, sondern nur an den islamischen Gott und an seinen Gesandten Mohammed, den Propheten des Islam. Wer dieses Bekenntnis bei vollem Bewusstsein vor zwei Zeugen spricht, gilt unumkehrbar als Muslim. Die Schahāda ist die erste der fünf Säulen des Islam, also eine der wichtigsten Pflichten eines jeden Gläubigen.«
Lisa nickte. »Was ist mit der nächsten Zeile?« Sie las vor: »›Und er will Tod für jeden, der die Schrift verfälscht zuhauf.‹ Wenn ich das richtig verstehe, will Gott – nach Meinung des Autors dieser Fitna –, dass jeder stirbt, der ›die Schrift verfälscht‹. Wer ist damit gemeint?«
»Damit sind Juden und Christen gemeint. Der Islam wirft ihnen vor, dass sie Änderungen an ihren eigenen heiligen Schriften – also an der Thora und an der Bibel – vorgenommen und damit Gottes Worte verändert hätten.«
Lisa war verwundert. »Was gehen den Islam denn die Thora und die Bibel an?«
Kampel merkte, dass er an dieser Stelle zu einer längeren Erklärung ansetzen musste. Er überlegte eine Weile, wo er bei diesem komplexen Thema beginnen sollte. »Dem Islam zufolge hat Gott nicht nur den Koran durch seinen Propheten Mohammed auf die Erde gesandt, sondern zuvor auch die Thora durch Moses und das Evangelium der Christen durch Jesus. Lassen Sie mich Ihnen die entsprechenden Koranstellen vorlesen.«
Kampel streckte seinen Arm aus und zog eine kleine Koranausgabe aus dem Regal hinter seinem Schreibtisch. Aus den Seiten des dicken Buches ragten unglaublich viele schmale Klebezettel in den verschiedensten Farben hervor, die Kampel in kleiner Schrift mit kurzen Notizen versehen hatte. Ohne lange zu suchen griff Kampel nach einem der Klebezettel und öffnete das Buch an der entsprechenden Stelle. Dann las er vor:
[2:87] Wir haben doch seinerzeit dem Mose die Schrift gegeben und nach ihm die weiteren Gesandten folgen lassen. Und wir haben Jesus, dem Sohn der Maria, die klaren Beweise gegeben und ihn mit dem heiligen Geist gestärkt. […]
Mit einer raschen Bewegung blätterte Kampel zu einem weiteren Koranvers. Wieder las er vor, wobei er beim Vorlesen kurze Erklärungen für Lisa einschob:
[3:3] Er [also Gott] hat die Schrift mit der Wahrheit [den Koran] auf dich [Mohammed] herabgesandt als Bestätigung dessen, was an Offenbarungsschriften vor ihr da war. Er hat auch die Thora und das Evangelium herabgesandt, […]
Kampel fuhr mit seinen Ausführungen fort: »Viele Leute sind überrascht, wenn sie erfahren, dass der Koran Moses und Jesus erwähnt. Tatsächlich ist Moses sogar die am häufigsten namentlich genannte Person im ganzen Koran – er wird weit häufiger beim Namen genannt als Mohammed. Dem Islam zufolge kündigten Moses und Jesus im Laufe ihres Lebens an, dass Gott in der Zukunft einen neuen Propheten namens Mohammed auf die Erde senden werde, der den Koran offenbaren und damit die Thora und die Bibel ablösen würde. Die Thora und die Bibel stammen nach islamischer Lehre von demselben Gott, der den Koran an Mohammed sandte. Der Koran wirft den Juden und Christen jedoch vor, dass sie die Erwähnung von Mohammed und einige islamische Gebote aus ihren heiligen Schriften herausgelöscht hätten. So heißt es beispielsweise über die Juden …« Wieder blätterte Kampel eine Koranstelle auf und las vor:
[4:46] Unter denen, die dem Judentum angehören, entstellen welche die Worte der Schrift, indem sie sie von der Stelle wegnehmen, an die sie hingehören. […][12]
»Dem Islam zufolge haben die Juden und Christen auch bestimmte islamische Gebote aus ihren heiligen Schriften entfernt. Beispielsweise sollen die Thora und die Bibel ursprünglich das Gebot enthalten haben, dass Ehebrecherinnen gesteinigt werden müssten. Die Juden und Christen hätten diese und andere Gebote eigenmächtig aus ihren heiligen Schriften gelöscht und damit die Worte Gottes verfälscht. Deshalb gelten sie im Islam als Schriftenfälscher, wie es hier im Gedicht ausgedrückt wird.«
Lisa deutete auf den Koran vor Kampel. »Sie sagten, dass Gott all diese Botschaften seinem Propheten Mohammed mitgeteilt hat. Hat Mohammed den Koran geschrieben?«
»Nein, nein«, erwiderte Kampel eilig, »das ist ein weit verbreiteter Irrtum. Mohammed hat die von Gott offenbarten Botschaften niemals aufgeschrieben, sondern immer nur mündlich an seine Gefolgsleute weitergegeben. Daher kommt auch das Wort Koran: Das arabische Wort al-Qur’ān heißt übersetzt so viel wie Vortrag, Lesung oder Rezitation. Die schriftlichen Aufzeichnungen dieser ›Vorträge‹ stammen nicht von Mohammed selbst, sondern von seinen Gefolgsleuten. Sie haben die Botschaften des Propheten entweder direkt niedergeschrieben oder aber – wenn sie nicht schreiben konnten – auswendig gelernt und später gegenüber einem Schreibkundigen rezitiert. Einige Koranverse wurden erst jahrelang mündlich weitergegeben, ehe sie jemand schriftlich festhielt.«
Kampel deutete auf den Koran vor sich. »Der Koran, wie wir ihn heute kennen, hat einen langen Entstehungsprozess durchlaufen. Nach Mohammeds Tod im Jahre 632 existierten viele verschiedene Versionen der heiligen Schrift, da es keine einheitliche festgelegte Sammlung seiner Offenbarungen gab. Die Frage, welche Koranfassung denn nun die richtige sei, führte häufig zu Streit unter den Muslimen und teilweise sogar zu Mord. Aus diesem Grund ließ der dritte Kalif ʿUthmān ibn ʿAffān – der dritte Nachfolger des Propheten – einen ›Standardkoran‹ erstellen. Seine Mitarbeiter trugen alle Verse aus den bis dahin kursierenden Koranfassungen zusammen und übernahmen nur diejenigen Verse in ihren Standardkoran, bei denen mindestens zwei Männer bezeugen konnten, dass Mohammed den jeweiligen Vers auch wirklich so gesagt hatte. ʿUthmān entsendete seine Standardfassung dann in alle Regionen, die unter islamischer Herrschaft standen und ließ alle anderen privaten Koranaufzeichnungen verbrennen. Fortan galt nur noch die Koranversion des dritten Kalifen – und das bis heute.« Kampel klopfte mit der flachen Hand auf das Buch vor sich.
Lisa wandte sich wieder dem Gedicht auf dem Tisch zu und murmelte die zweite und dritte Zeile vor sich hin: »›Und er will Tod für jeden, der die Schrift verfälscht zuhauf, damit die Fitna hier im Dār al-Harb nicht mehr besteht.‹« Sie seufzte. »An dieser Stelle verstehe ich überhaupt nichts mehr. Wenn ich das richtige deute, glaubt der Autor, dass die Schriftenfälscher – also die Juden und Christen – sterben müssten, damit die Fitna im Dār al-Harb beendet wird. Aber warum würde ihr Tod die Fitna, also die Glaubensprüfung, beenden? Und was ist überhaupt dieses Dār al-Harb?«
»Der Begriff Fitna darf an dieser Stelle nicht als eine konkrete Prüfung verstanden werden, sondern hat hier seine abstrakte Bedeutung: Eine Fitna ist eine Situation, in der Muslime zum Unglauben verführt werden können. Einigen Koranpassagen zufolge können Muslime schon durch die bloße Existenz von Ungläubigen zum Unglauben verführt werden. Um diese Situation – die Fitna – aufzulösen, müssen die Ungläubigen sterben.«
Kampel schlug den Koran blitzschnell an einem Klebezettel auf und las vor:
[2:191] Und tötet sie [die Ungläubigen], wo immer ihr sie zu fassen bekommt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben! Der Versuch, Gläubige zum Abfall vom Islam zu verführen, ist schlimmer als Töten. […]
Er las einen Vers ein paar Zeilen weiter vor:
[2:193] Und kämpft gegen sie [die Ungläubigen], bis niemand mehr versucht, Gläubige zum Abfall vom Islam zu verführen, und bis nur noch Gott verehrt wird! […]
»Die Übersetzung dieser Koranverse stammt von Rudi Paret«, sagte Kampel. »Was er hier mit ›Abfall vom Islam‹ übersetzt, heißt im arabischen Original …«
»Fitna«, vollendete Lisa den Satz flüsternd.
Kampel nickte. »Die Existenz der Ungläubigen stellt den Glauben der Muslime auf die Probe – es herrscht eine Fitna. Diese Fitna führt zu einem Bürgerkrieg, der erst vorbei ist, wenn alle Ungläubigen bekämpft wurden und die ganze Welt islamisch ist. Dieses Verständnis des Fitna-Begriffs wird auch an anderer Stelle im Koran exakt aufs Wort wiederholt.«
[8:39] Und kämpft gegen sie [die Ungläubigen], bis niemand mehr versucht, Gläubige zum Abfall vom Islam zu verführen, und bis nur noch Gott verehrt wird! […]
»›Bis nur noch Gott verehrt wird‹«, echote Lisa. »Damit ist aber ausschließlich der islamische Gott gemeint, nehme ich an?«
»Richtig«, sagte Kampel. »Im arabischen Original ist an dieser Stelle von Allah die Rede, was Paret mit Gott übersetzt – ich halte es in meinen eigenen Büchern genauso. Dem islamischen Selbstverständnis nach ist Allah nun mal der einzige Gott. Genau das drückt die Schahāda aus: ›Es gibt keinen Gott, außer dem einen Gott und Mohammed ist sein Gesandter und Prophet.‹ Soll heißen: Der einzige Gott ist der islamische Gott. Deshalb übersetze ich genau wie Paret Allah in meinen Büchern immer als Gott. Warum sollte man zwei Wörter nebeneinander verwenden – Allah und Gott – wenn nach islamischem Glauben beides das gleiche ist?« Kampel lachte. »Ich würde Ihnen liebend gerne auseinandersetzen, ob der islamische Allah und der jüdisch-christliche Gott wirklich derselbe sind, aber ich fürchte, dazu fehlt uns leider die Zeit. Über diese Frage wurden schon ganze Bücher geschrieben. Eines davon stammt sogar von mir.« Er zeigte auf einen dicken Wälzer in seinem Bücherregal:
IST ALLAH GOTT?
Das Gottesbild des Islam, des Judentums und des Christentums im Vergleich
Lisa lenkte Kampels Blick zurück auf das Gedicht. »Was ist das Dār al-Harb, von dem hier die Rede ist?«
»Der Islam unterteilt die Welt in zwei Sphären«, erklärte Kampel. »Die erste Sphäre ist das Dār al-Islām, das sogenannte Land des Islam. Dort leben die Muslime nach den göttlichen Gesetzen, so wie Gott sie durch Mohammed verkünden ließ. Wir befinden uns dagegen im Dār al-Harb, dem Land des Krieges. Im Land des Krieges leben die Ungläubigen: Juden, Christen, Buddhisten, Hindus, Atheisten, Anhänger des Fliegenden Spaghettimonsters … Kurzum alle Menschen, die keine Muslime sind.«
»Also ist Deutschland das Land des Krieges?«
»Es ist ein Teil davon. Die gesamte nicht-islamische Welt ist das Land des Krieges. Hier besteht eine Fitna, ein Bürgerkrieg zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen. Die Koranverse, die ich Ihnen gerade vorgelesen habe, verpflichten Muslime nach dschihadistischer Auslegung dazu, gegen die Ungläubigen Krieg zu führen, um die Fitna zu beenden.« Kampel tippte mit dem Zeigefinger auf den Zettel, der zuvor in dem Anhänger gesteckt hatte. »Dieses Gedicht drückt genau das aus: Wenn die ›Schriftenfälscher‹ – Juden und Christen – tot sind, gibt es keine Fitna mehr im Dār al-Harb und damit keinen Bürgerkrieg mehr im Land der Ungläubigen.«
Lisa ließ diese Nachricht einen Moment lang sacken. Währenddessen klappte Kampel den Koran vor sich zu und stellte ihn hochkant auf den Tisch. Er deutete auf die beeindruckende Menge Papierstreifen, die er am oberen Rand des Buches angebracht hatte. »Sehen Sie die türkisen Klebezettel? Damit habe ich alle Stellen markiert, in denen im Koran zum Kampf gegen die Ungläubigen aufgerufen wird.«
»Wie viele sind das?«
»Das habe ich ehrlich gesagt nie gezählt«, antwortete Kampel. »Ein bekannter Kollege von mir zählte im Koran allerdings mehr als 200 Aufrufe zum Kampf gegen die Ungläubigen und 25 direkte Tötungsbefehle.[13] Wie auch immer die genaue Zahl ausfallen mag: Die Ungläubigen nehmen eine sehr prominente Rolle im Islam ein.«
Lisa konnte kaum etwas erwidern, als Kampel bereits nach einem der Klebezettel griff und das Buch an der entsprechenden Stelle öffnete.
»Lassen Sie mich Ihnen ein paar Beispiele dafür geben, wie die Ungläubigen im Koran beschrieben werden«, sagte er. »Gott ›verabscheut‹ die Ungläubigen, in einigen anderen deutschen Übersetzungen ›hasst‹ er sie sogar.«[14]
[40:35] Diejenigen, die über die Zeichen Gottes streiten, ohne dass sie Vollmacht dazu erhalten hätten, erregen damit bei Gott und den Gläubigen großen Abscheu. So versiegelt Gott allen denen das Herz, die sich hochmütig gebärden und gewalttätig sind.
»Die letzte Aussage wird im Koran häufig wiederholt«, sagte Kampel, während er weiterblätterte. »Immer wieder heißt es, dass Gott die Herzen und Ohren der Ungläubigen versiegelt habe und sie deshalb nicht den Islam annehmen könnten.«
[2:7] Gott hat ihnen das Herz und das Gehör versiegelt, und ihr Gesicht ist verhüllt. Sie haben dereinst eine gewaltige Strafe zu erwarten.
[2:18] Taub sind sie, stumm und blind. Und sie bekehren sich nicht.
»Der Unglaube wird entsprechend als eine Krankheit beschrieben.«
[9:125] Diejenigen dagegen, die im Herzen eine Krankheit haben […], sterben als Ungläubige.
»Die Ungläubigen gelten als die schlechtesten aller Geschöpfe.«
[98:6] Diejenigen von den Leuten der Schrift und den Heiden, die ungläubig sind, werden im Feuer der Hölle sein und ewig darin weilen. Sie sind die schlechtesten Geschöpfe.
Rasend schnell blätterte Kampel weiter. »Zudem heißt es an verschiedenen Stellen, die Ungläubigen seien wie Tiere oder wie Vieh.«
[8:22] Als die schlimmsten Tiere gelten bei Gott die Tauben und Stummen, die keinen Verstand haben [also die Ungläubigen].
[8:55] Als die schlimmsten Tiere gelten bei Gott diejenigen, die ungläubig sind […][15]
»Besonders Juden werden im Koran häufig mit Tieren gleichgesetzt. Sie wurden von Gott in Affen und Schweine verwandelt. Juden werden beschrieben als …«
[5:60] […] Leute, die Gott verflucht hat und auf die er zornig ist, und aus denen er Affen und Schweine und Götzendiener gemacht hat. […]
»Warum wurden die Juden von Gott in Tiere verwandelt?«, fragte Lisa.
»Weil sie das Ruhegebot am Sabbat missachteten, indem sie fischten. Gott hat sie deshalb in Affen verwandelt und verstoßen.«[16] Kampel las einen weiteren Koranvers vor:
[2:65] Ihr wisst doch Bescheid über diejenigen von euch, die sich hinsichtlich des Sabbats einer Übertretung schuldig machten, worauf wir zu ihnen sagten: »Werdet zu abscheulichen Affen!«[17]
Nachdem Kampel diese Worte vorgelesen hatte, hielt er abrupt inne. Er hatte einen Geistesblitz. »Die Juden wurden zu ›verstoßenen Affen‹, aber natürlich …«, murmelte er. Noch einmal las er die letzten drei Zeilen des Gedichts:
Nun such’ aus Ost die Sieben und aus Süd die Siebzehn auf,
dort wo Berlin das Schicksal der verstoß’nen Affen sieht.
Und schließlich unterwirf dich, nur so nimmt es seinen Lauf.
Kampel klappte den Koran zu und stand hastig auf. »Ich weiß, wohin uns diese Fitna führt. Wir müssen sofort los!« Er öffnete eine Schreibtischschublade und holte einen Autoschlüssel hervor, den er klimpernd hochhielt. »Wir nehmen meinen Wagen.« Er nickte in Richtung des Kleintransporters, den die Kommissarin vor dem Haus geparkt hatte. »Ich möchte nicht in dem riesigen Ding da herumfahren. Man könnte ja fast denken, dass sie eine Leiche darin transportieren …«
Bei diesen Worten fuhr Lisa unmerklich zusammen. Kampel konnte nicht ahnen, wie viel Wahrheit in seinem Witz steckte. In ihrem Wagen befand sich tatsächlich eine Leiche. Es war die Leiche des Anwärters, dem sie die Fitna abgenommen hatte.
Kapitel 10
Endlich passierte etwas.
Zwei Gestalten traten aus dem Haus, das der Dschinn seit geraumer Zeit beobachtete. In der Dunkelheit konnte er ihre Gesichter nicht genau erkennen, aber aus ihren Bewegungen war zu schließen, dass sie in Eile waren. Kaum dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, stiegen sie in einen Kleinwagen, der vor dem Haus geparkt war, und fuhren los.
Die beiden Unbekannten fuhren aus der Einfahrt heraus und am Dschinn vorbei. Er duckte sich rechtzeitig in den Fahrersitz, sodass sie ihn nicht bemerkten. Als er dabei einen raschen Blick in das Auto warf, dachte er einen Moment lang, seine Augen würden ihm einen Streich spielen: Am Steuer saß eine Frau mit einem blonden Pferdeschwanz, ihr Beifahrer war ein drahtig wirkender Mann mittleren Alters mit Brille und dunklen, angegrauten Haaren.
Der Dschinn war perplex. Haben diese beiden Tariq getötet? Eine Frau und ein beinahe ergrauter Mann?
Er warf einen raschen Blick auf sein Smartphone. Das GPS-Signal, das er Tariq angeheftet hatte, rührte sich nicht von der Stelle. Offenbar hatten die beiden Unbekannten den Anwärter in dem Kleintransporter auf dem Grundstück stehen gelassen. Wo auch immer sie hinwollten, es ging ihnen nicht um seine Leiche.
Das Auto des ungewöhnlichen Paares hatte sich inzwischen ein Stück entfernt. Der Dschinn ließ seinen eigenen Wagen an und fuhr langsam los. Er nahm die Verfolgung auf.
Die wohlbekannte Erregung der Jagd überkam ihn. Wer auch immer die beiden Ungläubigen waren: Er würde ihnen den Anhänger abnehmen. Und dann würde er sie töten.
Aber das würde warten müssen. Er musste sich gedulden. Ein gewöhnlicher Straßengangster hätte vermutlich zu dem Kleinwagen aufgeschlossen und die beiden Unbekannten im Vorbeifahren erschossen. Aber der Dschinn war kein gewöhnlicher Straßengangster. Er bevorzugte eine subtilere Vorgehensweise. Wenn der Dschinn einen Auftrag ausführte, dann war es so, als wäre er nie dort gewesen. Nicht umsonst hatte er sich selbst den Namen Dschinn gegeben.
Bei dem Gedanken an die Dschinn musste er lächeln.
Die Dschinn waren Geister aus rauchlosem Feuer, die gemeinsam mit den Menschen auf der Erde lebten, aber vor dem menschlichen Auge für gewöhnlich verborgen blieben. Daher kam auch ihr Name: Das Wort Dschinn stammte von dem arabischen Begriff janna ab, was so viel wie verbergen oder verstecken bedeutete. Die Dschinn wurden im Koran häufig erwähnt. Gott hatte sie geschaffen, um ihm zu dienen. Auch ich wurde geschaffen, um Gott zu dienen, dachte der Dschinn zufrieden.
Schon als er klein war, hatten ihn die Dschinn fasziniert. Er konnte sich noch gut an die Geschichten erinnern, die sich die Erwachsenen in seinem winzigen irakischen Dorf hinter vorgehaltener Hand erzählt hatten. So hieß es, dass Menschen, die der Einladung eines Dschinn folgten, in der Welt der Geister verschwanden und danach nie wieder auftauchten. Die einzigen Menschen, die es geschafft hatten, der Welt der Dschinn zu entkommen, waren unter merkwürdigen Umständen zurückgekehrt. Der Obsthändler im Dorf hatte eine derartige Geschichte über einen Bekannten des Schwagers seines Cousins erzählt – in dem Dorf des Dschinn wurden Geschichten häufig über derartig lange Ketten weitergereicht. Der Mann in der Geschichte war eines Tages der Einladung eines Dschinn gefolgt und seitdem nie wieder gesehen worden. Jahre später fand man ihn in einer verlassenen Gasse, doch er konnte sich nicht erinnern, wie er dahin gekommen war, wo er herkam und wie sein eigener Name lautete. Sein Gedächtnis war völlig ausgelöscht. Aber selbst wenn er sich an etwas erinnert hätte, hätte er es vermutlich nicht erzählt. Man sagte sich nämlich, dass die Dschinn den Menschen die Zunge abschnitten, wenn sie von einer Begegnung mit ihnen berichteten. Den Mann, der sich selbst Dschinn nannte, überkam bei dem Gedanken an all diese Geschichten der gleiche wohlige Schauer, den er schon als kleiner Junge verspürt hatte.
Seine liebsten Geschichten über die Dschinn stammten jedoch aus dem Koran. Diese Erzählungen klangen so viel wundersamer und geheimnisvoller als alles, was er jemals an den Marktständen und in den leise gemurmelten Gesprächen der Erwachsenen gehört hatte. Immer wenn seine Mutter ihm vor dem Zubettgehen aus dem Koran vorgelesen hatte, hatte er verlangt, dass sie ihm von den Dschinn vorlesen sollte. Besonders die Sure 72 hatte es ihm damals angetan: Sie berichtete, wie die Dschinn zum ersten Mal die Offenbarungen des Propheten hörten – Gottes Lob und Frieden auf ihm. Sie waren so begeistert von den Worten Gottes, dass sie sofort zu gläubigen Muslimen wurden. Der Dschinn mochte diese Geschichte, denn ihm war es genauso ergangen, als er zum ersten Mal die göttlichen Offenbarungen gehört hatte. Der Koran war das einzige Buch, das seine Eltern im Haus hatten. Als kleiner Junge war ihm dieses merkwürdige, viereckige Ding bloß wie ein langweiliger Stapel Papier zwischen zwei Deckeln erschienen. Aber als ihm seine Mutter zum ersten Mal aus dem Koran vorlas und nur durch das Entziffern der Lettern auf dem Papier in einer so schönen und wundersamen Sprache von Gott erzählte, wusste er, dass er »angekommen« war. Er war nie zuvor so berührt gewesen. Und obwohl er vieles von dem Koran damals noch nicht verstand, wusste er, dass er fortan Gott dienen würde. Genau wie die Dschinn.
Er dachte an die Pistole in seiner Jackentasche. Heute würde er Gott einen höheren Dienst erweisen, als ihn je zuvor ein Dschinn erbracht hatte.
Kapitel 11
»Biegen Sie hier rechts ab«, ordnete Kampel vom Beifahrersitz an. Er hatte Lisa Albers darum gebeten, zu fahren. Er wollte die Gelegenheit nutzen, um weiter über das rätselhafte Gedicht nachzudenken. Obwohl er nun eine grobe Ahnung hatte, wohin sie mussten, gab es noch vieles, auf das er sich keinen Reim machen konnte.
Lisa wirkte noch ratloser. »Wohin fahren wir überhaupt?«
»›Dort wo Berlin das Schicksal der verstoß’nen Affen sieht‹«, antwortete Kampel, indem er das Gedicht in seiner Hand zitierte. »Wie ich Ihnen erklärt habe, sind mit den ›verstoß’nen Affen‹ die Juden gemeint. Wir fahren dorthin, wo ganz Berlin ›ihr Schicksal‹ sieht: zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas.«
Lisa schluckte. »Was sagt der Islam über die Juden?«
»Im Koran heißt es, dass Gott zornig auf die Juden ist«, antwortete Kampel. Schon hatte er seinen Koran, den er auf die Reise mitgenommen hatte, an einem der vielen Klebezettel aufgeschlagen und las vor:
[2:61] […] Und Erniedrigung und Verelendung kam über sie [die Juden], und sie verfielen dem Zorn Gottes. Dies traf sie zur Strafe dafür, dass sie nicht an die Zeichen Gottes glaubten und unberechtigterweise die Propheten töteten, und dafür, dass sie widerspenstig waren und die Gebote Gottes übertraten.
»An einer anderen Stelle im Koran werden die Juden unter den Ungläubigen besonders hervorgehoben.«
[5:82] Du wirst sicher finden, dass diejenigen Menschen, die sich den Gläubigen gegenüber am meisten feindlich zeigen, die Juden und die Heiden sind. […]
»Noch weitaus drastischere Aussagen über die Juden finden sich in den Hadithen«, fuhr Kampel fort. »Dort heißt es unter anderem, dass …«
Lisa unterbrach ihn: »Hadithe? Was ist das?«
Kampel war für einen kurzen Moment aus dem Konzept gebracht. Er hielt inne und überlegte, wie er der Kommissarin das Konzept der Hadithe erklären sollte. Schließlich sagte er: »Vorhin erzählte ich Ihnen, dass Mohammed die Offenbarungen des Koran nur mündlich gegenüber seinen Anhängern verkündete. Die Anhänger schrieben diese Offenbarungen auf oder erzählten sie weiter und fassten sie später in geschriebener Form zusammen. In ganz ähnlicher Weise gaben Mohammeds Anhänger nicht nur die Koranverse weiter, sondern auch alle anderen Aussprüche und Taten des Propheten. Nachdem Mohammed gestorben war, erzählten seine Anhänger sich gegenseitig davon, was er zu seinen Lebzeiten gesagt oder getan hatte. Diese Geschichten wurden 150 bis 200 Jahre lang mündlich weitergegeben, bis sie von islamischen Gelehrten aufgeschrieben wurden. Diese Überlieferungen werden als Hadithe bezeichnet.«
»Wenn die Geschichten über Mohammed 200 Jahre lang lediglich mündlich weitergegeben wurden, wurden sie dann nicht bei jeder neuen Erzählrunde stark verändert?«, fragte Lisa. »Für mich klingt das wie eine gigantische Version von Stille Post.«
»Der Vergleich ist ziemlich treffend«, sagte Kampel lachend. Er selbst hatte als Kind auch schon Stille Post gespielt. Bei diesem Spiel saßen mehrere Kinder in einer Reihe nebeneinander und flüsterten sich nacheinander einen Satz ins Ohr. Der Satz wurde von irgendeinem der Kinder für gewöhnlich entweder falsch verstanden oder absichtlich verfälscht, sodass am Ende etwas völlig anderes herauskam, als zu Beginn gesagt worden war.
»Die muslimischen Gelehrten hatten sich eine Art Gütesiegel ausgedacht, um die glaubwürdigen Hadithe von den unglaubwürdigen zu unterscheiden«, erklärte Kampel. »Und zwar untersuchten die Gelehrten die Überlieferungskette, in der ein jeweiliger Hadith weitergegeben wurde. Wenn sich ein Hadith in dieser Kette bis auf jemanden zurückverfolgen ließ, der Mohammed persönlich begegnet war, wurde der entsprechende Hadith als sahīh eingestuft – das heißt so viel wie gesund oder authentisch. Eine komplette Sammlung mit als authentisch eingestuften Hadithen stammt unter anderem von dem Gelehrten Al-Bukhari. Er trug in seiner Hadithsammlung 7.000 Überlieferungen zusammen, die er aus insgesamt 600.000 Erzählungen auswählte.«[18]
»Das klingt nach einer recht geringen Ausbeute.«
»Ja, das ist es, aber Al-Bukhari hatte es bei seiner Auswahl auch nicht leicht. Denn wie Sie sich vorstellen können, waren viele der Geschichten, die über Mohammed im Umlauf waren, frei erfunden. Ein Mann namens Ibn abi al-Audscha beispielsweise, der über hundert Jahre nach Mohammeds Tod hingerichtet wurde, gab zu, dass er allein 4.000 Geschichten über den Propheten frei erfunden hatte.[19] Außerdem ist die Klage von einem islamischen Gelehrten überliefert, der sich darüber beschwerte, dass einige Leute von muslimischen Herrschern dazu gezwungen wurden, bestimmte Hadithe zu schreiben.[20] Die Herrscher wollten, dass von ihnen aufgestellte Gesetze in den Hadithen erwähnt werden, um sie zu legitimieren.
Auch heute noch sind die Hadithe relevant für die Rechtsprechung in der islamischen Welt. Das Gesetz des Islam – die Scharia – wird nämlich nicht nur vom Koran abgeleitet, sondern auch vom Leben und Wirken des Propheten, wie es in den Hadithen überliefert wurde. Mohammeds Leben – die sunna – stellt laut Koran ein gutes Beispiel für die Lebensführung aller Muslime dar.« Kampel blätterte in seinem Koran zu einem der vielen Klebezettel und las dann vor:
[33:21] Im Gesandten Gottes [Mohammed] habt ihr doch ein schönes Beispiel – alle haben in ihm ein schönes Beispiel, die auf Gott hoffen und sich auf den jüngsten Tag gefasst machen und Gottes ohne Unterlass gedenken.
»Einige Muslime nehmen sich Mohammed derart zum Vorbild, dass sie ihn bis ins kleinste Detail nachahmen. Zum Beispiel gibt es Gläubige, die ihre Bärte äußerst lang wachsen lassen und nur an der Oberlippe kürzen, weil der Prophet seinen Bart genauso getragen haben soll.«
»Beim Barte des Propheten!«, rief Lisa scherzhaft aus.
Kampel lächelte. »Sie wissen es wahrscheinlich nicht, aber diese Redewendung bezieht sich tatsächlich auf Mohammeds Bart.«[21]
Lisa lachte. »Wieder was gelernt.« Sie deutete mit einem Nicken auf den Zettel mit dem Gedicht in Kampels Hand. »Kommen wir zu unserer Prüfung zurück. Sie wollten mir erklären, was die Hadithe über die Juden berichten.«
»Wenig Erfreuliches, fürchte ich. Mohammed verkündet in den Hadithen, dass die Endzeit erst kommen würde, wenn alle Juden auf der Erde ausgerottet wurden. Demnach sollen Muslime die Juden so heftig bekämpfen, bis selbst der letzte Stein, hinter dem sich ein Jude versteckt, die Muslime um die Vernichtung der Juden bittet. Lassen Sie mich Ihnen diesen Hadith vorlesen …«
Kampel zog aus seinem Koran mehrere gefaltete Blätter, die er lose in das Buch gelegt hatte. Die Seiten waren vorne und hinten in winziger Schrift eng bedruckt. »Die für meine Arbeit interessantesten Hadithe habe ich ausgedruckt«, erklärte Kampel, während er die Blätter auffaltete und mit den Augen überflog. »Ah, hier ist es!«, rief er schließlich und las vor:
[…] Gottes Gesandter sagte: »Das Jüngste Gericht wird nicht kommen, bis ihr mit den Juden gekämpft habt, und jeder Stein, hinter dem sich ein Jude versteckt, sagt: ›Oh Muslim! Ein Jude versteckt sich hinter mir, also töte ihn!‹«[22]
Lisa schnappte überrascht nach Luft. »Das habe ich schon mal gehört!«, sagte sie. »Dieser Text wird häufig von der Hamas zitiert!«
Kampel nickte. »Viele Dschihadisten zitieren aus den Hadithen. Der Satz, den ich Ihnen gerade vorgelesen habe, wurde mit etwas anderer Formulierung übrigens auch in zahlreichen weiteren Hadithen überliefertHadithen HHadajdk, die allesamt ebenfalls als authentisch eingestuft wurden.«[23]
»War das nur leeres Gerede oder war Mohammed wirklich so grausam zu den Juden?«
»Es ist leider eine historische Tatsache, dass der Prophet des Islam äußerst brutal mit jüdischen Stämmen umging, die ihm in die Quere kamen. Die Banū Qainuqā und die Banū n-Nadīr etwa ließ er beide verbannen – die einen, weil sie sich über die Muslime lustig gemacht hatten, die anderen, weil sie versucht hatten Mohammed umzubringen.[24] Den jüdischen Stamm der Banū Quraiza löschte Mohammed im Grabenkrieg sogar vollständig aus.[25] Im Jahr 627 ließ Mohammed alle erwachsenen Männer des Stammes auf dem Marktplatz in Medina köpfen.[26] Je nach Schätzung wurden dabei zwischen 400 und 900 Juden getötet.[27] Außerdem hatte Mohammed eine jüdische Frau namens Safīya, die er als Kriegsbeute nach der Schlacht von Chaibar genommen hatte. Die Muslime hatten in dieser Schlacht die von Juden besiedelte Oase Chaibar erobert und die jüdischen Frauen und Kinder anschließend als Kriegsgefangene unter sich aufgeteilt.«[28]
Lisa schwieg eine Weile und dachte über Kampels Ausführungen nach. Sie fragte sich, inwiefern Mohammeds Umgang mit den Juden noch heute Muslime auf der ganzen Welt beeinflusste. Erst kürzlich hatte sie für einen internen Polizeibericht verschiede Umfragen zusammengestellt, in denen Muslime ihr Verhältnis zu Juden angeben sollten. In einer deutschen Umfrage hatten 18 Prozent der in Deutschland lebenden Türken Juden als minderwertig empfunden.[29] Eine Studie der schwedischen Regierung von 2006 besagte, dass 39 Prozent der muslimischen Bevölkerung antisemitische Sichtweisen vertraten.[30] Besonders deutlich waren entsprechende Umfragen in islamischen Ländern. Bei einer Umfrage aus dem Jahre 2005 hatten 100 Prozent aller befragten Jordanier, 99 Prozent der muslimischen Libanesen, 88 Prozent der Marokkaner, 76 Prozent der Indonesier, 74 Prozent der Pakistanis und 60 Prozent der Türken Juden als »ziemlich negativ« oder »sehr negativ« eingeschätzt.[31]
Lisa wusste durch ihre Arbeit beim Bundeskriminalamt, dass Juden sich entsprechend immer öfter Attacken von Muslimen ausgesetzt sahen – sogar in Deutschland. Der Zentralrat der Juden warnte seit 2015 davor, in deutschen Wohngebieten mit vielen ansässigen Muslimen die Kippa – die traditionelle jüdische Kopfbedeckung – zu tragen.[32] Im Sommer 2014 wurden im Ruhrgebiet auf Demonstrationen Parolen wie »Hamas, Hamas, Juden ins Gas« skandiert.[33] Zuletzt hatten Muslime bei einer Demonstration vor der US-amerikanischen Botschaft in Berlin eine Israelflagge verbrannt – nur wenige hundert Meter vom Denkmal für die ermordeten Juden Europas entfernt.[34]
Bei dem Gedanken an das Holocaust-Mahnmal ging Lisa wieder eine Zeile der Fitna durch den Kopf: »Dort wo Berlin das Schicksal der verstoß’nen Affen sieht.« Ein kalter Schauer überkam sie. Warum schickte das Gedicht sie ausgerechnet zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas? Was sollten sie dort finden?
Während Lisa sich den Kopf über diese Fragen zerbrach, bemerkte sie nicht den Wagen, der ihr und Kampel schon seit einer ganzen Weile in sicherem Abstand folgte …
Kapitel 12
Lisa setzte zu einem Überholmanöver an. Der Berliner Verkehr wurde inzwischen immer dichter. Sie hatten bereits die Hälfte der Strecke zurückgelegt.
»Wohin müssen wir, wenn wir am Holocaust-Mahnmal ankommen?«, fragte sie.
Kampel zögerte, dann zuckte er mit den Schultern. »Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht.«
»Denken Sie nach!«, forderte die Polizistin ihn auf. »Der Hinweis muss in dem Gedicht stecken. Ich glaube, wir müssen uns vor allem auf die letzten Verse konzentrieren.« Sie zitierte mühelos aus dem Kopf die letzten drei Gedichtzeilen:
Nun such’ aus Ost die Sieben und aus Süd die Siebzehn auf,
dort wo Berlin das Schicksal der verstoß’nen Affen sieht.
Und schließlich unterwirf dich, nur so nimmt es seinen Lauf.
Lisa dachte laut nach: »Wenn ich das richtig verstehe, sollen wir am Denkmal eine ›Sieben aus Ost‹ und eine ›Siebzehn aus Süden‹ suchen. Haben Sie eine Ahnung, was das sein soll? Ist das vielleicht eine Art islamischer Code?«
Kampel überlegte eine Weile und schüttelte dann den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste …«
Er zermarterte sich den Kopf. Er wusste, dass die Kommissarin recht hatte. Der entscheidende Hinweis musste irgendwo in den letzten drei Gedichtzeilen stecken. Wieder und wieder ging er das Gedicht in Gedanken durch. »Sieben aus Ost« und »Siebzehn aus Süd« … Waren das vielleicht Koordinaten? Aber in welcher Einheit?
Osten und Süden … Diese beiden Richtungen hatten tatsächlich eine besondere Bedeutung für den Islam: Südöstlich von Berlin befand sich Mekka, die heilige Stadt, in deren Richtung die Muslime täglich beteten. Aber warum gerade »Sieben aus Ost« und »Siebzehn aus Süd«?
Sieben … Siebzehn …
Plötzlich dämmerte es Kampel. Er ruckte in seinem Sitz nach vorne und riss überrascht die Augen auf. Die Sieben und die Siebzehn! Aber natürlich!
Er erinnerte sich noch gut daran, wie er zum ersten Mal von diesen Zahlen gehört hatte … Es war während seines Studiums gewesen …
In Gedanken fand Paul Kampel sich in einem alten, heruntergekommenen Hörsaal an einer Berliner Universität wieder. Es war ein unglaublich heißer Sommertag Anfang der 90er-Jahre. Die Wärme kam drückend durch die großen Fenster und erhitzte den gesamten Raum wie ein Gewächshaus.
Kampel saß weit hinten und starrte abwesend auf das Blatt vor sich. Obwohl ihm das Studium der Religionswissenschaften sehr gefiel, achtete er an diesem Tag kaum auf Professor Sieling, der vorne auf dem Podium stand und aus einem seiner Bücher vorlas – die Veranstaltung war eine Vorlesung im wahrsten Sinne des Wortes.
Professor Sieling war ein alter Mann mit dickem Bauch und einer kleinen, kreisrunden Brille. Er hatte etwas von einem Großvater. Kampel mochte ihn. Der Professor war nicht nur freundlich, sondern zudem ein absoluter Korankenner. Er war ein Hāfiz: Er konnte den Koran von vorne bis hinten auswendig zitieren, ohne auch nur einen einzigen Notizzettel zur Hand nehmen zu müssen. Kampel war von dieser Fähigkeit jedes Mal zutiefst beeindruckt.
Doch an diesem Tag fiel es dem jungen Paul Kampel äußerst schwer, sich zu konzentrieren. Die drückende Hitze und die monoton klingende Stimme des Professors ermüdeten ihn. Kampels Kommilitonen im Hörsaal ging es sichtlich ähnlich. Zahlreiche Studenten hörten dem Professor schon lange nicht mehr zu und kritzelten sinnlos auf ihren Blöcken herum, schauten aus dem Fenster oder tuschelten miteinander.
Professor Sieling schien den ansteigenden Geräuschpegel nicht wahrzunehmen und las weiterhin mit einschläfernder Stimme aus seinem Buch vor. Er behandelte heute den Haddsch, die Pilgerfahrt nach Mekka, die jeder Muslim mindestens einmal im Leben unternehmen musste.
»Wenn die Pilger die Kaaba in Mekka erreicht haben, vollführen sie das Ritual des Tawāf«, intonierte der Professor monoton. »Dabei gehen die Muslime siebenmal im Uhrzeigersinn um die Kaaba herum und preisen Gott. Verschiedenen Islamwissenschaftlern zufolge geht dieses Ritual zurück auf …«
Weiter vorne im Hörsaal lachte ein Mädchen plötzlich laut über eine Bemerkung ihrer Sitznachbarin auf.
Professor Sieling schaute erschrocken aus seinem Buch hoch und blickte in die versammelte Studentenschaft vor sich, die immer unruhiger geworden war. Kampel befürchtete, der Professor würde die Studenten nun laut zurechtweisen, aber das tat er nicht.
Professor Sieling sagte überhaupt nichts. Er stand einfach nur da.
Es dauerte einen Augenblick, bis die Zuhörer merkten, dass der Professor seine Vorlesung unterbrochen hatte. Das Getuschel ebbte nach und nach ab, während Professor Sieling weiterhin unbewegt auf dem Podium stand.
Als es völlig still im Saal geworden war, wandte sich der Professor wieder dem Buch zu, aus dem er vorgelesen hatte. Er hielt einen Augenblick inne und schüttelte dann lächelnd den Kopf. Er klappte das Buch zu.
Mit langsamen Schritten ging Professor Sieling zu einem Klavier, das am Rand der Bühne stand und das für musikwissenschaftliche Vorlesungen benutzt wurde. Er öffnete den Klavierdeckel und spielte langsam hintereinander sieben Noten auf dem Klavier. Der wohlige Klang hallte durch den Raum und garantierte ihm spätestens jetzt die volle Aufmerksamkeit seiner inzwischen verwunderten Zuhörer.
»Spielt jemand von Ihnen ein Instrument?«, fragte der Professor.
Einige Studenten nickten verhalten.
»Sehr schön.« Er zeigte auf das Mädchen in der ersten Reihe, das gelacht hatte. »Was habe ich gerade gespielt?«
Die junge Studentin war peinlich berührt. Mit rotem Kopf antwortete sie: »Die C-Dur-Tonleiter. Ohne das obere C.«
»Sehr gut!«, lobte Professor Sieling sie strahlend. »Nun wieder eine Frage zum Islam: Warum meinen Sie, umrunden die Muslime während des Tawāf die Kaaba siebenmal?«
Die Studentin schüttelte ratlos den Kopf.
Der Professor wandte sich an die restlichen Zuhörer. »Weiß sonst jemand, warum die Muslime siebenmal um die Kaaba gehen?«
Ein Murmeln ging durch den Hörsaal. Ratlose Blicke wurden ausgetauscht. Niemand schien eine Antwort parat zu haben.
Paul Kampel gab sich einen Ruck und sagte etwas unsicher in die Stille hinein: »Wegen der Geschichte von Hagar?« Es klang mehr nach einer Frage, als nach einer Antwort.
»Was genau meinen Sie?«, fragte der Professor ermunternd.
»Nun ja, also …« Kampel räusperte sich und redete dann lauter: »Dem islamischen Glauben zufolge wurde Hagar, Abrahams zweite Frau, mit ihrem Sohn Ismael zur Kaaba geschickt. Auf ihrem Weg durch die Wüste waren die beiden kurz vorm Verdursten, weshalb Hagar immer wieder zwischen zwei Bergen hin- und herrannte, um Wasser zu finden. Beim siebten Mal erschien ihr Gott und ließ Wasser aus der Erde strömen. Diese Stelle ist heute als der Brunnen Zamzam bekannt, der 20 Meter entfernt von der Kaaba steht.«
»Wie immer eine hervorragende Antwort, Herr Kampel«, lobte Professor Sieling ihn. Das machte den jungen Kampel schrecklich stolz, obwohl er nicht überhören konnte, wie jemand hinter ihm »Streber« flüsterte.
Der Professor fuhr fort: »Eigentlich wollte ich mit meiner Frage jedoch auf etwas anderes hinaus: Warum musste Hagar ausgerechnet siebenmal zwischen den Bergen hin- und herrennen, bis Gott ihr erschien? Warum denn nicht acht- oder neunmal? Haben Sie eine Ahnung, Herr Kampel?«
Kampel schüttelte den Kopf. Er wusste es nicht. Auch sonst hatte niemand im Hörsaal eine Idee.
»Der Grund ist ganz einfach«, verkündete Professor Sieling. »Hagar musste siebenmal laufen, weil die Zahl Sieben im Islam heilig ist! Die Sieben kommt im Islam immer wieder vor. Überlegen Sie doch: Das Paradies des Islam besteht aus sieben Himmeln, in denen jeweils sieben Gärten angelegt sind. Die islamische Hölle Dschahannam besteht ebenfalls aus sieben Ebenen. Die Sieben findet sich auch im Aqīqa wieder, dem muslimischen Ehrenritual für neugeborene Kinder. Wenn das Baby sieben Tage alt ist, wird ihm der Kopf rasiert und ein Name gegeben. Und denken Sie an einen der bekanntesten Heiligenkulte des Islam: die Sieben Heiligen von Marrakesch.«
Der Professor erzählte den Studenten kurz von den Sieben Heiligen von Marrakesch, einer Gruppe aus sieben Gelehrten, die in und um Marokko den Islam gelehrt hatten. Auf Geheiß eines Sultans waren diese Gelehrten als Heilige zusammengeführt worden. Ihre sieben Grabstätten werden heute von vielen Muslimen nacheinander auf einer Wallfahrt besucht.
»Diese Wallfahrt führt mich wieder zur Pilgerfahrt nach Mekka, dem eigentlichen Thema unserer Vorlesung«, sagte Professor Sieling. »Wenn Sie mir noch ein wenig zugehört hätten, hätte ich Ihnen davon berichtet, was die muslimischen Pilger machen, wenn sie das Tal Minā erreichen. Dort steinigen sie den Teufel auf symbolische Weise, indem sie Steine auf eine Säule werfen. Und raten Sie mal, wie viele Steine die Pilger werfen: sieben Steine! Einige Muslime werfen sogar ein Vielfaches von Sieben, zum Beispiel 49 oder sogar 70 Steine.«
Die Aufmerksamkeit im Raum hatte sich innerhalb der letzten Minuten deutlich erhöht. Die Studenten hörten hochinteressiert zu, wie Professor Sieling fortfuhr: »Es ist wenig verwunderlich, dass die Zahl Sieben von den Muslimen so verehrt wird, denn die Sieben umgibt uns überall in der Natur. Denken Sie zum Beispiel an mein kleines Klavierspiel von vorhin: Wenn man keinen Ton wiederholt, besteht eine gewöhnliche Tonleiter aus sieben unterschiedlichen Tönen. Die Musik, die verständlichste Sprache der Welt, steht damit ganz klar im Zeichen der Sieben. Und wo wir gerade bei der Schönheit der Natur sind: Achten Sie doch mal darauf, aus wie vielen Farben ein Regenbogen besteht – genau, aus sieben! Und wie viele Weltmeere gibt es auf der Erde? Sieben Weltmeere!«
Der Professor hatte die Studentenschaft inzwischen völlig in seinen Bann gezogen. »Die Sieben dürfte den Muslimen zudem als eine besonders ›kosmische‹ Zahl vorgekommen sein, weil sie damals nur sieben Planeten kannten. Zu Mohammeds Lebzeiten konnten die Menschen mit dem bloßen Auge nur sieben bewegliche Himmelskörper ausmachen: die Sonne, den Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Diese Himmelskörper werden als die sieben klassischen Planeten bezeichnet. Auf diesen sieben ›Planeten‹ baut unsere Sieben-Tage-Woche auf. Die einzelnen Wochentage wurden damals entsprechend der klassischen Planeten benannt. Im Deutschen erinnert nur noch der Sonntag an diese antike Namensgebung, aber in den romanischen Sprachen – etwa im Französischen – kommen die Planeten auch heute noch deutlich in den Namen der Wochentage zum Ausdruck: Der Dienstag – auf Französisch mardi – geht auf den Mars zurück, der Mittwoch – mercredi – auf den Merkur und so weiter.
Auch in der Chemie spielte die Sieben eine wichtige Rolle. Zu Mohammeds Zeiten kannte man nur – Sie erraten es – sieben Metalle: Silber, Quecksilber, Kupfer, Gold, Eisen, Zinn und Blei. Darüber hinaus dürften den ersten Muslimen die Berichte über die sieben Weltwunder bekannt gewesen sein.«
Professor Sieling nahm sich ein Stück Kreide und begann, etwas an der Tafel aufzumalen. Währenddessen erklärte er: »Nicht nur im Islam spielt die Sieben eine wichtige Rolle, sondern auch in den anderen abrahamitischen Religionen.«
Zum großen Erstaunen aller hatte der Professor ein gänzlich unislamisches Symbol an die Tafel gemalt:

»Die Menora, das wichtigste Symbol des Judentums, ist ein Leuchter mit sieben Kerzen. Die Schöpfungsgeschichte, wie sie in der Bibel und in der Thora geschildert wird, dauerte sieben Tage. Und welcher davon ist der heilige Tag? Der siebte Tag, der Sabbat. Außerdem wurde das wichtigste Bauwerk der Juden, der Tempel Salomos in Jerusalem, nach biblischer Überlieferung innerhalb von sieben Jahren erbaut.«
Der Professor trat auf dem Podium wieder nach vorne. »Im Christentum begegnet uns die Zahl Sieben sogar noch weitaus häufiger. Die Bibel steckt voller Siebenen: In den Evangelien werden die sogenannten sieben letzten Worte vermittelt, die Jesus bei seiner Kreuzigung sprach. Jesus gibt sieben Gleichnisse vom Himmelreich und ruft dazu auf, siebzigmal siebenmal zu vergeben. Das Johannes-Evangelium enthält sieben Wunder Jesu und die sieben sogenannten Ich-bin-Sätze, in denen Jesus über seine eigene Heiligkeit spricht. Das Vaterunser hat im Matthäus-Evangelium sieben Bitten. Das Buch der Offenbarung enthält sieben Seligpreisungen und siebenmal wird der Name Jesus erwähnt. Außerdem begegnet uns dort das Buch mit sieben Siegeln. Darüber hinaus gibt es im Christentum sieben Sünden und sieben Tugenden, die sieben Sakramente in der katholischen Kirche und noch vieles mehr.« Der Professor holte kurz Luft und machte dann eine abwinkende Handbewegung.
»Sie verstehen, worauf ich hinauswill. Aber kommen wir zum Islam zurück. Ein besonders interessantes Beispiel für die islamische Sieben habe ich Ihnen vorenthalten: Die erste Sure des Korans, die Fātiḥa, besteht aus sieben Versen. Wie Sie wissen, wird im Mittelteil des islamischen Gebets immer die Fātiḥa zitiert, bevor danach die eigentliche Lesung bestimmter Koranverse folgt und der Betende sich verbeugt. Dieser Ablauf – die sogenannte Rakʿa – wird je nach Gebetszeit unterschiedlich oft wiederholt: Das Fadschr-Gebet besteht aus zwei, das Maghrib-Gebet aus drei, das Ẓuhr-, das ʿAṣr- und das ʿIschā-Gebet aus jeweils vier Rakʿas. Ein Muslim muss sich an einem Tag also insgesamt siebzehnmal verbeugen und die Eröffnungssure aufsagen, die aus sieben Versen besteht. Sieben und Siebzehn. Da ist sie wieder, unsere heilige Sieben!«
Professor Sieling lächelte in die Runde. »Wenn Sie das nächste Mal Lotto spielen, sollten Sie also besser nicht auf die Sieben und die Siebzehn setzen. Wenn Sie dann gewinnen würden, müssten Sie Ihren Gewinn wahrscheinlich mit vielen Muslimen teilen, die ebenfalls auf diese heiligen Zahlen getippt haben.«
Die Studenten lachten und applaudierten. Sie hatten gar nicht gemerkt, dass Professor Sieling die Vorlesungszeit überschritten hatte.
Kapitel 13
Kampel erwachte aus der Tiefe seiner Erinnerung. Er saß noch immer neben Lisa Albers im Auto, doch nun zitterten seine Hände.
»Die Sieben und die Siebzehn!«, rief er aus. »Das ist es!«
»Was ist damit?«, fragte Lisa, verwundert über Kampels plötzliche Eingebung.
»Diese Zahlen wurden von dem Autor des Gedichts nicht zufällig ausgewählt! Beide Zahlen enthalten die Sieben, die im Islam heilig ist. Zusammen prägen die Sieben und die Siebzehn die Fātiḥa, die Eröffnungssure des Korans: Sie besteht aus sieben Versen und wird von den Muslimen siebzehnmal am Tag aufgesagt.«
Kampel rezitierte die erste Sure auswendig, ohne in dem Koran vor sich nachschlagen zu müssen:
[1:1-7]
1 Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes.
2 Lob sei Gott, dem Herrn der Menschen in aller Welt,
3 dem Barmherzigen und Gnädigen,
4 der am Tag des Gerichts regiert!
5 Dir dienen wir, und dich bitten wir um Hilfe.
6 Führe uns den geraden Weg,
7 den Weg derer, denen du Gnade erwiesen hast, nicht den Weg derer, die deinem Zorn verfallen sind und irregehen!
Als Kampel geendet hatte, schoss ihm plötzlich noch etwas durch den Kopf. »Die Fātiḥa bezieht sich auf die Juden!«, rief er aufgeregt. »›Nicht den Weg derer, die deinem Zorn verfallen sind und irregehen‹«, zitierte er. »Damit sind die Juden gemeint. Sie sind es, die Gottes Zorn verfallen sind.«[35]
»Soll das heißen, dass sich Muslime mit dem Aufsagen der ersten Sure täglich siebzehnmal von den Juden abgrenzen?«
»Richtig«, erwiderte Kampel. »Und in welchem Vers steckt diese Abgrenzung? Im siebten Vers! Schon wieder die Sieben!«
Lisa schwieg einen Augenblick und überlegte. »Sie sagen, dass die Zahl Sieben im Islam eine besondere Bedeutung hat. Glauben Sie, deswegen ist das Gedicht in dem Anhänger ein Septenar?«
Kampel hatte keine Ahnung, wovon die Kommissarin sprach. »Ein Septenar? Was meinen Sie?«
»Das Versmaß in dem Gedicht ist ein Septenar«, erklärte Lisa. »Jede Zeile besteht aus sieben Versfüßen. Das ist mir schon beim ersten Lesen aufgefallen, denn das ist ein eher selten verwendetes Versmaß. Genau genommen ist das Gedicht nicht nur ein Septenar, sondern innerhalb der Zeilen auch noch jambisch, da die Silben abwechselnd unbetont und betont sind.« Kampel zollte der Kommissarin einen anerkennenden Blick. Sie fügte lachend hinzu: »Um ein Haar hätte ich Germanistik studiert.«
»An Ihnen ist eine Lyrikerin verloren gegangen«, sagte Kampel beeindruckt.
Er las sich noch einmal das Fitna-Gedicht durch und zählte dabei die Betonungen mit:
Es gibt nur einen Gott und Mohammed ist sein Prophet.
Und er will Tod für jeden, der die Schrift verfälscht zuhauf,
damit die Fitna hier im Dār al-Harb nicht mehr besteht.
Nun such’ aus Ost die Sieben und aus Süd die Siebzehn auf,
dort wo Berlin das Schicksal der verstoß’nen Affen sieht.
Und schließlich unterwirf dich, nur so nimmt es seinen Lauf.
»Es ist tatsächlich ein Septenar«, bestätigte Kampel erstaunt. »Die sieben Versfüße verweisen eindeutig auf die heilige Zahl Sieben.« Ein neuer Gedanke schoss ihm durch den Kopf. »Ich vermute, der Jambus innerhalb der Verse ist ebenfalls absichtlich gewählt. Das ständige Auf und Ab könnte den islamischen Dualismus symbolisieren.«
Lisa seufzte. »Jetzt bin ich wieder die Ahnungslose. Was ist dieser Dualismus?«
Kampel zögerte einen Moment. »Ich fürchte, ich kann Ihnen das auf die Schnelle nicht so leicht erklären. Lassen Sie mich zunächst nur sagen, dass der Islam von starken Gegensätzen geprägt ist: Der Islam unterscheidet zwischen halāl und harām – Erlaubtes und Verbotenes. Es gibt Gläubige und Ungläubige. Es gibt den Himmel und die Hölle. Es gibt das Dār al-Islām und das Dār al-Harb – das Haus des Islam und das Haus des Krieges. Sogar Mohammeds Offenbarungen sind zweigeteilt: Es gibt die sogenannten mekkanischen und die medinensischen Verse im Koran. Es gibt Koranverse, die zum Frieden aufrufen und andere, die den Heiligen Krieg fordern. Der Begriff Dualismus beschreibt, dass all diese Gegensätze im Islam gleichberechtigt nebeneinander existieren. Dieses Nebeneinander von Gegensätzen findet sich in dem jambischen Rhythmus der Fitna wieder: unbetont, betont.«
Als Kampel nun auf den Zettel in seiner Hand schaute, ergriff ihn Ehrfurcht. »Dieses Gedicht ist viel komplexer, als ich zunächst dachte«, sagte er. »Ich gebe es nur ungern zu, aber der Autor dieser Fitna ist ein intelligenter Gegenspieler.«
Lisa nickte. »Und er benutzt seine Fähigkeiten geschickt, um junge Leute für den Islamischen Staat zu rekrutieren.«
Junge Leute wie Dominik, fügte Kampel in Gedanken traurig hinzu. Sein Griff um den Anhänger Hand wurde fester. Diese Fitna würde ihm endlich Gewissheit darüber verschaffen, was genau mit Dominik passiert war. Er war fest entschlossen, der Glaubensprüfung bis zum Schluss zu folgen.
Kapitel 14
Der Dschinn achtete darauf, zwischen sich und Tariqs Mördern immer mindestens zwei Wagen Abstand zu lassen. Die beiden Unbekannten schienen noch nicht gemerkt zu haben, dass er ihnen folgte.
Er fragte sich, wohin sie fuhren. Jagten sie inzwischen der Fitna hinterher, die sie Tariq abgenommen hatten? Oder hatten sie ein völlig anderes Ziel?
Der Dschinn hatte keine Ahnung, wohin die Fitna Tariq hätte führen sollen. Er wusste nicht einmal, von wem die Prüfung stammte. Fitnas wurden über ein kompliziertes Netz von verschwiegenen Mittelsmännern weitergegeben, sodass der Autor einer Prüfung stets im Verborgenen blieb. Der Dschinn wusste lediglich, dass er die beiden Ungläubigen unter allen Umständen davon abhalten musste, der Fitna zu folgen. Es war Teil der Mission, auf die Gott ihn geschickt hatte.
Während der Dschinn sich den Kopf über Tariqs Fitna zerbrach, kam ihm seine eigene Fitna in den Sinn. Auch er hatte eine Glaubensprüfung ablegen müssen, um seine Überzeugung für den Heiligen Krieg unter Beweis zu stellen. Die Aufgaben, die ihm zugetragen wurden, waren vor allem praktischer Natur gewesen und nach und nach immer schwieriger geworden. Zunächst hatte er lediglich Munition für andere Mudschahidin besorgen sollen, später Waffen und irgendwann sogar Sprengstoff. Er hatte schnell durch seinen Eifer überzeugt und wurde schon bald damit beauftragt, selber Bomben zu bauen – und diese einzusetzen. Der Dschinn lächelte bei dem Gedanken an seine erste Sprengung. Noch heute sah er in seinen Träumen, wie die Kirche in dem irakischen Dorf explodierte. Es war ein wunderschöner Anblick gewesen.
Doch all das war nichts im Vergleich zu seiner letzten Prüfung. Er wusste immer noch, wie elektrisiert er damals gewesen war. Er war noch ein sehr junger Mann gewesen, viel jünger als heute … Damals in der irakischen Wüste …
Die Wüstensonne brannte erbarmungslos auf den Dschinn herab. Er war komplett in schwarz gekleidet und schwitzte unter der schweren Kutte. Nur durch einen schmalen Schlitz in dem Gewand konnte er das Stativ mit der Kamera vor sich sehen. Hinter der Kamera standen zwei seiner Glaubensbrüder. Sie würden gleich erkennen, ob es dem Dschinn mit der Sache Gottes wirklich ernst war. Ob er ein echter Mudschahid werden würde.
Der Blick des Dschinn wanderte nach unten zu seiner letzten Prüfung. Vor ihm kniete ein Mann in einem orangenen Overall in dem heißen Wüstensand. Die Hände waren ihm auf dem Rücken zusammengebunden. Seinem ausgezehrten Gesicht war abzulesen, dass er erschöpft war und schon lange kein Wasser mehr bekommen hatte. Der Mann schwitzte wie ein ekelhaftes Schwein. Er ist äußerlich genau so unrein wie innerlich, dachte der Dschinn grimmig.
Die beiden Männer hinter der Kamera kontrollierten noch einmal die Einstellung und gaben dem Dschinn dann mit einem stummen Nicken das Signal zu beginnen.
Der Dschinn baute sich vor der Kamera auf und sprach den Text, den er auswendig gelernt hatte. Er zitierte aus dem Koran:
[8:12] […] Ich werde denjenigen, die ungläubig sind, Schrecken einjagen. Haut ihnen mit dem Schwert auf den Nacken und schlagt zu auf jeden Finger von ihnen!
Der Dschinn war zufrieden mit dem sicheren Klang seiner Stimme. Er hatte diese Worte immer wieder geübt und er sprach sie voller Überzeugung.
[8:13-14] Das wird ihre Strafe dafür sein, dass sie gegen Gott und seinen Gesandten Opposition getrieben haben. Wenn jemand gegen Gott und seinen Gesandten Opposition treibt, muss er dafür büßen. Gott verhängt schwere Strafen. So steht es mit euch. Nun bekommt ihr es zu spüren. […]
Als der Dschinn zu Ende gesprochen hatte, nickten die beiden Mudschahidin erneut. Der Moment war gekommen. Die letzte Glaubensprüfung.
Der Dschinn trat an den knieenden Mann heran und setzte ihm das Messer an die Kehle. Der Mann hatte die Augen geschlossen und wimmerte wie ein dreckiger Hund.
Der Dschinn zitierte noch einmal aus dem Koran:
[47:4] Wenn ihr mit den Ungläubigen zusammentrefft, dann haut ihnen mit dem Schwert auf den Nacken! […]
Dann schnitt er dem Ungläubigen die Kehle durch.
Der Mann fiel vornüber in den Sand und zappelte. Das Blut lief ihm langsam aus dem Hals. Sein Todeskampf war lang und qualvoll.
Der Dschinn fühlte sich bei diesem Anblick unbesiegbar. Er empfand kein Mitleid. Der Mann hatte Gottes gerechte Strafe empfangen.
Die Mudschahidin hinter der Kamera lächelten und nickten. Der Dschinn war nun einer von ihnen.
Ein Telefonklingeln riss den Dschinn aus seinen Gedanken. Er ging sofort ran.
»Wir haben ein Problem«, tönte Raschids Stimme über die Freisprechanlage. »Das Haus, zu dem Tariqs Leiche geschafft wurde, gehört Paul Kampel. Hast du schon mal von ihm gehört?«
»Nein, sollte ich?«
Raschid zögerte. »Er ist ein Religionswissenschaftler. Er hat zahlreiche Bücher über den Islam geschrieben, die meisten davon über den Heiligen Krieg.«
Dem Dschinn verschlug es die Sprache. Dieser drahtige Mann mit der Brille war ein Religionswissenschaftler? Das war schlecht. Äußerst schlecht.
»Dieser Kampel arbeitet nicht alleine«, sagte der Dschinn. »Ich verfolge ihn gerade. Er fährt zusammen mit einer blonden Frau Richtung Innenstadt.«
»Eine Frau?« Raschid sog überrascht die Luft ein.
»Ja, eine verdammte Frau! Du musst für mich herausfinden, wer sie ist. Hast du etwas über den Kleintransporter herausbekommen, in dem Tariqs Leiche weggeschafft wurde? Gehört der ihr oder diesem Kampel?«
»Das kann ich nicht sagen«, sagte Raschid. »Ich habe alles versucht, aber ich konnte das Nummernschild niemandem zuordnen. Es ist ein Leihwagen von einem kleinen Autovermieter, der kein Verzeichnis über seine Kunden führt.«
»Wir müssen wissen, wer sie ist!«
»Dann gib mir etwas, mit dem ich arbeiten kann. Ein Foto von ihr, einen Ausweis, irgendwas.«
Der Dschinn griff instinktiv nach dem Messer in seiner Jacke. »Ich arbeite daran«, sagte er düster.
Raschids Stimme tönte aufgebracht durch die Freisprechanlage: »Hör zu, wenn es einen Ungläubigen gibt, der dieser Fitna folgen kann, dann dieser Paul Kampel! Du musst ihm den Anhänger abnehmen, koste es, was es wolle! Die ganze Mission hängt davon ab!«
Der Dschinn hasste es, wenn er zurechtgewiesen wurde. Vor allem von Raschid. »Ich weiß!«, knurrte er. »Ich rufe dich an, wenn es etwas Neues gibt.« Mit einem Knopfdruck beendete er das Gespräch.
Er atmete einen Moment durch und schlug dann vor Wut auf das Lenkrad. Diese Mission entwickelte sich ganz und gar nicht nach Plan. Die Sache Gottes war in großer Gefahr!
Kapitel 15
Lisa hielt einen Augenblick inne, um das gigantische Bauwerk, vor dem sie und Kampel standen, in sich aufzunehmen. Sie war schon häufig am Denkmal für die ermordeten Juden Europas gewesen, doch noch immer war sie von der schieren Größe des Mahnmals beeindruckt. Auf der Fläche eines gesamten Häuserblocks ragten über 2700 viereckige Steinblöcke aus dem Boden, die in regelmäßigem Abstand zueinander aufgestellt waren. Die Steinblöcke hatten allesamt den gleichen Grundriss, waren jedoch unterschiedlich hoch. Am Rand des Denkmals reichten die Steine nur bis auf Kniehöhe und wurden nach innen hin immer höher, die größten Blöcke erreichten dort 4,7 Meter.
Kampel lehnte sich an den Wagen, den die Kommissarin am südlichen Ende des Denkmals geparkt hatte, und las erneut den Zettel mit dem Fitna-Gedicht.
»Ich habe immer noch keine Idee, wohin wir genau müssen.« Frustriert deutete er auf das graue Meer von Steinblöcken, das sich vor ihnen erstreckte. »Was wir suchen, könnte hier überall sein!«
»Wenn unser Ziel überhaupt in dem Denkmal ist …«, murmelte Lisa. Vielleicht mussten sie gar nicht in das Mahnmal hinein, sondern von hier aus zu einem anderen Punkt? Ihr Blick wanderte über den Horizont. Sie und Kampel standen am südlichen Rand des Denkmals und blickten nach Norden. Links von ihnen, im Westen, begann der Große Tiergarten, ein öffentlicher Park, der vor allem bei Radfahrern und Hundebesitzern beliebt war. Über den Baumkronen des Großen Tiergartens konnte Lisa die Glaskuppel des Deutschen Bundestages erkennen. Das deutsche Parlament war nur wenige hundert Meter vom Holocaust-Mahnmal entfernt. Lisas Blick wanderte nach rechts, über ein paar graue Gebäude hinweg zum Berliner Fernsehturm, der wie eine rot angeleuchtete, spitze Nadel in den Nachthimmel über Ostberlin stach.
Ostberlin … Lisa hielt überrascht inne. Aus Ost die Sieben!
»Ich glaube, ich weiß, wo wir hinmüssen!«, sagte sie aufgeregt. »›Nun such’ aus Ost die Sieben und aus Süd die Siebzehn auf‹: Diese Anweisung ist eine Art Koordinate!« Sie deutete auf die unzähligen grauen Steinblöcke, die sich vor ihr und Kampel erhoben. »Das Gedicht schickt uns zu einem bestimmten Stein. Wir müssen den siebten Steinblock aus östlicher Richtung und den siebzehnten Steinblock aus südlicher Richtung des Denkmals finden!«
Kampel erkannte sofort, dass Lisa Albers recht haben musste. Er nickte.
Gemeinsam gingen sie nach rechts zur südöstlichen Ecke des Mahnmals. Die Steinblöcke waren dort allesamt flach, die kleinsten reichten ihnen nur bis zu den Knien.
Lisa trat zu einem steinernen Rechteck, das am östlichen Rand des Denkmals in den Boden eingelassen war und bis in den Bürgersteig hineinreichte, der um das Gelände verlief. »Dieses Rechteck ist zwar im Boden eingelassen, zählt aber trotzdem strenggenommen als ein Steinblock im Denkmal. Um das ganze Denkmal herum gibt es über hundert dieser ›ebenerdigen‹ Blöcke.« Sie schaute sich auf dem Bürgersteig um. »Ich sehe keine anderen dieser Rechtecke in der Nähe. Das hier muss also der östlichste Steinblock des ganzen Denkmals sein.«
Kampel nickte. »Wenn ich das richtig verstehe, gehen wir von hier aus nach Westen, zum siebten Steinblock in dieser Reihe.« Er deutete ins Innere des Holocaust-Mahnmals. »Von dort suchen wir dann den siebzehnten Stein aus Süden, richtig?«
»Sie haben es erfasst«, sagte Lisa. »Kommen Sie!« Mit schnellem Schritt ging sie in das Meer aus Beton.
Kampel folgte ihr aufgeregt. Womöglich würde er in wenigen Augenblicken herausfinden, wer für Dominiks Verschwinden verantwortlich war.
Kapitel 16
Der Dschinn stand auf dem Bürgersteig und beobachtete, wie der Religionswissenschaftler und die blonde Frau ins Innere des Holocaust-Mahnmals vordrangen.
Hat die Fitna sie hierhergeführt?
Beim Anblick des Denkmals schüttelte es den Dschinn. Er hatte eine Art Hassliebe für das Bauwerk: Auf der einen Seite widerte es ihn an, dass auf einer derart riesigen Fläche den Verachtenswertesten unter den Ungläubigen gedacht wurde. Auf der anderen Seite erinnerte es ihn mit Freuden daran, dass Gott so viele von ihnen in den Tod geschickt hatte. Der Dschinn war sich sicher, dass jeder einzelne Jude sein Schicksal verdient hatte. Denn der Koran verkündete:
[5:64] […] Und sie [die Juden] sind überall im Land auf Unheil bedacht. Aber Gott liebt die nicht, die Unheil anrichten.
Der Dschinn rief sich seine Mission zurück ins Gedächtnis. Jetzt ging es um den Anhänger. Er musste ihn um jeden Preis zurückbekommen.
Er schaute sich auf dem Bürgersteig um. Niemand beobachtete ihn. Er bückte sich zu dem Wagen der beiden Ungläubigen hinunter und tat so, als würde er den Luftdruck des Vorderreifens inspizieren. Blitzschnell griff er nach dem Messer in seiner Tasche und rammte es in den Reifen. In wenigen Minuten würde die Luft aus ihm entwichen sein.
Der Dschinn richtete sich wieder auf. Er sah gerade noch, wie der Religionswissenschaftler und die blonde Frau zwischen den immer höher werdenden Steinblöcken im Denkmal verschwanden. Er lächelte. Je tiefer die beiden in das Denkmal gingen, desto einfacher würde er sie erledigen können.
Ihr werdet dort nicht lebend herauskommen.
Kapitel 17
Lisas blonder Pferdeschwanz schwang herum, als sie sich zu Kampel umdrehte. »Das ist der siebte Stein aus Osten«, sagte Lisa und deutete auf einen Block vor ihr, der sie ein gutes Stück überragte. Sie streckte ihre Arme links und rechts von sich, sodass sie nach Norden und Süden zeigten. »Jetzt suchen wir den siebzehnten Stein in der Nord-Süd-Reihe. Wir gehen also zum südlichen Rand und dann in dieser Reihe siebzehn Steine nach Norden. Das muss dann der siebzehnte Stein aus Süden sein.«
Kampel nickte. Sie bogen nach links ab und folgten der Reihe, bis sie den südlichsten Steinblock am Rand des Holocaust-Mahnmals erreicht hatten. Dann gingen sie auf gleichem Wege zurück. »Eins, zwei, drei …«, zählte die Kommissarin leise flüsternd die grauen Blöcke ab.
Während sie in das Innere des Denkmals vordrangen, kamen sie an ein paar Jugendlichen vorbei, die auf den Steinen saßen, miteinander redeten und an ihren Handys spielten. Weiter vorne sahen sie Kinder lachend zwischen den Blöcken hin- und herhuschen. Scheinbar spielten sie Fangen. Beim Anblick der vielen glücklichen Menschen um ihn herum musste Kampel an den ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder denken. Schröder hatte bei der Eröffnung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas gesagt, das Mahnmal solle ein Ort sein, »an den man gerne hingeht«. Diese Bemerkung hatte damals für viel Unmut gesorgt, aber letztlich hatte sich Schröders Wunsch erfüllt: Das Denkmal hatte sich seinen Platz im Alltag vieler Berliner erarbeitet und gehörte heute zu den meistbesuchten Attraktionen der Stadt.
Je weiter Kampel und Lisa in das Mahnmal hineingingen, desto höher wurden die Steinblöcke links und rechts von ihnen. Gleichzeitig schienen sie selbst immer kleiner zu werden. Diese Illusion beruhte darauf, dass sie kaum merklich bergab gingen – die Grundfläche des Denkmals war wie ein Tal geformt und lag in der Mitte unter dem Niveau der umgebenden Straßen. Kampel überkam angesichts der wachsenden Steinblöcke um ihn herum eine leichte Beklemmung. Noch dazu war es stockdunkel im Denkmal. Auf dem schmalen, nur einen Meter breiten Weg zwischen den tristen, grauen Steinen war ihm, als wäre er bei lebendigem Leib in einem Meer aus Beton vergraben worden. Wahrscheinlich war dies genau der Effekt, den der Architekt des Denkmals erzielen wollte, um auf das Schicksal der sechs Millionen im Holocaust getöteten Juden hinzuweisen.
Lisa blieb abrupt stehen. »Siebzehn«, sagte sie und klopfte mit der flachen Hand auf einen Steinblock links von ihr. »Das muss der Stein sein, den wir suchen: der siebte aus Osten und der siebzehnte aus Süden.«
Kampel musterte den Steinblock von oben bis unten. Er war etwa drei Meter hoch und unterschied sich äußerlich nicht von den anderen Blöcken im Denkmal.
»Er sieht aus wie jeder andere«, meinte er.
»Untersuchen wir die anderen Seiten«, schlug Lisa vor und fing an, um den Steinblock herumzugehen. Kampel folgte ihr. Gemeinsam untersuchten sie aufmerksam jede der vier Seiten des Quaders.
Als sie die vierte Seite erreichten, deutete die Polizistin aufgeregt nach oben. »Schauen Sie! Da ist ein Riss im Stein!«
»Das ist nichts Besonderes«, meinte Kampel enttäuscht. »Fast alle Steinblöcke in diesem Denkmal haben einen Riss. Die Risse entstehen, weil bei vielen Steinen eine Seite durch die Sonneneinstrahlung sehr warm wird, während die andere kühl bleibt. Da die Blöcke innen hohl sind – man wollte so die Baukosten des Denkmals senken –, verformt sich das Material ziemlich leicht.«
Kampel hatte gelesen, dass im Jahr 2014 – 9 Jahre nach Eröffnung des Denkmals – schon über 2200 der 2700 Steine von Rissen durchzogen gewesen waren. Um die Steine am Aufplatzen zu hindern, waren an einigen Blöcken stählerne Manschetten quer über den Rissen angebracht worden. Kampel bezeichnete diese Manschetten gerne als »Metallpflaster«.
Erneut ging Lisa mit prüfendem Blick um den Stein herum. »Der Autor der Fitna muss hier irgendetwas platziert haben! Vielleicht ein Graffiti oder so etwas!«
»Das könnte sein«, murmelte Kampel. »Die Steinblöcke im Denkmal sind zwar mit einem Anti-Graffiti-Schutz beschichtet, aber der erleichtert es nur, Graffitis zu entfernen. Die Steine sind dennoch besprühbar.«
Kampel musste schlucken. Ihm kam eine besonders makabere Eigenheit des Holocaust-Mahnmals in den Sinn: Der Anti-Graffiti-Schutz für die Steinblöcke war von einem deutschen Unternehmen hergestellt worden, dessen Tochterfirma das Giftgas Zyklon B hergestellt hatte, mit dem die Juden in den Konzentrationslagern vernichtet worden waren.[36]
Lisa fand nichts. Sie wurde ungeduldig. »Vielleicht sind wir am falschen Stein«, überlegte sie laut. »Möglicherweise haben wir uns verzählt.«
Kampel fand diese Erklärung unbefriedigend. »Ich weiß nicht …«
»Suchen Sie hier weiter«, unterbrach sie ihn. »Ich gehe zurück zur südöstlichen Ecke des Denkmals und zähle die Steine noch einmal durch.«
Kampel zeigte sich einverstanden und blieb an dem Steinblock zurück, während die Kommissarin sich umdrehte und zurück an den Rand des Mahnmals ging.
Nun komm schon, Lisa, du musst den richtigen Stein finden, feuerte sie sich selbst an, während sie dem schmalen Weg durch das Meer aus Betonblöcken folgte. Sie schluckte. Wenn sie es nicht schaffen würde, den Mann hinter der Fitna zu schnappen, würde man sie wegen ihren nicht-angewiesenen Ermittlungen in diesem Fall sofort suspendieren. Wenn sie ihren Vorgesetzten jedoch den Autor der Fitna liefern könnte … Ihr Name wäre sofort wieder reingewaschen. Lisa und ihre Kollegen hatten schon lange nach dem Fitna-Autor gesucht, doch sie waren nie fündig geworden. Dem Verfassungsschutz zufolge hatte die »islamistische Szene Deutschlands« schon im Jahr 2016 aus 24.400 Personen bestanden, davon galten fast 1.900 als »terroristisches Personenpotenzial«.[37] Wenn Lisa den Mann hinter dieser Fitna ergreifen könnte, würde sie der gesamten Szene einen empfindlichen Schlag versetzen.
Lisa war so in ihre Gedanken versunken, dass sie nicht schnell genug reagieren konnte.
Jemand packte sie von hinten und presste ihr eine Hand über den Mund. Der Angreifer bohrte ihr etwas Kaltes, Metallisches in den Rücken. Sie erkannte den Gegenstand – es war eine Pistole.
»Hören Sie gut zu, Kāfirah!«, flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr. In dieser Stimme lag ein heißes Feuer, das ihr Ohr zu versengen schien. »Ein Ton und ich bringe Sie um!«
Kapitel 18
Kampel stand noch immer vor dem Steinblock und überlegte. Warum hatte das Gedicht in dem Anhänger ihn hierhergeführt? Was sollte er hier finden?
Er war immer wieder um den Stein herumgegangen und hatte ihn mit den Augen abgesucht. Auch ein Abtasten und Abklopfen des Blocks auf eventuelle Hohlräume hatte nichts ergeben.
Das bringt alles nichts, dachte Kampel verärgert. Hohlräume, Geheimfächer, eingelassene Platten – ich bin doch nicht Indiana Jones!
Die Lösung musste in dem Gedicht stecken. Kampel rief sich noch einmal den rätselhaften Text ins Gedächtnis. Die letzten drei Zeilen schienen die entscheidenden Anweisungen zu geben: Kampel war dorthin gegangen, »wo Berlin das Schicksal der verstoß’nen Affen sieht« – zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Hier hatte er »aus Ost die Sieben und aus Süd die Siebzehn« aufgesucht – den Steinblock, vor dem er nun stand. Aber was hatte die letzte Zeile des Gedichts zu bedeuten? »Und schließlich unterwirf dich, nur so nimmt es seinen Lauf.« Irgendetwas in dieser letzten Zeile musste ihm entgangen sein. Er ließ sich die Worte wieder und wieder durch den Kopf gehen.
Unterwirf dich …
Der Autor der Fitna hatte das Wort unterwerfen in dem Gedicht bestimmt nicht zufällig gewählt. Der Gedanke der Unterwerfung war im Islam stets präsent und hatte der Religion sogar ihren Namen gegeben. Gott selbst bezeichnete die Muslime im Koran immer wieder als seine »Diener«, da sie sich seinen Gesetzen streng unterwerfen mussten.[38] Beinahe jede Lebenssituationen der Gläubigen wurde vom Islam geregelt: So gibt es beispielsweise ein ganzes Buch mit Hadithen darüber, wie Muslime mit Fundgegenständen umgehen sollen.[39] Andere Hadith-Bücher regeln die Verteilung von Wasser, den Umgang mit Geschenken, die Auswahl von Kleidung und die Art und Weise, wie jemand begrüßt wird.[40] Die islamische Regelungswut nimmt mitunter bizarre Formen an, wie Kampel in seinen Vorträgen häufig an einem besonders absurden Beispiel illustrierte: Mohammed legte in mehreren Hadithen fest, dass ein Gebet von Gott nicht angenommen wird, wenn der Betende dabei seine Flatulenzen nicht unterdrücken kann.[41] Ein junger Student in Kampels Publikum hatte diese Regel einmal treffend auf den Punkt gebracht: »Wenn es in der Moschee plötzlich stinkt, muss jemand sein Gebet wiederholen.«
Kampels Gedanken wanderten weiter zum Gebet. Er war immer wieder erstaunt, wenn er sich mit den zahlreichen islamischen Vorgaben zum Beten befasste. Während das Gebet in vielen anderen Religionen häufig eine eher unorganisierte Angelegenheit war – einige Christen beteten beispielsweise bei Tisch, andere vor dem Zubettgehen, andere nur zur sonntäglichen Messe und wieder andere so gut wie gar nicht –, war das islamische Gebet streng geregelt. Ein Muslim musste fünfmal täglich zu festgelegten Zeiten beten: vor dem Sonnenaufgang, mittags, nachmittags, bei Sonnenuntergang und bei Einbruch der Nacht. Das Gebet griff damit tief in den Alltag der Muslime ein. Auch der eigentliche Gebetsablauf war im Islam haarklein festgelegt: Jede Bewegung und jedes Wort folgten einer genau vorgeschriebenen Reihenfolge. Schon allein die tiefen Verbeugungen während des Gebets waren ein deutlich sichtbares Zeichen für die Unterwerfung der Muslime unter Gott. Wegen der betenden Körperhaltung hatte das islamische Gebet seinen Namen erhalten – Salāt, was so viel wie beugen oder krümmen hieß.
Und schließlich unterwirf dich, nur so nimmt es seinen Lauf …
Kampel kam ein surrealer Gedanke. Verlangte das Gedicht womöglich, dass er sich im wahrsten Sinne des Wortes unterwarf – also betete?
Er schaute sich um. Musste er tatsächlich hier, mitten im Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das islamische Gebet vollführen? Würde er dadurch irgendetwas Neues erkennen?
Kampel zuckte mit den Schultern. Es erschien ihm albern, aber bis die Kommissarin zurückkam, konnte er sowieso nichts anderes tun. Und bisher waren alle seine Versuche, dem Steinblock vor ihm etwas zu entlocken, erfolglos geblieben. Er war bereit, jede noch so winzige Chance zu ergreifen, die ihn zu dem Mann führen könnte, der aus Dominik einen Dschihadisten gemacht hatte.
Kampel sah sich verstohlen nach links und rechts um. Er war allein. Alles was er hörte, war das Freudengeschrei der Kinder, die in der Nähe Fangen spielten.
Dann beten wir mal eine Runde. Wenn mich meine Leser so sehen könnten …
Kampel dachte über die verschiedenen Gebetsphasen nach. Vor dem Gebet erfolgte normalerweise der Gebetsruf des Muezzin, der Adhān, der im sunnitischen Islam aus sieben Sätzen bestand. Schon wieder die Sieben, dachte Kampel elektrisiert. Nach dem Gebetsruf betraten die Muslime die Moschee und reinigten sich durch das Waschen der Füße von ihren Sünden. Kampel würde auf beides verzichten müssen – er hatte weder einen Muezzin, der ihn zum Gebet rief, noch Wasser, um sich die Füße zu waschen.
Was dann? Wenn die Muslime die Moschee betreten hatten, erfolgte das eigentliche Gebet. Diese Schritte konnte Kampel problemlos nachahmen. Er legte den dicken Koran, den er noch immer bei sich trug, auf den Boden, um die Hände freizuhaben. Dann hob er seine Arme bis zu den Ohren und trat damit in den Weihezustand ein. Normalerweise müsste er jetzt noch die Worte Allāhu akbar sprechen, aber nach kurzem Zögern verzichtete er lieber darauf. Kampel wusste, dass die meisten Leute den Ruf Allāhu akbar nicht mit Betenden, sondern mit Terroristen in Verbindung brachten. Auch über die Bedeutung des Rufs bestanden in der Öffentlichkeit häufig falsche Vorstellungen: Allāhu akbar bedeutete nicht »Gott ist groß«, wie es mitunter fälschlicherweise übersetzt wurde, sondern »Gott ist größer als alles andere« oder »Gott ist am allergrößten«. Die Muslime bekannten sich mit diesem Ausspruch zum islamischen Monotheismus und zum Islam als »einzig wahrer Religion«.
Kampel folgte dem vorgeschriebenen Gebetsablauf und ging zur ersten Rak’a über. Zunächst zitierte er die Eröffnungssure des Korans.
Die Sure mit sieben Versen …
Dann verbeugte er sich, sodass seine Hände auf Kniehöhe baumelten und blieb einen Moment lang in dieser Haltung, bis er sich wieder aufrichtete. Nun folgte das erste Sudschūd, die erste Niederwerfung.
Unterwirf dich, nur so nimmt es seinen Lauf …
Kampel fiel auf die Knie. Eigentlich hätte er nun wieder Allāhu akbar sagen müssen, aber erneut verzichtete er darauf. Er beugte seinen Oberkörper weit nach vorne, bis seine Stirn den harten Steinboden berührte. Seine Zehen, Knie, Handflächen und die Stirn lagen nun auf dem Boden.
Die maximale Unterwerfung …
Dann folgte der Abschluss. Kampel richtete seinen Oberkörper wieder auf und legte die Hände auf die Knie.
Gespannt wartete er darauf, dass etwas passierte.
Es passierte natürlich nichts.
Kampel kam sich unheimlich dämlich vor. Er hatte von seiner kleinen Choreografie keine neuen Erkenntnisse gewonnen. Weder hatte er eine Erleuchtung gehabt, noch hatte sich der Steinblock vor ihm in irgendeiner Art und Weise verändert.
Was habe ich auch erwartet?, fragte sich Kampel säuerlich. Da sitze ich mitten im Denkmal für die ermordeten Juden Europas und vollführe das islamische Gebet bis ins Detail! Völlig absurd!
Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er hatte das Ritualgebet nicht detailgetreu ausgeführt. Er hatte etwas Wichtiges vergessen: die Richtung. Muslime vollführten das Ritualgebet immer mit Blickrichtung Mekka.
Kampel stand auf und seufzte. Dann beten wir eben nochmal, aber diesmal in Richtung Mekka. Er lachte leise. Die ganze Situation kam ihm inzwischen irgendwie komisch vor.
Er ging um den Steinblock herum und stellte sich an dessen nordöstliche Ecke, die in Richtung des deutschen Bundestages zeigte. Dann blickte er den Steinblock an. Er schaute nun nach Südosten und damit etwa in Richtung Mekka. Süd und Ost, schoss es ihm durch den Kopf. Genau die beiden Richtungen, die auch in dem Gedicht erwähnt wurden.
Wie zuvor hob Kampel seine beiden Arme in Kopfhöhe, verbeugte sich, richtete sich wieder auf und fiel dann auf die Knie. Er legte seine Hände auf den Boden und beugte sich nach vorne, bis seine Stirn den kalten Steinboden berührte.
Und plötzlich sah er es.
Die schmalen Gehwege im Holocaust-Mahnmal bestanden aus quadratischen Ziegelsteinen, zwischen deren Lücken jeweils ein Streifen Kies geschüttet worden war. Als Kampel sich nach vorne gebeugt hatte, waren seine Augen genau über einem der Ziegelsteine im Boden zum Stehen gekommen. Aus dieser Distanz sah er etwas, was ihm in der winterlichen Dunkelheit völlig entgangen war. Auf den Ziegel war mit schwacher, grauer Farbe, die sich kaum von dem Stein abhob, ein Symbol aufgesprüht:

So ein Symbol ist auch unter dem Gedicht, dachte Kampel erschrocken. Schnell kramte er nach dem Fitna-Anhänger in seiner Tasche, öffnete ihn und holte den Zettel daraus hervor. Er studierte das Symbol auf dem Zettel:

Kampel verglich das Symbol unter dem rätselhaften Text mit dem Symbol auf dem Ziegelstein. Die beiden Symbole waren ähnlich, aber doch unterschiedlich. Vielleicht muss ich sie zusammensetzen?
Kampel faltete den Zettel mit dem Gedicht so, dass er nur noch das Symbol darauf sehen konnte. Dann hielt er den Zettel neben den Ziegelstein. Zusammen ergaben die beiden Zeichen ein neues Bild:

Kampel wusste, was er vor sich hatte. Dieses kryptisch aussehende Muster war ein verfremdeter QR-Code. QR-Codes konnten von Smartphones ausgelesen werden und verwiesen auf Internetseiten oder offenbarten bestimmte Texte. Technisch funktionierten diese Bilder ähnlich wie die Strichcodes im Supermarkt.
Kampel war froh, dass er sich von seinem Verleger dazu hatte überreden lassen, sich ein modernes Smartphone zu kaufen. Er zog das Gerät aus seiner Hosentasche und öffnete mit ein paar Wischbewegungen das Programm zum Scannen von QR-Codes. Gespannt hielt er das Gerät über den Ziegelstein, sodass die Handykamera den Code im Visier hatte.
Das Smartphone in seiner Hand vibrierte kurz. Auf dem Display öffnete sich der Webbrowser. Als sich die Internetseite aufgebaut hatte, lächelte Kampel. Er hatte es geschafft. Das muss ich sofort Kommissarin Albers erzählen!
Kampel richtete sich auf, als Lisa Albers um die Ecke eines Steinblocks kam. Er wollte ihr bereits von seinem Fund berichten, doch dann schreckte er zusammen.
Die Kommissarin war nicht allein. Hinter ihr stand ein großer, schlanker Mann mit dunklem Teint und langen, arabisch aussehenden Gesichtszügen. Seine Augen schienen selbst in der Dunkelheit zwischen den Steinen hasserfüllt zu glühen.
Der Mann bohrte Lisa eine Pistole mit einem Schalldämpfer tief in den Rücken. »Geben Sie mir den Anhänger und ich mache es kurz und schmerzlos!«
Kapitel 19
Am anderen Ende der Stadt starrte ein Jugendlicher in einem Klassenzimmer konzentriert auf ein Becherglas. Die bläuliche Flüssigkeit in dem Gefäß wurde von einem Bunsenbrenner erhitzt. Dann zischte es. Die Flüssigkeit hatte sich von einem Moment auf den anderen verflüchtigt. Nur noch Salz war in dem Glas zurückgeblieben. Das Wasser war vollständig verdampft.
Der Jugendliche war sprachlos. »Ich … Ich hab’s geschafft!«, sagte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
»Bravo!«, rief sein Lehrer und klatsche dabei in die Hände. Er war ein korpulenter Mann mit einem kugelrunden Gesicht, schwarzen Haaren und einem gepflegten, schwarzen Bart. »Ich wusste doch, dass dir das Eindampfexperiment gelingen wird. Wenn du es in der Prüfung genauso machst, bekommst du ganz bestimmt eine gute Note.« Der Lehrer klopfte seinem Schüler auf die Schulter. »So schwer war das doch gar nicht, oder?«
»Nein eigentlich nicht«, lachte der Jugendliche mit gespieltem Übermut und strahlte den Lehrer an. »War doch klar, dass ich das schaffe!«
Der Lehrer lächelte zurück. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er schaute auf seine Uhr. »Jetzt müssen wir aber wirklich Schluss machen für heute. Ich muss gleich los.«
Der Lehrer sammelte die verschiedenen Reagenzgläser auf dem Tisch ein und trug sie zum Experimentierschrank am Rand des Klassenzimmers. »Ich packe die Sachen hier alleine zusammen. Geh nach Hause, Yasin.«
Yasin seufzte, so als wäre er gerade aus einem angenehmen Traum geweckt worden. Langsam schlurfte er zu dem, was er als seine »Schultasche« bezeichnete – eine Einkaufstüte aus dem Supermarkt, in der sich lediglich ein Kuli und ein paar lose Zettel befanden. Nicht einmal etwas zu Essen hatten ihm seine Eltern mitgegeben.
Der Lehrer wurde traurig, als er merkte, wie niedergeschlagen Yasin sich auf den Heimweg machte. Sanft fragte er: »Gibt es zu Hause wieder Probleme? Ist es wegen deinem Vater?«
Der junge Schüler schaute traurig zu Boden und nickte.
»Das tut mir wirklich leid …« Der Lehrer ging auf Yasin zu und berührte ihn am Arm. »Wenn du jemanden zum Reden brauchst, bin ich immer für dich da. Du weißt, wo wir uns ungestört unterhalten können …« Eine Pause entstand. Leise setzte er hinzu: »Du liegst Gott sehr am Herzen, Yasin. Und mir auch.«
Als der Jugendliche das hörte, kehrte das Strahlen in sein Gesicht zurück. »Danke, Murrabi.«
Der Lehrer lächelte. Er mochte es, wenn seine Schüler ihn mit seinem Spitznamen anredeten: Murrabi. »Wir sehen uns also zum Freitagsgebet?«
»Ja, natürlich!«, sagte Yasin. »Darauf freue ich mich schon die ganze Woche!«
»Sehr schön. Aber denk daran, was wir besprochen haben.« Der Murrabi legte einen Finger auf seine Lippen und zwinkerte schelmisch. »Das Freitagsgebet ist unser kleines Geheimnis. Erzähl niemandem davon. Die anderen würden nur neidisch werden. Und verstehen würden sie es sowieso nicht – Gott hat ihnen das Herz versiegelt.«
»Ja, Murrabi«, sagte der junge Schüler freudestrahlend und zwinkerte verschwörerisch zurück. »Ich verrate keinem was.«
»Gut. Dann bis Freitag in der Moschee.« Der Murrabi gab Yasin die Hand, schaute ihm eindringlich in die Augen und sprach feierlich: »Fi Amanillah.«
»Fi Amanillah«, wiederholte Yasin ehrfürchtig. Möge Gott dich beschützen. Er warf sich die Supermarkttüte auf den Rücken, winkte noch einmal und ging dann aufgeregt aus dem Klassenzimmer.
Der Lehrer begann, die benutzten Reagenzgläser auszuwaschen. Als er die vielen Gerätschaften vor sich sah, seufzte er. Die teure Chemieausrüstung war eine der vielen Anschaffungen gewesen, mit denen der Direktor den miserablen Ruf der Schule hatte verbessern wollen.
Weit über 90 Prozent der Schüler, die hier zur Schule gingen, waren Ausländer. Der Murrabi wusste, dass sich die Schülerschaft in vielen anderen Berliner Schulen ähnlich zusammensetzte: Als er den Lehrerberuf im Jahr 2005 angetreten hatte, hatte es in Berlin schon 38 Schulen mit einem Ausländeranteil von mehr als 80 Prozent gegeben.[42] Er kannte keine aktuellen Zahlen, aber er ging fest davon aus, dass die Anzahl solcher Schulen in denen letzten Jahren noch weiter gewachsen war.
An dieser Schule sprachen die Schüler bei ihrer Einschulung häufig nicht richtig Deutsch, wodurch der Chemieunterricht des Murrabi schon einige Male zum Deutschunterricht geraten war. Über die Sprachschwierigkeiten wunderte er sich angesichts des Stadtteils kaum: Hier in Neukölln-Nord hatten 53 Prozent aller Einwohner einen Migrationshintergrund, bei den Minderjährigen waren es sogar 80 Prozent.[43]
Je schlechter die Schüler Deutsch sprachen, desto besser beherrschten sie die universelle Sprache der Gewalt. Beinahe täglich kam es zu Konflikten, besonders häufig zwischen Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft. Die Auseinandersetzungen hatten sich in den letzten Jahren soweit verschärft, dass inzwischen ein Wachschutz die Schüler am Eingang auf Waffen kontrollierte.
Der Murrabi seufzte noch einmal, als er die gereinigte Chemieausrüstung in den dazugehörigen Schrank stellte. Die Schule hatte viel Geld für derartige Lernhilfen ausgegeben, aber das hatte nichts an den eigentlichen Problemen geändert und auch nicht das Lerninteresse der Schüler gesteigert. Warum sollten sie sich denn auch für Fächer interessieren, die sie in ihrem späteren Leben sowieso nie benötigen würden? Die meisten Schüler an dieser Schule würden den Großteil ihres Lebens Sozialhilfe beziehen, so wie 41 Prozent aller unter 25-Jährigen in Berlin-Neukölln. Viele von ihnen würden noch nicht einmal den Hauptschulabschluss schaffen. Im ganzen Stadtteil waren 21 Prozent der Anwohner völlig ohne Schulabschluss, fast die Hälfte verfügte nur über einen Hauptschulabschluss.[44]
Nicht mal Yasin interessierte sich für die Schule und schon gar nicht für Chemie. Darüber machte sich der Murrabi keine Illusionen. Der Junge war nur deshalb nach Schulschluss geblieben, weil er mehr Zeit mit seinem Lehrer verbringen wollte. Sie beide verband nicht das Band der Wissenschaft. Was sie verband, reichte viel tiefer: Es war ihr Glauben.
Der Murrabi hatte Yasins Leidenschaft schon früh in seinem islamischen Religionsunterricht erkannt. Er war froh, dass er neben der Chemie auch dieses Unterrichtsfach anbieten konnte, was angesichts des hohen Ausländeranteils in Berlin-Neukölln jedoch nicht unüblich war. Im islamischen Religionsunterricht blühte der Murrabi auf. Dort konnte er seine Schüler wirklich begeistern. Wie so viele Menschen aus dem islamischen Kulturkreis, konnte der Murrabi jedes Wort des Korans aus dem Gedächtnis aufsagen – und von dieser Fähigkeit machte er im Religionsunterricht regen Gebrauch. Seine Schüler waren davon schwer beeindruckt, obwohl die meisten von ihnen gar kein Arabisch verstanden.
Der Murrabi wollte seine Schüler dazu bringen, die Worte Gottes nicht nur zu hören, sondern wirklich zu verstehen. Wenn der Murrabi seine Schüler fragen würde, würden sie sich alle als gläubige Muslime bezeichnen. Tatsächlich beteten sie fünfmal täglich, aßen kein Schweinefleisch und fasteten im Monat Ramadan. Aber viele von ihnen begriffen nicht, warum diese Regeln wichtig waren und befolgten sie nur, weil ihre Eltern es ihnen so beigebracht hatten. Nicht wenige sündigten in ihrer Freizeit, indem sie Alkohol tranken oder sogar unehelichen Geschlechtsverkehr hatten. Aber ein solches Verhalten war nicht das eines echten Muslims. Ein echter Muslim verstand, dass der Koran nicht einfach nur irgendein Buch war, das sich ein Mensch ausgedacht hatte, sondern direkt von Gott kam. Der Koran enthielt die Worte Gottes, die für alle Zeiten gültig waren und niemals geändert werden durften. Ein wahrer Muslim befolgte jede einzelne Silbe der göttlichen Worte.
Im Unterricht konnte der Murrabi seinen Schülern diese Dinge nur schwer vermitteln. Er hatte sich deshalb darauf verlegt, diejenigen von ihnen, in denen er Potenzial erkannte, zu einer »außerschulischen Unterrichtseinheit« in seiner ganz persönlichen Moschee einzuladen …
Der Murrabi hatte neben seinem »Beruf« als Lehrer eine »Berufung«, wie er zu sagen pflegte: Er war Imam in einer kleinen Moschee, die er selbst aufgebaut hatte. Das Hauptaugenmerk seiner Tätigkeit als Imam war das Freitagsgebet, bei dem er stets eine Predigt hielt – die Chutba. Diese Predigten nutzte der Murrabi, um den ausgewählten Schülern, die er in seine Moschee einlud, tieferes Wissen über den Islam zu vermitteln.
Der Murrabi liebte seine Arbeit als Imam. Wenn er vor seiner Gemeinde stand und das Wort Gottes verkündete, fühlte er sich dem Propheten – Gottes Lob und Frieden auf ihm – ganz nah. Das handverlesene Publikum – seine »Anwärter«, wie er sie gerne nannte – saugte seine Predigten förmlich auf. Aufgrund seiner begeisternden Reden war er zu seinem Spitznamen gekommen: Murrabi – Erzieher. Zunächst war er schockiert gewesen, als einer seiner Anwärter diesen Spitznamen auch in der Schule gebraucht hatte, denn seine Tätigkeit als Imam musste geheim bleiben. Doch er hatte schnell erkannt, dass der Spitzname Murrabi an einer Schule nicht verwerflich war – als Lehrer war er gewissermaßen auch ein Erzieher. Darüber hinaus verstand er es jedoch noch auf ganz andere Weise, seine jungen Schüler zu erziehen. In seiner Moschee erfüllte er eine noch viel wichtigere Rolle als die des bloßen Lehrers: Er führte junge Muslime auf den Weg Gottes – in den Heiligen Krieg.
Der Murrabi musste an Yasin denken und lächelte. Yasin war ein äußerst aussichtsreicher junger Schüler. Seine schulischen Leistungen waren natürlich miserabel, da machte sich der Murrabi nichts vor. Es wäre ein Wunder, wenn Yasin den Hauptschulabschluss in ein paar Monaten schaffen würde. Dafür hatte er jedoch viele andere Qualitäten. Er hatte bei zahlreichen Schlägereien an der Schule immer wieder bewiesen, dass er sich nicht unterkriegen ließ und risikofreudig war. Und vor allem war er sehr begeisterungsfähig. Das hatte der Murrabi sofort in dem Strahlen des Jungen erkannt, als er im Religionsunterricht beiläufig den Weg Gottes und die 72 Jungfrauen im Paradies erwähnt hatte.
Ja, Yasin würde eines Tages gewiss den Weg Gottes betreten, aber eine Fitna würde er wahrscheinlich niemals bekommen. Diese Ehre wurde nur den allerbesten unter den Anwärtern zuteil, die das Potenzial hatten, nicht nur ein einfacher Soldat in diesem Krieg, sondern eine Führungspersönlichkeit zu werden. Es war äußerst selten, dass eine Fitna vergeben wurde.
Der Murrabi wurde aufgeregt, als er an die Fitna dachte, die er erst vor Kurzem verfasst hatte. Die Fitna war für einen äußerst aussichtsreichen jungen Kandidaten bestimmt, von dem ihm ein befreundeter Imam erzählt hatte. Der Bekannte hatte die Qualitäten und die tiefe Frömmigkeit jenes Anwärters in den höchsten Tönen gelobt. Der Murrabi vertraute dem befreundeten Imam, der ihm den jungen Mann empfohlen hatte. Er hatte ihm schon zu vielen großartigen Mudschahidin verholfen. Und so hatte der Murrabi über ein weit gestreutes Netz aus Mittelsmännern dem jungen Anwärter einen kleinen Anhänger an einem grünen Samtband übermittelt. Der Murrabi selbst hatte den jungen Mann dabei nicht zu Gesicht bekommen und das wollte er zunächst auch nicht. Dieses Vorgehen diente seinem eigenen Schutz. Je weniger er oder seine Mittelsmänner über den neuen Anwärter wussten, desto weniger konnte im Ernstfall nach außen dringen.
Der Murrabi machte in Gedanken einen kleinen Luftsprung, als er an den Anhänger dachte, der dem Anwärter überreicht worden war. Er sah unscheinbar aus, hatte aber eine ungeheure Bedeutung. Wenn der junge Mann die Prüfung in dem Anhänger lösen würde, würde er sich als würdig für eine Führungsposition auf dem Weg Gottes beweisen. Und der Murrabi wusste bereits, wofür er ihn einsetzen wollte. Er hatte Großes mit ihm vor.
Wie der junge Anwärter wohl gerade mit seiner Prüfung vorankam …?
Mit einem Kopfschütteln befreite sich der Murrabi aus seinen Tagträumen. Es nutzte ihm nichts, über seine jüngste Fitna zu grübeln. Er konnte jetzt nur warten und darauf hoffen, dass sich der junge Mann als erfolgreich erweisen würde. Dann würde er einen Anruf erhalten und einen neuen Mudschahid in seinen Reihen begrüßen können.
Als der Murrabi das Klassenzimmer hinter sich schloss, warf er erneut einen Blick auf seine Uhr und erschrak über die bereits fortgeschrittene Zeit. Er musste sich sofort auf den Weg machen. Den heutigen Termin durfte er auf keinen Fall verpassen. Denn genau wie sein Anwärter, der vermutlich gerade die Fitna zu lösen versuchte, würde sich auch der Murrabi heute ganz und gar dem Dschihad widmen.
Kapitel 20
Der Araber bohrte die Pistole tiefer in Lisas Rücken. Sie verzerrte das Gesicht vor Schmerz.
»Nun machen Sie schon!«, knurrte der Unbekannte mit einer Stimme wie ein Feuersturm. »Geben Sie mir den Anhänger!«
Kampel musste sich beherrschen, um nicht vor Panik zu zittern. Als religionswissenschaftlicher Autor war er schon häufig bedroht worden, aber noch nie an einem öffentlichen Ort und schon gar nicht mit einer Waffe.
Tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf: Wer war dieser Kerl? Wie hatte er sie gefunden? War er ihnen gefolgt oder hatte er hier im Holocaust-Mahnmal auf sie gewartet? Hatte er die Fitna geschrieben und Dominik in den Dschihad geführt? Würde er sie gehen lassen, wenn Kampel ihm den Anhänger gab?
Kampel versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Er stellte zunächst die drängendsten Fragen: »Wer sind Sie? Haben Sie das Gedicht in dem Anhänger geschrieben?«
Bei dem Wort »Gedicht« loderten die Augen des Angreifers für einen kurzen Moment überrascht auf. Der Blick verriet Kampel alles, was er wissen musste: Der Unbekannte konnte die Fitna nicht geschrieben haben. Er hatte nicht einmal gewusst, dass sich in dem Anhänger ein Gedicht befand.
Der Araber ging nicht auf Kampels Fragen ein. »Sie haben heute jemanden getötet und seine Leiche in einem Transporter herumgefahren«, zische er unheilvoll. »Ich will den Anhänger, den Sie ihm abgenommen haben!«
Kampel fuhr bei diesen Worten entsetzt zusammen. Der Anhänger stammte von einem Toten? Lisa Albers hatte ihm lediglich gesagt, dass sie ihn einem Anwärter »abgenommen« hatte. Hatte sie den angehenden Dschihadisten dabei etwa getötet und seine Leiche bis zu seinem Haus gefahren? Kampel warf einen verwirrten Blick zur Kommissarin, die sich noch immer im Griff des Arabers wand. Dann schüttelte er den Kopf und nahm sich zusammen. Jetzt war nicht die Zeit, um Lisa Albers nach ihrer Version der Geschichte zu fragen. Sie mussten irgendwie entkommen.
»Ich habe den Anhänger nicht bei mir«, log Kampel. »Lassen Sie uns gehen und ich sage Ihnen, wo er ist.«
»Nein!« Der Unbekannte bohrte die Pistole mit dem langen Schalldämpfer noch ein Stück tiefer in Lisas Rücken, sodass sie vor Schmerz leise aufschrie. »Sie sagen mir, wo der Anhänger ist, oder ich bringe sie um!«
»Was hindert Sie daran, uns zu töten, sobald Sie ihn haben?«
»Sie sind mir egal. Ich will nur den Anhänger, das ist alles.« Ein monströser Hass loderte in den Augen des Arabers auf. Kampel wusste, dass er log. Er würde ihn und Lisa Albers umbringen, sobald er die Fitna in seiner Hand hatte.
Panik breitete sich in Kampels Kopf aus und erschwerte ihm das Denken. Er konnte den Araber nicht mehr lange hinhalten. Wahrscheinlich ahnte der Mann bereits, dass er den Anhänger bei sich trug. Kampel würde hier sterben, mitten im Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Zwischen den vielen Steinblöcken würde niemand die schallgedämpfte Pistole des Arabers hören. Das Lachen der Fangen spielenden Kinder, das er aus der Ferne hörte, würde das letzte Geräusch sein, das er wahrnahm.
Plötzlich hatte Kampel eine Idee. Die Kinder!
Kampel konzentrierte sich einen Moment lang nur auf sein Gehör und lauschte nach dem Lachen der Kinder, die zwischen den Steinblöcken im Denkmal Fangen spielten. Sie befanden sich rechts von ihm, in weiter Ferne. Mit etwas Glück würde eines der Kinder in ihre Richtung rennen und den Angreifer für einen kurzen Augenblick ablenken. Vielleicht könnte Kommissarin Albers sich dann befreien und sie könnten zusammen fliehen. Kampel musste nur Zeit gewinnen. Und er musste den Araber dazu bringen, den Kindern den Rücken zuzuwenden.
»Sie bekommen den Anhänger«, sagte Kampel beschwichtigend. »Aber Sie müssen versprechen, uns gehen zu lassen.«
»Versprochen«, raunte der Dschinn mit grimmigem Lächeln. Schon wieder eine Lüge. »Also wo ist er?«
Kampel achtete auf sein Gehör. Die Kinderschritte schienen näher zu kommen.
»Der Anhänger ist in einem Koran, den ich mitgebracht habe«, log Kampel. »Ich habe das Buch in der Nähe abgelegt, weil ich die Hände freihaben wollte.« Diese Lüge stimmte zum Teil sogar. Kampel hatte den Anhänger zwar immer noch in seiner Jackentasche, aber er hatte seinen dicken Koran tatsächlich neben einem Steinblock abgelegt, als er das islamische Gebet vollführt hatte.
»Führen Sie mich dorthin!«, bellte der Araber.
Kampel nickte. Er trat einen kleinen Schritt rückwärts bis zur hinteren Kante des Steinblocks, der links von ihm stand. Der Dschinn folgte ihm langsam und schob Lisa Albers dabei vor sich her. Kampel schaute der Kommissarin eindringlich in die Augen. Sie schien zu verstehen, dass er etwas plante, und nickte unmerklich.
Kampel trat ganz langsam einen weiteren Schritt zurück und ging dabei um den Stein neben ihm. Wieder folgte der Angreifer. Er stand nun genau dort, wo Kampel sich noch vor ein paar Augenblicken befunden hatte. Die spielenden Kinder befanden sich jetzt im Rücken des Arabers. Wenn eines von ihnen jetzt angerannt käme, wäre er womöglich für einen kurzen Moment abgelenkt.
Als Religionswissenschaftler hatte Kampel seit jeher ein komplexes Verhältnis zum Glauben, doch nun sendete er ein simples Stoßgebet zum Himmel: Bitte, lass die Kinder in unsere Richtung kommen!
»Was wollen Sie mit dem Anhänger?«, fragte Kampel, um Zeit zu schinden.
Der Mann mit der Pistole funkelte ihn böse an. »Geben Sie ihn mir einfach!«
Kampel lauschte wieder. Das Lachen der Fangen spielenden Kinder schien tatsächlich näher zu kommen. Er brauchte nur noch etwas Zeit.
Wieder trat Kampel einen winzigen Schritt rückwärts. Er kam neben dem Koran zum Stehen, den er an den Steinblock gelegt hatte.
Kampel deutete auf das dicke Buch. »Der Anhänger ist in dem Koran. Ich werde ihn jetzt aufheben.«
Der Araber nickte. Kampel bückte sich langsam zu dem Koran herunter und versuchte die Zeit dabei so weit wie möglich zu strecken.
Als er nach dem Buch griff, passierte es endlich: Ein Kind kam von hinten genau auf den Araber zugerannt. Als der Mann die näherkommenden Kinderschritte in seinem Rücken hörte, drehte er sich instinktiv um.
»Jetzt!«, schrie Kampel.
Lisa nutzte die kurze Unachtsamkeit des Angreifers und rammte ihm ihren Ellbogen in den Bauch. Der Griff des Mannes löste sich vor Schreck. Dann schoss Lisa wie ein Blitz davon und rannte zusammen mit Kampel um einen der grauen Steinblöcke und damit aus dem Sichtfeld des Arabers.
Gemeinsam rannten sie weiter und schlugen einen waghalsigen Zick-Zack-Kurs zwischen den Steinblöcken ein. Sie wollten dem Angreifer keine Chance geben, sie von hinten zu erschießen.
Sie rannten ein paar Blöcke weiter, bis Lisa von hinten an Kampels Jacke zog und stehenblieb. Sie presste einen Finger an ihre Lippen und lauschte. Es waren keine rennenden Schritte in der Nähe zu hören. Sie mussten den Araber abgeschüttelt haben.
»Was jetzt?«, flüsterte Kampel. »Sie haben doch bestimmt eine Dienstwaffe! Können Sie den Kerl nicht erschießen?«
»Er hat mir meine Pistole abgenommen, als er mich überwältigt hat«, meinte Lisa kopfschüttelnd.
»Na toll. Dann darf er uns einfach nicht sehen.«
Lisa nickte und deutete in Richtung Süden. »Wir müssen zu Ihrem Wagen!«
Das leuchtete Kampel ein. Er folgte Lisa, die nun in südlicher Richtung zwischen den Steinblöcken voranging. Während sie dem schmalen Gang durch das Meer grauer Steinblöcke folgten, hielten sie an jeder Kreuzung links und rechts nach ihrem Angreifer Ausschau. Außerdem lauschten sie nach Schritten in der Nähe. Kampel vermutete, dass seine Ohren ihm bessere Hinweise geben würden als seine Augen, denn im Denkmal war es stockdunkel. Die einzige Lichtquelle war der winterliche Abendhimmel über ihnen, der von den Großstadtlichtern Berlins schwach angestrahlt wurde.
Während sie voranschritten, flüsterte Kampel etwas nach vorne zu Lisa: »Dieser Typ hat gesagt, Sie hätten den Anwärter, der die Fitna ursprünglich bekommen sollte, getötet und seine Leiche in den Kleintransporter geladen, der jetzt vor meinem Haus steht. Stimmt das?«
Lisa ging einen Moment lang schweigend weiter, ehe sie antwortete. »Ich erkläre es Ihnen später. Erst mal müssen wir von hier weg.«
Kampel war mit dieser Antwort alles andere als zufrieden. Konnte er Lisa Albers vertrauen? Er wusste so gut wie nichts über sie und offensichtlich hatte sie ihn angelogen. Doch er wischte diese Zweifel fürs Erste beiseite. Zunächst mussten sie diesem Killer entkommen.
Kampel und Lisa näherten sich dem südlichen Rand des Holocaust-Mahnmals. Die Steinblöcke links und rechts von ihnen wurden allmählich kleiner und überragten sie inzwischen nur noch unmerklich. Wenn sie weiter zum Rand des Denkmals gehen würden, würden ihre Köpfe zwischen den Steinblöcken unweigerlich zu sehen sein.
Kampel deutete nach vorne. Er sah sein Auto. Er wollte bereits zu dem rettenden Wagen sprinten, doch Lisa hielt ihn zurück.
»Irgendetwas stimmt da nicht«, flüsterte sie und taxierte das Fahrzeug mit dem geschulten Blick der Ermittlerin. Nach einer Weile ging ihr auf, was sie an dem Bild störte: Der Wagen war ungewöhnlich stark nach vorne rechts geneigt.
»Der Kerl hat die Luft aus dem Reifen gelassen«, sagte sie. »Er muss den Reifen zerstochen haben.«
Kampel schluckte. »Also wusste dieser Killer, dass der Wagen zu uns gehört. Er muss uns schon während der Fahrt hierher gefolgt sein.« Ein anderer, noch viel beängstigenderer Gedanke, schoss Kampel durch den Kopf: Womöglich weiß der Typ, wo ich wohne …
Lisa überlegte kurz. »Ich wette, er wartet nur darauf, dass wir zum Auto rennen, damit er uns erschießen kann.«
»Also was nun?«
Die Kommissarin deutete zurück ins Innere des Mahnmals und damit in Richtung Norden. »Wir müssen zur U-Bahn. Die nächste Station ist am Brandenburger Tor.« Danach zeigte sie auf die vielen Betonblöcke um sie herum. » Zwischen den Steinen haben wir am meisten Deckung. Wir müssen im Denkmal bleiben.«
Kampel zitterte leicht. »Aber der Kerl könnte hinter jedem Steinblock auf uns lauern!«
»Wenn wir ihn treffen, müssen wir ihn eben wieder abschütteln«, sagte Lisa betont locker und versuchte sich ihre eigene Panik nicht anmerken zu lassen. Wenn sie hier lebend herauskommen wollten, mussten sie stark sein.
Kampel und Lisa drehten sich um und gingen zurück ins Innere des Holocaust-Mahnmals. Die Steinblöcke links und rechts von ihnen wurden nun wieder höher, je tiefer sie in das Denkmal vordrangen. Wie zuvor führte der Weg kaum merklich bergab.
Kampel graute es vor jedem Schritt in die Dunkelheit. Der Unbekannte könnte hinter jeder Biegung auftauchen und sie aus dem Nichts erschießen.
Kampel und Lisa gingen weiter gerade aus. Sie hatten sich stillschweigend auf ein Vorgehen geeinigt, um den Araber möglichst früh auszumachen: Nach jedem Steinblock, den sie passierten, schaute Lisa in den Gang nach rechts und Kampel nach links. Sie hörten sich nach dem Angreifer um. Nichts. Es war totenstill. Das einzige Geräusch, das sie vernahmen, waren die weit entfernten Klänge des Berliner Verkehrs, die wie aus einer anderen Welt von oben in das Steinmeer drangen.
Dann hörten sie plötzlich einen Schritt. Sie drehten sich gleichzeitig um. Weit hinter ihnen stand der Araber. Seine Augen schienen zwischen den dunklen Steinen zornig zu glühen. Er setzte zum Sprint an und rannte direkt auf sie zu.
»Hier lang!«, rief Lisa und zog Kampel nach rechts in östliche Richtung. Sie rannten an drei Steinblöcken vorbei und bogen dann wieder nach links in Richtung Norden.
Sie hetzten so schnell sie konnten durch die Betonwüste. Kampel glaubte, sein Herz würde jeden Moment explodieren.
Im Rennen drehte sich Lisa kurz um. Der Araber betrat gerade den schmalen Gang, in dem sie und Kampel sich ebenfalls befanden und sah sich hastig nach ihnen um. Als er sie entdeckte, zog er die Pistole aus seiner Jacke, die er beim Rennen dort versteckt hatte. Er zielte auf sie. Die Kommissarin blickte für einen Moment genau in den Lauf der Waffe.
»Links«, schrie Lisa und stieß Kampel hinter einen Steinblock und damit außerhalb des Sichtfelds des Arabers.
Sie rannten im Zickzack weiter, bis Kampel völlig die Orientierung verloren hatte. Nach ein paar Metern blieb er stehen und drehte sich zu Lisa um. Er legte seinen Zeigefinger an die Lippen und bedeutete ihr damit, still zu sein. Sie nickte. Gemeinsam pressten sie sich an einen Stein.
Sie konzentrierten sich auf die Geräuschkulisse. Hinter sich hörten sie eilig rennende Schritte, die zwischen den Betonblöcken gespenstisch widerhallten. Die Schritte kamen immer näher.
Lisa wollte bereits weiterrennen, doch Kampel hielt sie fest. Sie hielten die Luft an und lauschten. Hinter dem Stein, an den sie sich pressten, kamen die Schritte immer näher. Für einen kurzen Augenblick des Schreckens erklangen die Schritte direkt hinter ihnen. Dann entfernten sie sich wieder. Offenbar war der Araber gerade an ihnen vorbeigelaufen und hatte sie hinter dem Steinblock nicht bemerkt.
Lisa deutete nach vorne. Sie hatten nun fast das nördliche Ende des Denkmals erreicht. Es ging von nun an leicht bergauf und die Steinblöcke links und rechts von ihnen wurden wieder kleiner. Sie waren nur noch zehn Steinreihen vom Bürgersteig entfernt.
Kampel konnte bereits ein paar Fußgänger am nördlichen Rand des Denkmals erkennen. In wenigen Metern würden sie in Sicherheit sein. Er hastete nach vorne.
Kampel war so auf das rettende Ende des Denkmals konzentriert, dass er zu spät den kräftigen Arm bemerkte, der um einen der Steinblöcke hervorschnellte und nach seiner Jacke griff. Die Hand gehörte dem Araber, der ihn mit glühenden Augen anstarrte. Während er Kampel mit der Linken am Arm packte, zog er seine Rechte unter seiner Jacke hervor. Es war seine Pistolenhand.
Die Zeit schien für Kampel stillzustehen. Er erwartete, den Pistolenlauf zu sehen und dann nichts mehr.
Plötzlich spürte er einen Ruck an seiner Jacke. Der Griff des Arabers löste sich. Gerade als der Unbekannte seine rechte Hand hatte heben wollen, hatte Kommissarin Albers ihm mit der Handkante gezielt gegen das Handgelenk geschlagen. Der Araber ließ die Waffe fallen. Sie ging klappernd auf dem Stein zu Boden.
Kampel und Lisa nutzten den kurzen Augenblick, in dem der Angreifer seine Waffe vom Boden aufhob, und rannten weiter. Nach ein paar Steinblöcken bogen sie nach links. Sie hatten nun fast die nordwestliche Ecke des Denkmals erreicht.
Vor ihnen wurde es plötzlich laut. Eine große Gruppe von Touristen strömte zwischen den Steinblöcken auf sie zu. Sie schienen an einer abendlichen Führung durch das Holocaust-Mahnmal teilzunehmen.
Kampel dankte den Göttern für diese Tarnung.
Sie rannten durch die Menschentraube, bogen noch zwei Mal schnell an verschiedenen Steinen vorbei und erreichten schließlich den Bürgersteig, an dem das Denkmal für die ermordeten Juden Europas endete.
Ohne sich umzudrehen, sprinteten sie weiter in Richtung Brandenburger Tor.
Kapitel 21
»Aus dem Weg!«, schrie der Dschinn. Wütend stieß er mehrere Touristen beiseite, die durch das Holocaust-Mahnmal gingen und ihm den Weg versperrten. Ohne auf die wütenden Rufe der Menge zu achten, bahnte er sich mit ausgestreckten Ellenbogen einen Weg zum Rand des Denkmals. Als er endlich aus dem Meer der Steinblöcke auftauchte und den Bürgersteig erreichte, schaute er sich hastig nach links und rechts um.
Keine Spur von den beiden Ungläubigen. Er hatte sie verloren.
Der Dschinn schlug wütend in die Luft. Am liebsten hätte er laut in den Nachthimmel geschrien, doch er zwang sich zur Ruhe. Die beiden Ungläubigen waren ihm zwar für den Augenblick entwischt, aber sie würden ihm nicht auf Dauer entkommen können. Dafür hatte er gesorgt.
Der Dschinn zog sein Smartphone hervor und ließ sich mit einer kurzen Wischbewegung eine Karte von Berlin anzeigen. Auf der Karte bewegte sich ein kleiner roter Punkt in Richtung Brandenburger Tor.
Der Dschinn lächelte grimmig. Es hatte geklappt. Als er den Religionswissenschaftler im Denkmal gepackt hatte, hatte er ihm einen kleinen GPS-Sender unter eine Ziernaht an seiner Jacke geschoben, genau wie er es zuvor bei Tariq gemacht hatte. Von nun an würde er jede Bewegung des Autors verfolgen können.
Der Dschinn beobachtete auf dem Display, wie der rote Punkt durch das Brandenburger Tor wanderte und sich auf die U-Bahn-Station auf dem Pariser Platz zubewegte. Vermutlich wollten die beiden Ungläubigen in die U-Bahn entkommen. Solange sie sich unter der Erde aufhielten, würde der Dschinn kein Signal von dem GPS-Sender empfangen. Aber wenn sie die U-Bahn wieder verließen, würde er ihre Position bis auf den Meter genau ausmachen können. Und dann würde er sie gnadenlos verfolgen.
Der Dschinn steckte das Smartphone zurück und warf unter seiner Jacke einen verstohlenen Blick auf die Waffe, die er der ungläubigen Blondine abgenommen hatte. Es war eine Polizeiwaffe. Die Frau war also eine Polizistin. Das erklärte das Geschick, mit dem sie sich aus seinem Griff befreit hatte. Aber wer war sie? Und warum ließ sie sich mit einem Religionswissenschaftler ein, um einer Fitna hinterherzujagen? Der Dschinn musste unbedingt mehr über sie erfahren. Sein Blick glitt über die Seriennummer auf der Dienstwaffe der Polizistin. Er lächelte. Raschid würde damit problemlos herausfinden können, mit wem sie es zu tun hatten.
Kapitel 22
Das Brandenburger Tor ist das bekannteste Wahrzeichen Berlins. Es ist über 20 Meter hoch und besteht aus einem waagerechten Überbau, der auf zwölf massiven Säulen ruht, die genauso gut in einem römischen oder griechischen Tempel stehen könnten. Wegen dieses Formenrückgriffs auf die Antike wird die Architektur des Brandenburger Tors als Klassizismus bezeichnet. Oben auf dem Tor befindet sich die Quadriga, eine imposante Kupferskulptur der römischen Siegesgöttin Victoria, die in einem Streitwagen von vier Pferden gezogen wird. Die Skulptur soll den Einzug des Friedens symbolisieren, nachdem der preußische König Friedrich Wilhelm II. mit seinen Truppen in die Niederlande marschiert war und die dortige Situation beruhigt hatte.
Kampel wäre gerne stehen geblieben, um das beeindruckende Brandenburger Tor in sich aufzunehmen, aber dafür blieb ihm keine Zeit. Er und Lisa Albers befanden sich noch immer auf der Flucht vor dem unbekannten Araber, der sie im Holocaust-Mahnmal angegriffen hatte.
»Da!«, rief Lisa und deutete nach vorne auf den Eingang zur U-Bahn-Station. Die nach unten führende, hell beleuchtete Treppe erschien Kampel wie eine rettende Oase in der Wüste. Wenn er und Lisa es in die U-Bahn schafften, könnten sie entkommen.
Kampel und Lisa rannten quer über den Pariser Platz und auf den U-Bahn-Eingang zu, vorbei an den zahlreichen Touristen, die vor dem Brandenburger Tor für Fotos posierten. Im Rennen betrachtete Kampel flüchtig seine Umgebung und war kurz überrascht: Er hatte völlig vergessen, wie weihnachtlich der Pariser Platz um diese Jahreszeit geschmückt war. Überall waren goldene Lichterketten angebracht und in der Mitte des Platzes leuchtete ein etwa 15 Meter hoher, imposanter Weihnachtsbaum in der Dunkelheit.
Kampel bedauerte es, den Pariser Platz nicht ausreichend würdigen zu können, denn dieser Ort hatte immer eine ganz besondere Wirkung auf ihn. Noch in seiner Jugend war hier die Grenze zwischen den damals geteilten deutschen Staaten verlaufen. Mitten auf dem Platz hatte sich der sogenannte »Todesstreifen« befunden, auf dem zahlreiche Menschen, die von Ost- nach Westberlin fliehen wollten, erschossen worden waren. Heute galten das Brandenburger Tor und der Pariser Platz als Symbol für die Wiedervereinigung Deutschlands.
Kampel und Lisa erreichten den Eingang der U-Bahn-Station. Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannten sie die Treppe nach unten und drängten sich unsanft an einer weiteren Touristengruppe vorbei.
Als Kampel an den Fuß der Treppe gelangte, hatte er für einen kurzen Moment das Gefühl, er würde eine andere Welt betreten: Die lauten Geräusche des Großstadtverkehrs waren mit einem Mal völlig verschwunden. Durch den unterirdischen Gang hallte stattdessen die sanfte Musik einer Jazzband, um die sich eine große Menschentraube gebildet hatte.
Kampel und Lisa schoben sich an den Zuschauern der Band vorbei und rannten weiter. Nach einigen Metern erreichten sie eine weitere Treppe, die nach unten zum Bahnsteig der U-Bahn-Station führte. Während sie die Treppe nach unten hasteten, deutete Kampel auf einen Zug, der gerade auf dem Gleis stand. »Da rein!«, schrie er.
Kampel und Lisa hetzten über den Bahnsteig und zur nächstgelegenen Eingangstür des Zuges. Im Waggon angekommen, drehte sich Kampel zum ersten Mal um, seitdem sie losgerannt waren. Er befürchtete, auf dem Bahnsteig das wutverzerrte Gesicht des Arabers zu entdecken – doch er war nirgends zu sehen. Sie hatten ihn tatsächlich abgeschüttelt.
Als sich die Zugtüren nach einer gefühlten Ewigkeit endlich schlossen und der Zug anfuhr, atmete Kampel tief durch. Er war völlig außer Puste. So viel Sport hatte er seit Jahren nicht gemacht.
»Wir haben ihn … abgehängt«, schnaufte er und rang nach Luft. »Wer war das?«
Lisa sog ebenso gierig Luft ein wie Kampel, ehe sie antwortete: »Ich weiß es nicht. Er muss zum Islamischen Staat gehören. Wahrscheinlich soll er die Fitna vor Außenstehenden wie uns beschützen.«
Kampel überlegte. »Ich bin mir zumindest sicher, dass er die Fitna nicht geschrieben hat. Das habe ich an seinem Blick gesehen, als ich ihn nach dem Text in dem Anhänger gefragt habe. Er wusste überhaupt nicht, dass in dem Anhänger ein Gedicht war.«
Lisa nickte. »Wie ich Ihnen bereits sagte, werden solche Prüfungen für einzelne Anwärter handgefertigt. Keine Fitna gleicht der anderen. Nur der Prüfling und der Autor kennen den Inhalt einer Fitna. Es ist also gut möglich, dass unser Angreifer nur für den Schutz des Anhängers zuständig ist, nicht für seinen Inhalt.«
»Sie führen doch Akten über Dschihadisten. Haben Sie diesen Kerl schon einmal in einer Ihrer Aufzeichnungen gesehen?«
»Leider nicht …«, antwortete Lisa und schaute einen Moment nachdenklich aus dem Zugfenster. »Aber wer immer er auch sein mag: Er ist ein Profi. Er hat sich geschickt an mich herangeschlichen, mich sofort entwaffnet und mit einem gekonnten Griff festgehalten. Wahrscheinlich ist er militärisch ausgebildet.«
»Na toll. Also will uns nicht einfach nur irgendein Verrückter töten, sondern ein Profikiller.«
Lisa überlegte eine Weile. »Wenn ich mich richtig erinnere, hat mich der Kerl als Kāfirah bezeichnet. Was bedeutet das?«
»So bezeichnet man im Arabischen eine ungläubige Frau.«
»Dann wissen wir wenigstens, dass er aus einem arabischsprachigen Land kommt.«
Kampel lachte leise auf. »Das hilft uns kaum weiter. Arabisch ist die Amtssprache in 27 Ländern und die am sechsthäufigsten gesprochene Sprache der Welt.«
Wieder überkam Kampel der beunruhigende Gedanke, der ihn bereits im Denkmal mit Schock erfüllt hatte. »Dieser Typ muss uns schon seit einer Weile verfolgt haben. Nur so konnte er wissen, an welchem Wagen er die Reifen zerstechen musste. Und wahrscheinlich weiß er sogar, wo ich wohne.«
Lisa schluckte. »Wahrscheinlich ist er mir gefolgt, nachdem ich die Fitna dem ursprünglichen Empfänger abgenommen habe.«
Plötzlich ergriff Kampel eine für ihn seltene Wut. »Sie meinen, nachdem Sie den Anwärter getötet haben!«, blaffte er die Kommissarin an. »Das ist es, was dieser Verrückte gesagt hat! Stimmt das?«
Lisa wich Kampels Blick aus. Sie schaute betreten zu Boden.
Nun entlud sich Kampels gesammelter Ärger. »Also stimmt es! Sie haben den Anwärter getötet, seine Leiche in einen Kleintransporter geladen und vor meinem Haus geparkt! Und das alles hat ein Mitglied des Islamischen Staates mitbekommen, der jetzt genau weiß, wo ich wohne! Können Sie sich vorstellen, dass es für einen Religionswissenschaftler nicht gerade vorteilhaft ist, im Adressverzeichnis von Dschihadisten aufzutauchen?«
»Wollen Sie das durch die ganze U-Bahn schreien?«, zischte Lisa und schaute sich nervös um, ob jemand in dem Waggon Kampels Ausbruch gehört hatte.
Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und schloss kurz die Augen. »Ja, es stimmt«, sagte sie. »Ich habe den Rekruten, dem der Anhänger übergeben wurde, getötet. Seine Leiche ist in dem Lieferwagen, in dem ich zu Ihnen gefahren bin.«
Kampel wurde von diesem Geständnis nicht beruhigt. »Warum haben Sie den Anwärter umgebracht? Ich will genau wissen, was passiert ist!«
Lisa schwieg einen Moment und überlegte. Schließlich seufzte sie. Wenn sie weiter mit Kampel zusammenarbeiten wollte, musste sie ihm die ganze Geschichte erzählen. »Wie ich Ihnen bereits sagte, habe ich in den letzten Wochen jemanden beschattet, den ich verdächtigte, sich dem Islamischen Staat anzuschließen. Dieser Kerl hatte bisher nur kleinere Vergehen wie Ladendiebstahl und Drogenhandel begangen, aber ich wusste aus verschiedenen Quellen, dass er sich zunehmend für den Heiligen Krieg interessierte. Für einen Kleinkriminellen war er außerdem überraschend gebildet. Ich glaubte, dass er sich früher oder später einer Dschihadistengruppe anschließen würde und dass er der ideale Anwärter auf eine Fitna wäre – und ich hatte recht. Nach endlosem Beschatten war es heute soweit: Jemand steckte ihm in einer Moschee den Anhänger zu. Ich war einer Fitna noch nie so nah gekommen.« Lisa hielt inne und schaute nachdenklich ins Leere. »Als der Rekrut die Moschee verließ, folgte ich ihm unauffällig in einem gemieteten Lieferwagen. Er ging durch eine einsame Gasse. Ich bin ausgestiegen und habe mich ihm als Polizistin offenbart. Ich habe ihn mit meiner Waffe bedroht und ihn angeschrien, er solle mir den Anhänger in seiner Tasche geben – das volle Einschüchterungsprogramm. Und tatsächlich griff er auch in seine Tasche.« Lisa schüttelte den Kopf, wütend über sich selbst. »Aber er hat nicht den Anhänger aus seiner Tasche gezogen, sondern ein Messer. Er rannte auf mich zu.« Die Kommissarin seufzte. »Ich musste ihn erschießen. Es war Notwehr.«
Lisa machte wieder eine Pause. »Da stand ich nun: Ich hatte einen unschuldigen jungen Mann erschossen.«
»Unschuldig?«, unterbrach Kampel. »Er war kurz davor, sich einer Terrororganisation anzuschließen.«
»Das mag sein, aber bis dahin hatte er nichts weiter getan, als einen Anhänger mit einem rätselhaften Text darin anzunehmen. Das ist kein Verbrechen.« Ärgerlich ballte die Kommissarin ihre Faust. »Und was das Ganze noch schlimmer macht: Ich wurde von dem Fall explizit abgezogen. Ich habe gegen alle Anweisungen meiner Vorgesetzten auf eigene Faust ermittelt. Das alleine ist schon schlimm genug, aber dass ich dann noch jemanden erschieße! Wenn das rauskommt, werde ich sofort entlassen!« Lisa schaute Kampel eindringlich an. »Als ich über der Leiche des Anwärters stand, wurde mir klar, dass ich meinen Namen nur noch reinwaschen kann, wenn ich dieser Fitna folge und den Kopf dahinter schnappe. Also habe ich die Leiche des Rekruten in meinen Transporter gehievt und bin sofort zu Ihnen gefahren.«
Der Religionswissenschaftler nahm die Nachricht überraschend ruhig auf. Seine Wut schien in Verständnis umzuschlagen. »Warum haben Sie mir das alles nicht gleich erzählt? Warum haben Sie mich angelogen?«
Lisa lachte leise auf. »Hätten Sie denn zugestimmt, mit mir zusammen dieser Fitna hinterherzujagen, wenn Sie gewusst hätten, dass ich jemanden umgebracht habe?«
Kampel schwieg einen Moment und dachte ernsthaft über diese Frage nach. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Wahrscheinlich nicht«, sagte er. »Warum wurden Sie überhaupt von dem Fall abgezogen?«
»Das sagte ich Ihnen bereits. Ich bin in dieser Sache befangen.«
»Inwiefern?«
Lisa zögerte einen Moment. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass Sie nicht der einzige sind, dem der Islamische Staat einen geliebten Menschen genommen hat.« Nach dieser Antwort wandte sie sich ab und schaute gedankenverloren in die Ferne. Kampel wusste, dass er nicht mehr aus ihr herausbekommen würde.
»Das tut mir sehr leid«, sagte Kampel sanft.
»Danke. Ich muss den Mann hinter dieser Fitna einfach finden, verstehen Sie? Für meine Karriere und für mein eigenes Gewissen.«
Kampel nickte. Er war noch immer wütend auf Lisa, aber er konnte ihre Gründe nachvollziehen. Auch er hatte jemanden an den Islamischen Staat verloren. Wenn er ein Polizist wäre, würde er ebenfalls alle Dienstregeln brechen, um den Mann zu finden, der aus Dominik einen Dschihadisten gemacht hatte.
»Hören Sie zu«, meinte Kampel. »Die Situation hat sich mittlerweile grundlegend geändert. Wir folgen jetzt nicht mehr nur einem rätselhaften Gedicht, sondern wir werden von einem Killer verfolgt. Geben Sie Ihren Kollegen Bescheid! Wir brauchen Verstärkung!«
Lisa schüttelte resigniert mit dem Kopf. »Das kann ich nicht. Wenn ich meinen Kollegen von dieser ganzen Angelegenheit berichte, werde ich sofort von dem Fall abgezogen. Und Sie sowieso – Sie sollten als Privatperson überhaupt nicht in dieser Sache ermitteln. Ehe meine Kollegen ein Team auf die Beine gestellt haben, wird der Autor der Fitna seine Spuren schon längst wieder verwischt haben.« Sie schaute Kampel in die Augen. »Dann wird der Mann, der Ihren Sohn nach Syrien geschickt hat, entkommen.«
Kampel schluckte. Mit der Erwähnung von Dominik hatte die Kommissarin einen Nerv getroffen. Wenn er wissen wollte, was genau mit seinem Sohn passiert war, durfte er den Autor der Fitna auf keinen Fall entwischen lassen. Das war er Dominik und Maria schuldig.
Lisa Albers hatte recht. Sie mussten der Fitna auf eigene Faust folgen.
Erst jetzt schaute sich Kampel zum ersten Mal in dem U-Bahn-Waggon um. Eine Leuchtanzeige an der Decke verkündete, dass der Zug gleich den Hauptbahnhof erreichen würde.
»Wir sollten hier aussteigen«, meinte Kampel. »Im Hauptbahnhof können wir für eine Weile in der Menge untertauchen und uns irgendwo verstecken. Außerdem kommen wir von dort zu jedem Ort in Berlin.«
Lisa wirkte verwundert. »Wohin wollen Sie denn?«
Kampel lächelte. »Dahin, wo uns das nächste Gedicht der Fitna führt.«
»Das nächste Gedicht? Haben Sie im Holocaust-Mahnmal etwas gefunden?«
Kampel erklärte ihr kurz, wie er an dem Steinblock im Denkmal das islamische Gebetsritual vollführt und dabei den Teil eines QR-Codes auf dem Boden entdeckt hatte.
»Sie sind genial!«, rief Lisa aufregt. »Jetzt haben wir wieder eine Chance, die Fitna zu lösen. Aber wir müssen uns beeilen: Die Leute hinter dieser Prüfung wissen jetzt, dass ich den ursprünglichen Empfänger des Anhängers getötet habe. Sie werden versuchen, so schnell wie möglich alle Spuren zu beseitigen.«
Kampel nickte. Die Glaubensprüfung war noch lange nicht vorbei.
Kapitel 23
Der Murrabi betrachtete sich selbst im Seitenspiegel seines Autos. Mit strengem Blick kontrollierte er noch einmal den Sitz des Anzugs und der Krawatte, die er für den heutigen Anlass gekauft hatte. Er wollte absolut perfekt aussehen.
Zufrieden mit seinem Äußeren machte sich der Murrabi auf den Weg. Er hatte seinen Wagen ein Stück von seinem Zielort entfernt geparkt, damit er noch ein paar Minuten zu Fuß gehen konnte. Der kleine Spaziergang würde ihm womöglich die leichte Aufregung nehmen, die er gerade empfand. Er durfte sich heute keinen Fehler erlauben, wenn er der Sache Gottes dienlich sein wollte. Er würde heute seine bisher wichtigste Schlacht für den Dschihad führen.
Der Murrabi ging durch eine ruhige Wohngegend. Er blieb kurz stehen, um die Umgebung in sich aufzunehmen und atmete dabei die kühle Dezemberluft tief ein. Als Kind hatte er hier häufig mit seinen Schulfreunden herumgetollt. Unwillkürlich musste er daran denken, wie er früher gewesen war. Schon als Kind hatte der Murrabi festgestellt, dass er sich von seinen Altersgenossen unterschied. Seine Freunde hatten sich zwar ebenfalls als Muslime bezeichnet – sein Vater hätte ihn niemals mit Ungläubigen spielen lassen – aber Gott war für die anderen Kinder nicht allgegenwärtig. Es war, als würden sie den Herrn immer eine Weile lang ausblenden und nur beim Gebet in ihre Herzen lassen. Für den Murrabi war das anders. Er hatte zwar ebenfalls Unsinn getrieben, sich den Bauch mit Süßigkeiten vollgestopft und viel draußen gespielt, aber er hatte im Gegensatz zu seinen Spielkameraden bei all diesen weltlichen Freuden immer eine Nähe zu Gott gespürt. Und er hatte immer gewusst, dass er mit seinem ganzen Leben Gott dienen wollte. Schon als Kind hatte er den großen Traum gehegt, eines Tages ein Imam zu werden, so wie sein Vater.
Und dieser Wunsch hatte sich erfüllt.
Die Brust des Murrabi schwoll vor Stolz an, als er daran dachte, wie er seinen Vater zum ersten Mal in seine Moschee geführt und ihm erklärt hatte, dass er nun ebenfalls ein Imam sei. Sein Vater war schrecklich stolz gewesen und hatte ihn so fest umarmt, wie es ihm der vom Alter geschwächte Körper ermöglichte.
Die für den Murrabi größte Herausforderung auf seinem Weg zum Imam war es gewesen, seine eigene kleine Moschee aufzubauen. Der Rest war vergleichsweise einfach, denn für das Amt des Imams hatte er keine spezielle Prüfung ablegen müssen. In Deutschland benötigte man keine Berufsausbildung und auch kein Studium, um ein Imam zu werden, anders als beispielsweise die Pfarrer der Christen. Der Imam wurde hier in Deutschland ganz einfach von seiner Gemeinde gewählt. Der Murrabi könnte sogar in einem islamischen Land problemlos das Imam-Amt ausführen, denn dafür brachte er alle nötigen Fähigkeiten mit: Er war männlich, er war unbescholten – immerhin hatte er während seines gesamten Lebens jedes Wort des Herrn bis auf die Silbe genau befolgt –, er konnte den Koran zitieren, er war in der islamischen Rechtswissenschaft ausgebildet, und er konnte fehlerfrei sprechen.
Der Murrabi lächelte, als er sich nun in dem Viertel umschaute. Er war tatsächlich ein Imam geworden, genau wie er es sich gewünscht hatte, als er in Kindertagen durch diese Straßen gezogen war.
Der Murrabi ließ sich seinen Titel wie ein Mantra durch den Kopf gehen: Imam. Schon allein dieses Wort faszinierte ihn. Das Wort Imam war in der islamischen Welt nicht nur die Bezeichnung für den Vorbeter in der Moschee, sondern wurde häufig auch als Ehrentitel verwendet. Ein bewundernswertes Beispiel war Hasan al-Bannā, der sich für seine Gründung der Muslimbruderschaft den Ehrentitel Märtyrer-Imam verdient hatte. Im Koran hatte das Wort Imam ursprünglich noch eine weitaus allgemeinere Bedeutung und bezeichnete einen Anführer oder ein Vorbild. Der Begriff wurde in der heiligen Schrift nicht nur für Personen verwendet, sondern auch für Ideen, die die Menschen anleiteten. So wurde im Koran beispielsweise das Buch Mose als Imam betitelt – gemeint war damit natürlich die Urversion des Buches, wie Gott sie herabgesandt hatte und nicht die völlig verfälschte Version, die die Juden und Christen daraus gemacht hatten. Sogar der Koran selbst war von den frühen Islamgelehrten als Imam bezeichnet worden. Auch die frühen Kalifen, die die muslimische Gemeinde nach dem Tod des Propheten – Friede sei mit ihm – angeführt hatten, hatten sich als Imame betitelt und damit auf ihre Autorität und Rolle als Führungsperson hingewiesen. Egal ob mit dem Wort Imam eine Person oder eine Idee bezeichnet wurde: Der Imam war schon immer der Anführer der muslimischen Welt gewesen.
Imam … Der Anführer …
Der Murrabi mochte diese Deutung seines Titels. Er wusste, dass er selbst nicht nur ein einfacher Vorbeter war, sondern ein tatsächlicher Anführer. Ein Anführer, der junge Muslime zu der ehrenhaftesten Tat überhaupt ermutigte – zur Teilnahme am Dschihad. Leider konnte er seine Mudschahidin jedoch nicht in der Öffentlichkeit führen, sondern musste im Verborgenen agieren. Und dies musste fürs Erste auch so bleiben. Er war bei seinen Aktivitäten immer darauf bedacht, dass nur ein kleiner Kreis Eingeweihter von seiner Rolle wusste. So wie bei der Fitna, die der Murrabi für einen angehenden Mudschahid gefertigt hatte und die er über ein weit verzweigtes Netz aus Mittelsmännern an ihren Bestimmungsort weitergereicht hatte. Aber mit jedem neuen Schüler, der eine seiner Prüfungen löste und sich damit für eine wichtige Position im Heiligen Krieg qualifizierte, konnte er sich ein kleines Stück weiter aus der Deckung wagen.
Und vielleicht würde er schon heute einen neuen Krieger Gottes begrüßen können. Irgendwo in Berlin versuchte ein Anwärter gerade die Fitna zu lösen, die der Murrabi ihm hinterlassen hatte. Bei dem Gedanken daran schüttelte es ihn vor Aufregung. Er hatte bereits eine ganz besondere Aufgabe für seinen neuen Schüler im Sinn …
Als der Murrabi um eine Häuserecke trat, konnte er in der Ferne das Ziel seines Spaziergangs erkennen. Schon in wenigen Minuten würde er in den Dschihad ziehen.
Er blieb stehen, streckte seine Hände nach vorne und sandte Gott ein Bittgebet, das schon viele andere Mudschahidin vor ihm gesprochen hatten:
[2:250] […] Herr! Verleih uns Geduld, festige unsere Füße und hilf uns gegen das Volk der Ungläubigen!
Kapitel 24
Kampel warf erneut einen Blick ins Innere des Berliner Hauptbahnhofs und hielt Ausschau nach dem Araber. Kampel und Lisa hatten sich in ein kleines Café im Untergeschoss des Hauptbahnhofs gesetzt, aus dem sie einen guten Blick auf die vorbeiziehenden Menschenmassen hatten. Die vielen schwatzenden Menschen um sie herum boten ihnen eine gute Tarnung und falls ihr Verfolger hier auftauchen sollte, könnten sie sofort aufspringen, zu den Bahngleisen rennen und in den nächstbesten Zug steigen.
Im Gegensatz zu Kampel achtete Lisa kaum auf ihre Umgebung. Sie starrte auf das Smartphone in ihrer Hand. Sie hatte den rätselhaften Text auf dem Bildschirm nun schon mehrere Male gelesen, doch noch immer konnte sie sich keinen Reim darauf machen.
Stets fünfmal täglich tun wir uns’re Unterwerfung kund,
so regelmäßig wie ein Uhrwerk, auf Minutsekund’.
Jedoch um wirklich Diener unseres Allahs zu werden,
musst du sogar bereit sein, um im Heil’gen Krieg zu sterben.
Wirf Schrecken in das Herz Europas, das soll sein dein Sieg.
Wo immer du auch stehst, die Zahlen weisen dir den Weg.
5231162012 1324479124

»Offenbar müssen wir wieder einen QR-Code vervollständigen«, sagte die Kommissarin mit Blick auf das Symbol unter dem Text. Sie seufzte. »Es ist genau wie mit dem ersten Gedicht: Einige Ausschnitte verstehe ich, aber andere sagen mir überhaupt nichts. Ich glaube, wir sollten das Gedicht wieder Zeile für Zeile durchgehen.« Lisa las die ersten beiden Verse laut vor: »›Stets fünfmal täglich tun wir uns’re Unterwerfung kund, so regelmäßig wie ein Uhrwerk, auf Minutsekund’.‹ Das beschreibt das islamische Gebet, nicht wahr?«
»Zweifellos«, meinte Kampel. »Das Gedicht bezieht sich an dieser Stelle eindeutig auf das tägliche Ritualgebet, die Salāt. Die Salāt ist die zweite Säule des Islam und gehört damit zu den Pflichten aller Muslime. Genau wie im Gedicht angesprochen, muss jeder Muslim fünfmal täglich zu streng festgelegten Zeiten beten.«
»›So regelmäßig wie ein Uhrwerk, auf Minutsekund’‹«, zitierte Lisa. »Die Gebete finden jeden Tag zur selben Zeit statt?«
»Ja, aber die Gebete richten sich nicht nach der Uhrzeit, falls Sie das denken«, meinte Kampel. »Das ›Uhrwerk‹, auf das sich das Gedicht bezieht, ist keine mechanische Uhr, sonder eine Sonnenuhr. Die Gebetszeiten des Islam richten sich nämlich nach dem Stand der Sonne: Das Fadschr-Gebet wird zwischen Morgendämmerung und Sonnenaufgang abgehalten. Das Ẓuhr-Gebet folgt, wenn die Sonne den Zenit überschreitet. Am Nachmittag kommt das ʿAṣr-Gebet, wenn der Schatten eines Gegenstandes eine bestimmte Länge erreicht. Bei Sonnenuntergang folgt dann das Maghrib-Gebet und bei Einbruch der Nacht das ʿIschā-Gebet. Die genauen Uhrzeiten der Gebete fallen je nach Jahreszeit unterschiedlich aus. Da die Sonne beispielsweise im Winter früher untergeht, findet das Maghrib-Gebet dann früher statt.«
Lisa nickte zum Zeichen, dass sie Kampels Erklärungen verstanden hatte. Dann las sie die nächsten beiden Zeilen des Gedichts vor. Dabei senkte sie ihre Stimme, denn es war ihr unangenehm diese Worte in der Öffentlichkeit auszusprechen: »›Jedoch um wirklich Diener unseres Allahs zu werden, musst du sogar bereit sein, um im Heil’gen Krieg zu sterben.‹« Lisa schüttelte es. »Dieser Abschnitt ist ziemlich eindeutig. Das Gedicht ruft dazu auf, in den Dschihad zu ziehen – in den Heiligen Krieg.«
Kampel nickte. »Sie haben durch Ihre Arbeit täglich mit islamischen Terroristen zu tun. Mit dem Konzept des Dschihads sind Sie wahrscheinlich bestens vertraut.«
Lisa setzte bei diesen Worten eine unsichere Miene auf. »Um ehrlich zu sein, weiß ich wahrscheinlich weniger über den Dschihad, als Sie denken. Meine Abteilung konzentriert sich vor allem auf die praktischen Aspekte im Kampf gegen den Terror: Wir observieren Gefährder, hören Telefonate ab, forschen nach Waffenkäufen … Aber wir beschäftigen uns nur am Rande damit, warum Terroristen ihre Angriffe verüben. Dafür haben wir andere Abteilungen.«
»Sie kennen die theologischen Aspekte des Dschihads also nur grob?«
»Ich fürchte ja. Vielleicht können Sie mir einen Schnellkurs darüber geben, was genau die islamischen Quellen über den Dschihad sagen. Wenn wir weiter dieser Fitna folgen wollen, sollte ich das wissen.«
Kampel nickte und überlegte einen Moment, wie er seine Ausführungen beginnen sollte. Dann zog er seinen Koran mit den vielen Klebezetteln aus der Jackentasche und legte ihn zwischen sich und Lisa auf den Tisch. »Zunächst möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, wie häufig der Dschihad im Koran erwähnt wird. Sehen Sie all diese Klebezettel? Die meisten davon weisen auf Koranverse hin, die sich mit dem Heiligen Krieg beschäftigen. Wie viele das sind, habe ich nie gezählt. Ich kenne allerdings eine gut begründete Zählweise, die von 109 Koranversen zum Dschihad spricht.«[45]
Lisa pfiff bewundernd aus. »Das ist eine ganze Menge.«
Kampel nickte. »Der Dschihad ist einer der zentralen Aspekte des Islam. Das Wort Dschihad stammt von dem arabischen Verb dschahada, was so viel wie sich anstrengen oder sich bemühen bedeutet. Daraus leitet sich auch die Bedeutung des Dschihads ab: Ein Muslim muss jede Anstrengung erbringen, um den Islam in der Welt zu verbreiten und damit das Herrschaftsgebiet des Islam zu vergrößern. Diese Anstrengungen müssen nicht zwingend gewalttätig sein: Neben dem Dschihad durch die Hand oder durch das Schwert gibt es noch den Dschihad durch das Herz, die Zunge oder den Stift – damit werden Bekehrungsversuche im öffentlichen Raum angesprochen.«
»Der Heilige Krieg kann also auch friedlich geführt werden?«, fragte Lisa überrascht. »Das klingt widersprüchlich.«
»Es stimmt aber«, erwiderte Kampel. »Besonders die frühen Koranverse zum Dschihad betonen den friedlichen Kampf gegen die Ungläubigen. Die gewalttätigen Verse predigte Mohammed erst später in seinem Leben, als er nach Medina ausgewandert war und sich eine große Armee aufgebaut hatte.«
Als Kampel den fragenden Blick der Kommissarin bemerkte, wurde ihm bewusst, dass er zu weit vorgegriffen hatte. »Was wissen Sie über Mohammeds Leben?«, fragte er.
Lisa schüttelte den Kopf. »Überhaupt nichts, um ehrlich zu sein.«
»Dann möchte ich Ihnen einen kurzen Abriss über das Leben des Propheten geben. Sie müssen Mohammeds Biografie kennen, um zu verstehen, wie sich der Dschihad im Laufe seines Lebens von einem friedlichen zu einem gewalttätigen Unterfangen gewandelt hat.«
Kampel räusperte sich. »Über Mohammeds Geburtsdatum existieren verschiedene Angaben, aber die meisten Islamwissenschaftler gehen davon aus, dass er etwa im Jahr 570 in der arabischen Stadt Mekka geboren wurde, die im heutigen Saudi-Arabien liegt. Er wurde schon früh zum Waisen: Sein Vater war wahrscheinlich schon vor seiner Geburt gestorben und seine Mutter starb, als er sechs Jahre alt war. Er wurde daraufhin zu seinem Großvater gegeben, der zwei Jahre später jedoch ebenfalls verstarb. Von da an wuchs er bei seinem Onkel auf und betätigte sich als einfacher Schafhirte. Als er etwa 25 Jahre alt war, heiratete er Chadischa, seine erste Frau. Sie war 15 Jahre älter als er und zuvor bereits mit zwei Kaufmännern verheiratet gewesen, die jedoch beide verstorben waren. Durch die Heirat mit Chadischa wurde Mohammed finanziell unabhängig und arbeitete fortan als Kaufmann in Mekka.
Im Laufe seines Lebens hatte Mohammed es sich zur Gewohnheit gemacht, jedes Jahr einen Monat auf dem Dschabal an-Nūr – dem Berg des Lichts – zu verbringen, um dort Buße zu tun. Es handelte sich dabei um einen ›spirituellen Rückzug‹, wenn Sie so wollen. Solche Selbstfindungsreisen waren in der damaligen Zeit nichts Ungewöhnliches.
Als Mohammed im Jahre 610 auf dem Berg war und in der Höhle Hirā‘ hauste, erschien ihm nach eigenen Angaben der Erzengel Gabriel und offenbarte ihm eine göttliche Botschaft. Demnach berief Gott Mohammed zu seinem Sprachrohr unter den Menschen – dieses Ereignis wird deshalb als Berufung bezeichnet. Die Worte, die der Erzengel bei der Berufung zu Mohammed sprach, sind die allerersten offenbarten Koranverse. Sie finden sich heute in den ersten fünf Versen der Sure 96.«
»Die frühesten Koranverse sind in Sure 96?«, fragte Lisa verwundert dazwischen. »Sollten sie nicht eher in Sure 1 sein?«
Kampel schüttelte den Kopf. »Die Suren und Verse des Korans sind nicht nach chronologischer Reihenfolge angeordnet, sondern grob nach ihrer Länge: Am Anfang des Korans stehen die längsten Suren, am Ende die kürzesten.
Aber zurück zu Mohammed. Nachdem ihm seine ersten Koranverse offenbart wurden, kehrte er in seine Heimatstadt Mekka zurück und versuchte, die Leute von der göttlichen Botschaft, die er empfangen hatte, zu überzeugen. Das gestaltete sich jedoch als ein schwieriges Unterfangen, denn Mohammed war bei weitem nicht der einzige Prophet in Mekka.« Kampel machte mit den Händen eine ausschweifende Geste, so als würde er eine große Szene vor seinen Augen malen. »Sie müssen sich das Mekka der damaligen Zeit als eine Art ›Marktplatz der Religionen‹ vorstellen: Auf dem zentralen Platz versammelten sich jeden Tag etliche Propheten, die völlig unterschiedliche Götter und Glaubensvorstellungen predigten. Es muss damals zugegangen sein, wie bei den Marktschreiern: Die Propheten müssen durcheinandergerufen und dabei ihre jeweiligen Götter in den schillerndsten Farben angepriesen haben. Auf dem Hauptplatz von Mekka hatte sich schon damals die Kaaba befunden – das ist das würfelförmige, schwarze Gebäude, zu dem jeder Muslim einmal in seinem Leben pilgern soll. Anders als heute waren damals um die Kaaba herum jedoch noch zahlreiche Statuen von verschiedensten Göttern aufgebaut. Diese Bildnisse waren die Haupteinnahmequelle der Stadt Mekka, denn die Menschen kamen von überall her, um an den Götterdarstellungen zu ihrem jeweiligen Gott zu beten.« Kampel hatte bei seinen Ausführungen mit seinen Händen die Position der Kaaba und der sie umgebenden Statuen auf dem Tisch angedeutet.
»In Mekka herrschte der Polytheismus«, fuhr Kampel fort. »Die Menschen glaubten an viele nebeneinanderstehende Götter. Mohammed lehnte diese Vorstellung jedoch entschieden ab. Er predigte den Monotheismus, den strengen Glauben an einen einzigen Gott, so wie es auch das Judentum und das Christentum lehren. Mohammed waren die Götterstatuen, die um die Kaaba herum standen, ein Dorn im Auge. Er bezeichnete sie als ›Götzenbildnisse‹, das heißt als Darstellungen von falschen Göttern.
In den ersten Jahren von Mohammeds Tätigkeit als Prophet wuchs die Zahl seiner Anhänger nur sehr langsam. Nur wenige Mekkaner schenkten ihm Glauben. Die meisten belächelten ihn wohl eher. Mohammed predigte schon damals verschiedene Koranverse, die sich mit den Ungläubigen beschäftigten – also mit den Menschen, die nicht an seine Botschaft und an seine Vorstellung von einem einzigen Gott glaubten. Mohammed rief seine kleine Schar an Anhängern damals jedoch nicht zum Kampf gegen die Ungläubigen auf, sondern predigte, dass sie nachsichtig mit den Ungläubigen umgehen und ihnen Glück wünschen sollten.«
Kampel zog den Koran auf dem Tisch zu sich heran und schlug das Buch an einem Klebezettel auf. Dann las er vor:
[43:89] Sei nun nachsichtig gegen sie [die Ungläubigen] und sag: »Heil!« Sie werden dereinst schon noch zu wissen bekommen, was mit ihnen geschieht.
Während Kampel zu einer anderen Stelle blätterte, fuhr er mit seiner Erzählung fort: »Die von Mohammed verkündeten göttlichen Botschaften rieten den Muslimen damals nicht zum Kampf gegen die Ungläubigen, sondern dazu, ihren Unglauben geduldig zu ertragen.« Wieder las er vor:
[73:10] […] ertrage geduldig, was sie [die Ungläubigen] sagen, und halte dich schön ohne grob und verletzend zu werden vor ihnen zurück!
»Mohammed bezeichnete sich damals selbst als ›Warner‹ vor dem Unglauben – diese Phase in seinem Leben wird deshalb oftmals als Warnphase bezeichnet.[46]
In den folgenden Jahren konnte Mohammed immer mehr Anhänger für seine Glaubensvorstellung von einem einzigen Gott gewinnen. Damit machte er sich einflussreiche Feinde bei den Quraisch, den damaligen Herrschern über die Stadt Mekka. Die Quraisch befürchteten, dass Mohammeds monotheistische Lehre den Zustrom der polytheistischen Pilger beenden und damit ihre wirtschaftliche Existenz vernichten könnte – immerhin war der Pilgerstrom zu den Götterstatuen um die Kaaba ihre Haupteinnahmequelle. Deshalb fassten die Quraisch den Plan, Mohammed zu ermorden.«
Kampel rückte seine große Brille zurecht. »Kurz zuvor hatte Mohammed außerdem eine schwere persönliche Krise erlitten: Seine Frau Chadischa war im Jahr 619 gestorben. Sie war für Mohammed nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine enorme emotionale Stütze gewesen. Immerhin war sie der erste Mensch, der Mohammeds Berichten von seiner göttlichen Berufung Glauben schenkte und ihn darin bestärkte, dass er tatsächlich von einem Erzengel besucht worden war. Chadischa war damit zur historisch ersten gläubigen Muslimin geworden.«
Kampel registrierte zufrieden, dass Lisa ihm gebannt zuhörte und so fuhr er fort: »Nach Chadischas Tod hielt Mohammed nichts mehr in seiner Heimatstadt. Als er dann auch noch von dem Mordkomplott der Quraisch gegen ihn erfuhr, verließ er Mekka im Jahr 622. Er zog in die Stadt Yathrib, die über 300 Kilometer nördlich von Mekka lag und wo er entsprechend der damaligen Stammesgesetze beschützt wurde. Der Umzug von Mekka nach Medina wird als Hidschra – die Auswanderung – bezeichnet und markiert einen wichtigen Wendepunkt in der islamischen Geschichte. Während Mohammed in Mekka noch ein einfacher Prediger unter vielen war, entwickelt er sich in Yathrib zu einem wichtigen politischen Anführer. Mohammed wurde so wichtig, dass schon bald die ganze Stadt nach ihm benannt wurde: al-Madina – die Stadt des Propheten. Im Deutschen kennen wir die Stadt Yathrib entsprechend nur noch unter dem Namen Medina.
Die göttlichen Botschaften, die Mohammed in Medina offenbarte, unterscheiden sich grundlegend von denen, die er in Mekka verkündete. Während er in Mekka noch einen friedlichen Umgang mit den Ungläubigen predigte, rief er in Medina plötzlich zur gewalttätigen Auseinandersetzung mit ihnen auf.
Mohammed konnte in den nächsten Jahren eine stetig anwachsende Schar von Muslimen für sich gewinnen, aber er wusste, dass seine Armee es immer noch nicht mit den Quraisch in Mekka aufnehmen konnte. Dementsprechend rief er die Muslime zwar zum Kampf gegen die Ungläubigen auf, aber dies sollte zunächst nur der Selbstverteidigung dienen. Die Offenbarungen aus dieser Zeit werden deshalb in die defensive Kampfphase eingeordnet. In dieser Phase verkündete Mohammed den Muslimen, dass ihnen der Kampf gegen die Ungläubigen vorgeschrieben sei, aber dass sie ihn nach Möglichkeit vermeiden sollten.« Blitzschnell schlug Kampel den Koran an einem der vielen Klebezettel auf und las vor:
[2:216] Euch ist vorgeschrieben, gegen die Ungläubigen zu kämpfen, obwohl es euch zuwider ist. Aber vielleicht ist euch etwas zuwider, während es gut für euch ist, und vielleicht liebt ihr etwas, während es schlecht für euch ist. Gott weiß Bescheid, ihr aber nicht.
»Der Dschihad hatte zu dieser Zeit noch nicht seine radikalste Form angenommen«, erklärte Kampel. »Die Muslime sollten zwar kämpfen, aber nicht mit unnötig grausamen Mitteln.«
[2:190] Und kämpft um Gottes willen gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen! Aber begeht keine Übertretung, indem ihr den Kampf auf unrechtmäßige Weise führt! Gott liebt die nicht, die Übertretungen begehen.
»Da Mohammeds Armee noch zu klein war, um sich offen mit den Quraisch zu messen, verlegte er sich darauf, vorbeiziehende Karawanen zu plündern, die sich auf dem Weg nach Mekka befanden. Das wiederum führte natürlich zu Gegenangriffen der Mekkaner. Mohammed offenbarte den Muslimen in dieser Zeit, dass sie sich gegen diese Gegenangriffe wehren sollten.« Kampel blätterte zu einer anderen Stelle und las vor:
[22:39] Denjenigen, die bekämpft werden, ist die Erlaubnis zum Kämpfen erteilt worden, weil ihnen vorher Unrecht geschehen ist. […]
»Je größer Mohammeds Armee wurde, desto radikaler und aggressiver wurden auch die von ihm verkündeten Offenbarungen. Irgendwann fing er an, die Muslime ganz offen zum bedingungslosen und gewalttätigen Kampf gegen die Ungläubigen aufzufordern. Damit trat er in die offensive Kampfphase seiner Offenbarungstätigkeit ein. Die Verse aus dieser Phase sind die radikalsten im gesamten Koran. Auf diese Verse berufen sich Dschihadisten noch heute. Einer von vielen Versen aus dieser Zeit ist der sogenannte Schwertvers, der Muslime dazu aufruft, die Ungläubigen überall auf der Welt zu töten.«
[9:5] Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf! […]
»Im Jahr 630, als Mohammed 60 Jahre alt war, war seine Armee endlich groß genug, um sich mit den Quraisch zu messen. Mohammed eroberte seine alte Heimatstadt zurück und vernichtete die Götterstatuen, die um die Kaaba herum standen. Damit hatte er die polytheistischen Mekkaner endgültig mit seiner Armee aus monotheistischen Muslimen besiegt.«
»Waren seine Feldzüge damit vorbei?«, fragte Lisa.
»Keineswegs«, gab Kampel zurück. »Mohammeds erklärtes Ziel war es, die gesamte Welt islamisch zu machen. Dementsprechend konzentrierte er sich in seinen Feldzügen und Predigten der folgenden Jahre auf die Bekämpfung der Juden und Christen.« Kampel las eine weitere Koranstelle vor:
[9:30] Die Juden sagen: »Esra ist der Sohn Gottes.« Und die Christen sagen: »Christus ist der Sohn Gottes.« […] Diese gottverfluchten Leute, Gott bekämpfe sie! […]
»Mehreren Hadithen zufolge verkündete Mohammed, dass die Muslime von nun an jederzeit zum Heiligen Krieg bereitstehen mussten, wenn ein muslimischer Führer sie dazu aufrief.« Kampel holte die losen Blätter aus dem Umschlag des Korans hervor, die er eng mit Hadithen bedruckt hatte. Nach kurzem Suchen las er eine Überlieferung vor:
Der Prophet Gottes sagte am Tag der Eroberung Mekkas: »Es gibt jetzt keine Auswanderung mehr, nur noch den Dschihad. Und wenn ihr zum Dschihad gerufen werdet, müsst ihr sofort kommen.« […][47]
Kampel öffnete mit einem Tastendruck auf seinem Handy das zweite Fitna-Gedicht und deutete auf die mittleren beiden Zeilen. »›Jedoch um wirklich Diener unseres Allahs zu werden, musst du sogar bereit sein, um im Heil’gen Krieg zu sterben‹«, zitierte er. »An dieser Stelle wird ein sehr wichtiger Aspekt des Dschihads angesprochen. Verschiedenen Koranversen zufolge ist der Heilige Krieg für den Islam noch wichtiger als das Gebet.« Kampel schlug den Koran an einer anderen Stelle auf und las vor:
[4:95] Diejenigen Gläubigen, die daheim bleiben, statt in den Krieg zu ziehen […], sind nicht denen gleichzusetzen, die mit ihrem Vermögen und mit ihrer eigenen Person um Gottes willen Krieg führen. Gott hat diejenigen, die mit ihrem Vermögen und mit ihrer eigenen Person Krieg führen, gegenüber denjenigen, die daheim bleiben, um eine Stufe höher bewertet. […]
Rasch blätterte Kampel weiter und zitiere eine andere Stelle:
[9:19] Wollt ihr denn die Tränkung der Pilger und die Instandhaltung der heiligen Kultstätte gleich bewerten, wie wenn jemand an Gott und den jüngsten Tag glaubt und um Gottes willen Krieg führt? Bei Gott gelten sie nicht gleich viel. Gott leitet das Volk der Frevler nicht recht.
»Ähnlich äußerte sich Mohammed auch in verschiedenen als authentisch eingestuften Hadithen. Demnach gibt es für Gott keine wertvollere Tat als im Namen des Dschihads zu kämpfen.«[48]
Kampel wandte sich wieder seinem Handy zu und zitierte die vorletzte Zeile des Gedichts: »›Wirf Schrecken in das Herz Europas, das soll sein dein Sieg.‹ Dieser Vers beschreibt eines der wichtigsten Ziele des Dschihads: Muslime sollen Schrecken in die Herzen der Ungläubigen werfen. Im Koran heißt es dazu …«
[3:151] Wir werden denen, die ungläubig sind, Schrecken einjagen zur Strafe dafür, dass sie dem einen Gott andere Götter beigesellt haben, wozu er keine Vollmacht herabgesandt hat. […]
Kampels Finger schnellten zu einem weiteren Klebezettel in seinem Koran. »Dieser Aspekt wird an anderer Stelle im Koran nochmals wiederholt …«
[8:12] […] Ich werde denjenigen, die ungläubig sind, Schrecken einjagen. […]
»Der Autor der Fitna hat sich in seinem Gedicht offensichtlich auf eine der traditionelleren Koranübersetzungen berufen.« Kampel deutete auf den Koran vor sich. »Meine Koranübersetzung stammt von Rudi Paret. Was Paret als ›Schrecken einjagen‹ umschreibt, heißt in vielen anderen Übersetzungen ›Schrecken in die Herzen werfen‹, so wie im Gedicht.«[49]
»›Schrecken in die Herzen werfen‹«, wiederholte Lisa und erschauerte. »Das klingt nach einem Aufruf zum Terrorismus.«
Kampel nickte. »Heute würden wir das sicherlich so bezeichnen. Mohammed selbst erklärte den Muslimen in einem Hadith, dass das Verängstigen seiner Gegner eine seiner erfolgreichsten Kriegsstrategien ist.«[50]
»Wann endet der Dschihad?«
»Wenn man sich auf die Koranverse der offensiven Kampfphase beruft, endet der Dschihad niemals. Zumindest nicht, solange die Ungläubigen noch leben. Demnach sollen die Muslime niemals in ihrem Kampf nachlassen.« Wieder las Kampel einen Koranvers vor:
[4:104] Und lasst nicht nach, den Feind aufzusuchen und zum Kampf zu stellen! […]
»Der Dschihad ist erst vorbei, wenn die Fitna beendet ist – das heißt, wenn es keine Ungläubigen mehr gibt, die Muslime zum Unglauben verführen könnten«, fasste Kampel zusammen. »Der Heilige Krieg ist erst beendet, wenn die ganze Welt islamisch ist.«
Lisa schluckte. »Oder wenn alle Ungläubigen tot sind.«
Kapitel 25
Lisa grübelte über die letzte Zeile des Gedichts und die darunterstehende Zahlenfolge:
Wo immer du auch stehst, die Zahlen weisen dir den Weg.
5231162012 1324479124
»Das hier muss der ausschlaggebende Hinweis hinter dem Rätsel sein«, sagte sie. »Die Zahlen unter dem Gedicht ›weisen uns den Weg‹ – sie sollen uns also irgendwohin führen. Haben diese Zahlen irgendeine spezielle Bedeutung im Islam, so wie die Sieben und die Siebzehn im ersten Gedicht?«
Kampel taxierte die Zahlen und überlegte eine Weile. Die Ziffernfolge erschien ihm völlig willkürlich. Wenn überhaupt, konnte er ihr nur vage Bedeutungen zuordnen. »Die erste Zahlenkolonne fängt mit einer Fünf an«, sagte er abwägend. »Die Fünf könnte für die fünf Säulen des Islam stehen, also die fünf Pflichten, die jeder Muslim zwingend erfüllen muss. Vielleicht symbolisiert sie auch die fünf Arten des Martyriums. Einem Hadith zufolge gibt es fünf Arten von Märtyrern: diejenigen, die an der Pest sterben, an Magenkrankheiten, die ertrinken, die von einem Gebäude stürzen und diejenigen, die für die Sache Gottes sterben – im Dschihad.«[51]
»Glauben Sie, der Autor will uns auf die fünf Formen des Märtyrertods hinweisen?«
Kampel seufzte. »Nein, ich halte das für unwahrscheinlich. Die Zahlen müssen irgendeine andere Bedeutung haben.«
Kampel starrte noch einmal auf die Zahlenfolge unter dem Gedicht und überlegte, ob ihm eine einzelne Ziffer besonders auffiel. Schließlich schüttelte er enttäuscht den Kopf. »Bis auf die Fünf und die Sieben erscheint mir keine der Zahlen eine besondere Bedeutung zu haben. Und die Zahlenfolge als Ganzes schon gar nicht.«
»Irgendetwas müssen wir übersehen haben«, sagte Lisa und stierte wieder auf ihr Smartphone, in der Hoffnung, den Ziffern irgendeine neue Erkenntnis abzugewinnen.
Auch Kampel zermarterte sich den Kopf. Vielleicht mussten die Zahlen anders angeordnet werden? In Gedanken sortierte er sie der Größe nach, aber auch das ergab keinen Sinn. Danach errechnete er die Quersumme der beiden Zahlenkolonnen, was er ebenfalls rasch verwarf. Nach einer Weile bemerkte er, dass die erste Zahlenkolonne mit der Zahl 2012 endete. War das vielleicht ein Hinweis auf das Jahr 2012? Hatte in dem Jahr ein wichtiges islamisches Ereignis stattgefunden?
Kampel wurde von Lisa aus seinen Gedanken gerissen. »Koordinaten!«, rief sie aufgeregt. »Die Zahlen sind GPS-Koordinaten!«
Kampel musste einen verwirrten Blick aufgesetzt haben, denn die Kommissarin setzte zu einer Erklärung an: »›Die Zahlen weisen dir den Weg, wo immer du auch stehst‹«, zitierte sie die letzte Zeile des Gedichts. »Das ist ein Hinweis auf GPS-Koordinaten! Sie weisen unabhängig von der eigenen Position auf einen genau festgelegten Ort irgendwo auf der Erde.«
Kampel sog überrascht die Luft ein, denn er erkannte sofort, dass Lisa recht hatte. Die GPS-Technik war ihm sehr wohl bekannt – immerhin verfügte inzwischen jedes Auto über ein GPS-gesteuertes Navigationssystem. Das Kürzel GPS stand für Global Positioning System und umschrieb ein Verfahren, das jede Position auf der Erde mithilfe von mehreren Satelliten bestimmen konnte. Ursprünglich war das System von der US-Regierung für militärische Zwecke entwickelt worden, wurde im Jahr 1983 aber auch für die Zivilbevölkerung zugänglich gemacht.
Kampel erinnerte sich an ein Gespräch zurück, das er vor einer Weile mit einem Bekannten geführt hatte. Der Mann war Dozent für Kartografie und hatte die ermüdende Angewohnheit, Kampel in regelmäßigen Abständen ausführlich von seinem Fach zu berichten. Kampel war in diesem Moment froh, dass er diese Privatvorträge stets geduldig über sich ergehen ließ, denn der Kartograf hatte ihm erst kürzlich die Funktionsweise des GPS-Systems erläutert. Demnach gibt es im All ein Netzwerk aus 30 GPS-Satelliten, die die Erde in einer Höhe von 20.000 Kilometern umkreisen und die mit extrem genauen Atomuhren ausgerüstet sind. Wenn einer der Satelliten ein Signal zu einem GPS-Empfänger auf der Erde sendet – das kann ein Navigationssystem im Auto oder auch ein GPS-fähiges Smartphone sein –, misst die Atomuhr an Bord des Satelliten die Zeit, die das Signal aus dem All bis zum Empfänger benötigt. Anhand dieser Signaldauer kann durch den Abgleich mit den anderen im Netzwerk verbundenen Satelliten die exakte Position des GPS-Empfängers auf der Erde bestimmt werden.
Kampel hatte plötzlich eine Erleuchtung. »›So regelmäßig wie ein Uhrwerk, auf Minutsekund’‹«, rief er aus. »Aber natürlich! Das GPS-System funktioniert mithilfe von Atomuhren. Das Gedicht hat uns einen versteckten Hinweis darauf gegeben.«
»Ich brauche kurz Ihr Handy«, sagte Lisa. Sie nahm Kampel das Smartphone aus der Hand und legte es neben ihr eigenes Telefon. Sie hatte ein Kartenprogramm geöffnet, in das die GPS-Koordinaten eines Punktes eingegeben werden konnten. Von Kampels Smartphone las sie die Zahlenfolge unter dem Gedicht ab und tippte sie in die Eingabemaske auf ihrem Handy. Als sie fertig war, verkündete der Bildschirm:
WGS (x° x.x’)
N 52° 31.162012’ E 13° 24.479124’
Voller Spannung drückte Lisa auf den Handybildschirm und beobachtete, wie sich eine Karte von Berlin aufbaute, auf der ein kleiner roter Punkt eingeblendet war. Indem Lisa die Finger auf dem Telefon spreizte, zoomte sie an den Punkt heran. Sie lächelte.
»Das ist es«, sagte sie. »Das muss der Ort sein, zu dem uns das Gedicht führt!«
Unvermittelt sprang sie vom Stuhl auf und zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu. »Wir sollten uns sofort auf den Weg machen! Je schneller wir sind, desto bessere Chancen haben wir, unserem arabischen Freund zuvorzukommen.«
Kapitel 26
Der Dschinn schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett seines Wagens.
»Diese Ungläubige arbeitet in einer Antiterroreinheit?«, brüllte er durch die Freisprechanlage.
»Ohne Zweifel«, tönte Raschids Stimme blechern aus dem Lautsprecher. »Die Waffe, die du dieser Frau abgenommen hast, stammt aus dem Bestand des Bundeskriminalamts. Sie gehört einer Kommissarin namens ›Lisa Albers‹. Sie arbeitet in der Abteilung für politische Kriminalität und hat sich auf die Bekämpfung von Mudschahidin spezialisiert.« Raschid machte eine kurze Pause. »Und soweit ich es aus ihren Akten lesen kann, ist sie ziemlich gut.«
Der Dschinn schlug erneut auf das Armaturenbrett. Schlimm genug, dass ausgerechnet ein Religionswissenschaftler der Fitna nachging – aber dann auch noch eine Kommissarin aus dem Fachgebiet Dschihadismus? Das brachte die Mission ernstlich in Gefahr.
»Wo zur Hölle sind diese beiden Ungläubigen jetzt?«, bellte er. »Ich empfange immer noch kein GPS-Signal von ihnen!«
Zum wiederholten Male kontrollierte der Dschinn das Ortungsprogramm auf seinem Handy. Noch vor einer halben Stunde hatte er dort einen roten Punkt gesehen, der ihm die Position des Religionswissenschaftlers und der Polizistin angezeigt hatte. Das Signal war bis zur U-Bahn-Station auf dem Pariser Platz gewandert und seitdem nicht wieder aufgetaucht.
»Du hast versprochen, dass diese GPS-Technik funktionieren würde«, keifte der Dschinn mit glühendem Zorn.
Raschid schwieg einen Moment. »Das sollte sie auch«, sagte er betont ruhig. »Vermutlich sind die beiden immer noch in der U-Bahn. Dort kann der GPS-Sender nicht senden. Wahrscheinlich kommt das Signal jeden Moment zurück. Es sei denn …« Raschid brach mitten im Satz ab.
»Es sei denn was?«
»Es sei denn, sie haben den Sender entdeckt und zerstört.«
Bei diesem Gedanken wurde der Dschinn noch wütender. »Was machen wir dann?«
Wieder schwieg Raschid einen Moment, bevor er antwortete. »Du weißt, dass ich noch gewisse andere Möglichkeiten habe, um die beiden zu verfolgen. Ich könnte eine Fahndung nach ihnen an alle Polizeistellen herausgeben.«
»Bloß nicht!«, stieß der Dschinn hervor. »Das würde nur die Aufmerksamkeit auf uns lenken. Je mehr Leute von unserer Mission erfahren, desto stärker ist sie in Gefahr.«
»Ich weiß, aber womöglich haben wir keine andere Wahl.« Raschid schien eine Weile zu überlegen. »Wenn es dich tröstet: Ich glaube, diese Kommissarin Albers wird die Polizei ebenfalls nicht hinzuziehen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Sie hat einen Verdächtigen umgebracht, seine Leiche in einem Kleintransporter quer durch Berlin gekarrt und einen privaten Religionswissenschaftler hinzugezogen. Das entspricht nicht gerade dem offiziellen Vorgehen. Für mich sieht es so aus, als wollte sie in dieser Sache alleine ermitteln und ihre Kollegen auf jeden Fall heraushalten. Ich glaube, sie wird niemanden um Hilfe bitten, außer Kampel.«
Gerade als der Dschinn zu einer Antwort ansetzen wollte, vibrierte das Smartphone in seiner Hand. Es war eine Benachrichtigung seines Ortungsprogramms. Er öffnete die Kartenansicht und sah einen roten Punkt, der in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs blinkte.
Da sind sie!
Sofort wurde dem Dschinn klar, warum er die ganze Zeit kein GPS-Signal empfangen hatte: Die Ungläubigen mussten mit der U-Bahn zum Hauptbahnhof gefahren sein und hatten sich dort in einem Untergeschoss versteckt.
Doch jetzt wusste er endlich wieder, wo sie waren.
»Das Signal ist zurück«, sagte der Dschinn kurz angebunden. »Ich melde mich wieder bei dir.« Ohne eine Antwort abzuwarten, beendete er das Gespräch mit Raschid und ließ den Wagen an.
Als er losfuhr, dachte er über Raschids letzte Mitteilung nach. Sein Partner hatte wahrscheinlich recht. Die Polizistin wollte der Fitna vermutlich alleine hinterherjagen. Sie würde also keinem ihrer Kollegen davon berichten.
Die Mission konnte noch immer unentdeckt durchgeführt werden.
Wie so häufig fuhr die Hand des Dschinn über den großen Schalldämpfer seiner Pistole. Er musste nur die beiden Ungläubigen ausschalten und niemand würde jemals von der Existenz der Fitna erfahren.
Kapitel 27
Gedankenverloren betrachtete Kampel die immer gleich aussehenden Neubauten aus Glas und Beton, die an dem Zugfenster vorbeizogen. Er und Lisa waren am Hauptbahnhof in eine S-Bahn gestiegen und befanden sich nun auf dem Weg zum nächsten Ziel der Fitna, tief in der Berliner Innenstadt.
Die Kommissarin rüttelte ihn aus seinen Gedanken, indem sie ihn anstupste und auf das Smartphone in ihrer Hand deutete. Sie hatte noch immer das zweite Gedicht aufgeschlagen.
»Die beiden Gedichte haben die selbe Struktur«, sagte Lisa. »Das zweite Gedicht ist wieder ein Septenar aus sechs Zeilen, in dem jede Zeile jambisch ist – genau wie im ersten Gedicht.«
Kampel nahm Lisa das Smartphone aus der Hand und las sich das Gedicht langsam durch, wobei er in Gedanken jede Silbe besonders stark betonte. Sie hatte recht. Doch plötzlich fiel ihm noch etwas anderes an dem Text auf.
»Das Gedicht hat tatsächlich die selbe Struktur wie das erste«, stieß er hervor. »Aber nicht nur formal, sondern auch inhaltlich. Erinnern Sie sich noch an die erste Zeile aus dem ersten Gedicht?«
»›Es gibt nur einen Gott und Mohammed ist sein Prophet‹«, zitierte Lisa, ohne lange überlegen zu müssen.
Kampel nickte. »Diese Zeile hatte im ersten Gedicht die erste Säule des Islam umschrieben: die Schahāda, das islamische Glaubensbekenntnis.« Er deutete auf Lisas Smartphone in seiner Hand. »Im zweiten Gedicht wird zu Anfang ebenfalls eine Säule des Islam beschrieben, nämlich die Salāt, das Ritualgebet der Muslime. Das ist die zweite Säule des Islam!«
Lisa schnappte überrascht nach Luft. »Glauben Sie, diese Fitna besteht aus insgesamt fünf Gedichten? Eines für jede Säule des Islam?«
Dieser Gedanke beunruhigte Kampel. »Wenn das stimmt, haben wir einen langen Abend vor uns. Das hieße, dass wir noch drei Gedichte und damit drei weitere Rätsel vor uns hätten.«
»Zwei Säulen des Islam haben wir immerhin schon: das Glaubensbekenntnis und das Gebet. Was sind die drei anderen Säulen?«
»Die dritte Säule ist die Zakāt. Das ist eine Almosenabgabe für Arme, Bedürftige und zur Verbreitung des Islam. Die vierte Säule, Saum, verpflichtet die Muslime zum Fasten im heiligen Monat Ramadan. Die fünfte Säule ist der Haddsch – die Pilgerfahrt nach Mekka, auf die sich jeder Muslim einmal in seinem Leben begeben muss.«
»Hoffentlich schickt uns das letzte Gedicht nicht nach Mekka«, murrte Lisa gespielt. »Ich habe leichte Flugangst.«
Kampel lachte. »Dann müssten wir die Verfolgung der Fitna sowieso aufgeben. Ungläubige dürfen Mekka nicht betreten.«
In diesem Moment fuhr der Zug in einem Bahnhof ein. »Hier müssen wir raus«, sagte Lisa und zog Kampel nach draußen, als sich die Türen öffneten. Sie trat auf den Bahnsteig und ging sofort weiter zum Ausgang. »Wir gehen zur nächsten Straßenbahnhaltestelle. Eigentlich könnten wir von hier aus auch zu unserem Ziel laufen, aber mit der Straßenbahn sind wir noch ein kleines bisschen schneller.«
Im Gehen sah sich Lisa immer wieder in alle Richtungen um. Sie hoffte inständig, dass sie den Araber abgeschüttelt hatten, aber sie wollte auf alles vorbereitet sein. Wenn er in der Nähe auftauchen würde, würden sie und Kampel rennen müssen. Um ihre aufkommende Nervosität zu überspielen, verwickelte sie Kampel in ein Gespräch: »Ich habe schon häufig gehört, dass Dschihadisten glauben, dass sie nach ihrem Tod ins Paradies eintreten und dort reich belohnt werden. Allerdings habe ich nur eine sehr vage Vorstellung davon, was genau sie sich vom Paradies erhoffen. Was sagen die islamischen Quellen dazu?«
Kampel überlegte eine Weile, wie er die ausufernden islamischen Paradiesbeschreibungen zusammenfassen sollte. Schließlich räusperte er sich. »Fangen wir mit dem Namen an: Das Paradies heißt im Arabischen Dschanna, aber viele Muslime kennen es auch unter dem Namen die sieben Himmel, weil es aus sieben über der Erde aufeinandergestapelten Himmeln besteht.«
»Die heilige Zahl Sieben«, murmelte die Kommissarin.
»Ich bin froh, dass Sie aufgepasst haben«, sagte Kampel lachend. »Die sieben Himmel des Paradieses fungieren als eine Art Belohnung für das Leben der Muslime: Je frommer ein Muslim im Diesseits war, desto höher ist die Etage, auf der er im Paradies platziert wird. Im siebten Himmel, direkt unter dem Thron Gottes, sind dementsprechend nur die frommsten Muslime.«
Lisa kam plötzlich etwas in den Sinn. »Kommt daher die Redensart ›sich im siebten Himmel befinden‹? Hat das mit dem islamischen Paradies zu tun?«
Kampel schüttelte den Kopf. »Die Redewendung der ›sieben Himmel‹ geht wohl eher auf Aristoteles zurück, der den Himmel entsprechend der damals bekannten sieben klassischen Planeten einteilte. Die Vorstellung der sieben Himmel ist keine originär islamische Idee. Die sieben Himmel werden auch im jüdischen Talmud beschrieben und in den Apokryphen der Christen kurz erwähnt – jenen religiösen Texten, die es nicht in die endgültige Fassung der heutigen Bibel geschafft haben.«
Sie waren inzwischen an der Straßenbahnhaltestelle angekommen. Lisa warf einen Blick auf den dort ausgehangenen Fahrplan und dann auf ihre Uhr. Sie bedeutete Kampel mit einer Geste, dass sie noch ein paar Minuten würden warten müssen. »Also wie sieht es in diesen sieben Himmeln aus?«, fragte sie.
»Mohammed hat seinen Jüngern das Paradies in den fantastischsten Farben beschrieben, die man sich nur vorstellen kann. Demnach ist jeder der sieben Himmel genauso groß wie die Erde und …«[52]
»Moment«, unterbrach Lisa. »Wenn die Himmel über der Erde aufeinandergestapelt sind, müsste der siebte Himmel doch größer als die anderen sein – wie der äußerste Jahresring an einem Baumstamm.«
Kampel lächelte. »Sie vergessen, dass zu Mohammeds Zeiten nicht bekannt war, dass die Erde rund ist. Für ihn war die Erde flach und dementsprechend stellte er sich die Himmel ganz einfach übereinandergestapelt vor, wie die Schichten einer Lasagne.«
Lisa musste über diesen Vergleich lachen. »Ich verstehe. Fahren Sie fort. Sie waren bei der Größe des Paradieses.«
»In einem Hadith erzählt Mohammed, dass die sieben Himmel viel größer als die Erde seien. Demnach gebe es im Paradies einen Baum, der so gigantisch ist, dass ein Reiter hundert Jahre benötigt, um seinen Schatten zu durchqueren. Die einzelnen Ebenen des Paradieses werden im Koran wie gigantische Gärten beschrieben – mit Bächen, in denen Milch, Honig und Wein fließen. Die Paradiesbewohner trinken Wein aus dem edelsten Geschirr aus Gold und Silber, liegen faul herum und tragen prunkvolle Kleider und Schmuck. Außerdem ist es weder zu warm, noch zu kalt, und es gibt Essen in Hülle und Fülle.«[53]
»Offenbar beschreibt Mohammed das Paradies genau so, wie man es von einem in der Wüste aufgewachsenen Schafhirten erwarten würde«, kommentierte Lisa.
Kampel nickte. »Dann gibt es im Paradies natürlich noch die Huris – die schönen Jungfrauen, die den männlichen Muslimen beiseitegestellt werden. Die Huris werden im Koran fast ausführlicher beschrieben als der ganze Rest des Paradieses. Sie waren für die männlichen Anhänger Mohammeds wohl schon zu seinen Lebzeiten die eigentliche Hauptattraktion. Dem Koran zufolge handelt es sich bei den Huris um Mädchen mit großen Augen ›voller Wunder und Schönheit‹, aus denen sie die Paradiesbewohner ›mit bescheidenen Blicken‹ ansehen. Die Huris sind alle im gleichen Alter und haben große, schwellende Brüste. Und sie sind natürlich – darauf legt der Koran besonderen Wert – Jungfrauen, ›die weder Mensch noch Dschinn zuvor berührte‹. Außerdem heißt es, sie gleichen ›verborgenen Perlen‹ oder einem ›versteckten Ei‹. Ich persönlich glaube, dass diese Ausdrücke ebenfalls die Jungfräulichkeit der Huris beschreiben.«[54]
»Ich habe gehört, dass jeder Mann im Paradies 72 Jungfrauen bekommt. Stimmt das?«
»Diese Zahl steht so nicht im Koran, wird aber in einigen Hadithen erwähnt, die allerdings als nicht-authentisch eingestuft wurden.[55] Auch in anderen nicht-authentischen Hadithen finden sich einige äußerst fantasievolle Schilderungen der Huris. Demnach muss der Sex mit ihnen wahrhaft himmlisch sein. Es heißt, der Penis eines Paradiesbewohners würde niemals erschlaffen und er hätte beim Geschlechtsverkehr die Kraft von 100 Männern.«[56]
»Was passiert, wenn ein Muslim mit allen 72 Jungfrauen geschlafen hat?«, fragte Lisa. »Dann hat er per Definition keine Jungfrauen mehr übrig, oder?«
Kampel lächelte. »Das haben sich schon zahlreiche muslimische Männer gefragt – dementsprechend ausführlich wurde diese Frage von den islamischen Rechtsschulen erörtert. Die meisten Gelehrten zitieren in ihren Urteilen einen Hadith, wonach sich jede Huri nach dem Geschlechtsverkehr wieder in eine Jungfrau zurückverwandelt. Der Paradiesbewohner hat seine 72 Jungfrauen also für immer.«
»Wenn die muslimischen Männer im Paradies 72 Jungfrauen bekommen, was bekommen dann die muslimischen Frauen?«
»Auch zu dieser Frage wurde schon mehr als ein islamisches Rechtsgutachten erstellt. Ein saudi-arabisches Gutachten kommt zu dem Schluss, dass Frauen in den sieben Himmeln einfach nur mit ihrem Ehemann zusammen sind, da dies ihr größter Wunsch sei und im Paradies der Wunsch jedes Gläubigen erfüllt werde.«
Lisa wartete einen Augenblick. Als sie merkte, dass Kampel nichts weiter zu seiner Erklärung hinzufügte, fragte sie empört: »Frauen sind im Paradies also nur mit ihrem Mann zusammen? Das ist alles?«
»Das ist alles«, bestätigte Kampel lachend. »Ich fürchte, für die muslimischen Frauen gibt es im Paradies keine 72 männlichen Stripper, die ihre durchtrainierten Sixpacks zeigen.«
»Also müssen die Frauen zuschauen, wie sich ihre Ehemänner mit den Huris vergnügen?«
»Wie das genau abläuft, ist meines Wissens nicht geklärt. Allerdings kenne ich einige islamische Rechtsgutachten, wonach muslimische Ehefrauen zum Harem ihres Ehemanns gehören und darin eine Huri ersetzen: Ein Mann, der im Diesseits mit zwei Frauen verheiratet ist, bekommt im Paradies also seine zwei Ehefrauen und dazu 70 Huris, wodurch er auf einen Harem von 72 Frauen kommt.«
»Na toll«, murrte die Kommissarin. »Kommt eigentlich jeder Muslim ins Paradies?«
»Das ist der Knackpunkt an der ganzen Sache«, sagte Kampel und machte eine unsichere Handbewegung. »Nach islamischer Vorstellung wird es irgendwann in der Zukunft einen Tag des Jüngsten Gerichts geben, an dem Gott alle Muslime zu sich holt und die guten Taten eines jeden Gläubigen gegen seine schlechten abwägt. Wer mehr gute als schlechte Taten verrichtet hat, darf in die sieben Himmel eintreten. Letztlich liegt die Entscheidung darüber aber einzig und allein bei Gott. Ein Muslim kann sich also nie ganz sicher sein, ob er wirklich genug gute Taten gesammelt hat, um ins Paradies zu gelangen. Anders bei Dschihadisten: Ihnen wird im Koran immer wieder garantiert, dass sie auf jeden Fall ins Paradies kommen.« Kampel klappte den Koran in seiner Hand auf und las einen Vers vor:
[9:88-89] Aber der Gesandte und diejenigen, die mit ihm glauben, führen mit ihrem Vermögen und in eigener Person Krieg. Ihnen kommen dereinst die guten Dinge zu, und ihnen wird es wohl ergehen. Gott hat für sie Gärten bereit, in deren Niederungen Bäche fließen, und in denen sie ewig weilen werden. Das ist dann das große Glück.[57]
»Der Dschihad wird im Koran häufig als eine Art Geschäft zwischen dem Dschihadisten und Gott beschrieben. Genau genommen ist es ein Tauschgeschäft: der Tod im Dschihad gegen das ewige Leben im Paradies.« Kampel blätterte schnell zwischen mehreren Koranstellen, die er nacheinander vorlas:
[4:74] Diejenigen aber, die das diesseitige Leben um den Preis des Jenseits verkaufen, sollen um Gottes willen kämpfen. Und wenn einer um Gottes willen kämpft, und er wird getötet – oder er siegt –, werden wir ihm im Jenseits gewaltigen Lohn geben.
[9:111] Gott hat den Gläubigen ihre Person und ihr Vermögen dafür abgekauft, dass sie das Paradies haben sollen. Nun müssen sie um Gottes willen kämpfen und dabei töten oder selber den Tod erleiden. […] Freut euch über euren Handel, den ihr mit ihm abgeschlossen habt, indem ihr eure Person und euer Vermögen gegen das Paradies eingetauscht habt! Das ist dann das große Glück.[58]
Als Kampel den Vers 9:111 vorgelesen hatte, kam ihm eine interessante Theorie in den Sinn, die er vor Kurzem gehört hatte: Demnach hatten die Terroristen, die für den Anschlag auf das World Trade Center verantwortlich gemacht wurden, den 11. September 2001 für ihre Attacke ausgewählt, weil sie mit diesem Datum – in amerikanischer Schreibweise 9/11/01 – auf den Vers 9:111 aufmerksam machen wollten. Kampel erwähnte dies jedoch nicht gegenüber Lisa, denn er hielt diesen Zusammenhang für rein zufällig.
Die Kommissarin hatte sich die von Kampel vorgelesenen Verse eine Weile durch den Kopf gehen lassen und nickte nun. »Dass Dschihadisten glauben, sich mit ihrem Tod einen Platz im Paradies zu erkaufen, erklärt, warum sie sich wesentlich häufiger für Selbstmordattentate entscheiden als andere Terroristen. Ich kenne eine Untersuchung, wonach im Jahr 2015 von über 400 Selbstmordanschlägen nur zwei keinen islamischen Hintergrund hatten.«[59]
In diesem Augenblick hielt eine Straßenbahn an der Haltestelle. Kampel und Lisa stiegen in die Bahn und blieben gleich an der Tür, da sie nur eine Haltestelle fahren wollten.
Kampel fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Der Tod im Dschihad ist die größte Tat, die ein Muslim erbringen kann, wie Mohammed in zahlreichen authentischen Hadithen immer wieder erklärte.« Er zog das lose Blatt mit den Hadithen aus seinem Koran und las vor:
Jemand fragte: »Oh Gesandter Gottes! Wer ist der Beste unter den Leuten?« Gottes Gesandter antwortete: »Ein Gläubiger, der mit seinem Leben und seinem Besitz sein Äußerstes für die Sache Gottes [also den Heiligen Krieg] gibt.« […][60]
Der Prophet sagte: »Eine einzige Anstrengung im Kampf für die Sache Gottes [den Heiligen Krieg] am Vormittag oder am Nachmittag ist besser als die Welt und was immer in ihr ist.«[61]
»Dschihadisten erwartet nicht nur der sichere Eintritt ins Paradies«, flüsterte Kampel, »sondern sie werden dort noch wesentlich bevorzugt. Wie ich Ihnen erklärte, ist das Paradies in sieben Himmel unterteilt – und die Dschihadisten kommen in höhere Etagen des Paradieses als gewöhnliche Muslime.« Wieder blätterte Kampel im Koran und las dann vor:
[9:20] Diejenigen, die glauben und ausgewandert sind und mit ihrem Vermögen und in eigener Person um Gottes willen Krieg geführt haben, stehen bei Gott in höherem Ansehen als die anderen. Ihnen wird großes Glück zuteil.[62]
»Einem Hadith zufolge ist der siebte Himmel wiederum in 100 Stufen eingeteilt, die allesamt für die Kämpfer im Heiligen Krieg reserviert sind«, fügte Kampel hinzu.[63]
»Das sind große Versprechungen.«
»Ja. Und es sind Versprechungen, die Dschihadisten auf der ganzen Welt glauben. Diese Menschen sind fest davon überzeugt, dass sie mit ihren Terroranschlägen ins Paradies gelangen.«
Lisa nickte. Sie versuchte sich auszumalen, wie viele Menschen wegen dieser Versprechungen getötet worden waren. Es waren zu viele, um sich die Zahl auch nur im Ansatz vorzustellen. Sie kannte eine Studie des Londoner King’s College, wonach alleine im November 2014 auf der ganzen Welt über 5000 Menschen im Namen des Dschihads getötet worden waren – rund sieben pro Stunde.[64] Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Die Fitna, der sie hinterherjagten, würde sie zu einem der Menschen führen, der für diese Zahl verantwortlich war.
Kapitel 28
Die Straßenbahn setzte Kampel und Lisa mitten im Zentrum Berlins ab.
Links von ihnen, nur wenige hundert Meter entfernt, ragte der Berliner Fernsehturm wie eine gigantische Nadel aus Stahl und Beton in den Nachthimmel. Sie waren dem Turm so nahe, dass Kampel seinen Kopf in den Nacken legen musste, um einen Blick auf die charakteristische Glaskugel an der Spitze zu werfen, in der sich ein Restaurant und ein bei Touristen beliebter Aussichtspunkt befanden. Mit seinen insgesamt 368 Metern war der Fernsehturm das größte Bauwerk Deutschlands.
Lisa schenkte dem berühmten Wahrzeichen keine Beachtung und tippte auf ihrem Handy herum. Dann zeigte sie zu einer Ansammlung von nebeneinander aufgestellten Holzhütten, zu der unablässig Menschen aus allen Richtungen strömten. »Wir müssen in den Weihnachtsmarkt«, sagte sie, ging über die Straße und verschwand in der Menge.
Kampel folgte der Kommissarin und genoss für einen Moment die wunderbare Atmosphäre um ihn herum. Sie waren nun mitten im Weihnachtsmarkt am Roten Rathaus. In den kleinen Buden, vor denen sich zahlreiche Menschen drängelten, wurden die unterschiedlichsten Dinge verkauft: Mandeln, kandierte Äpfel, Bratwürste, Lebkuchen mit Aufschriften aus Zuckerguss, Weihnachtsschmuck und natürlich immer wieder Glühwein in den verschiedensten Sorten, der die ganze Umgebung in einen angenehmen Duft hüllte. Komplettiert wurde die Atmosphäre von der sanften Weihnachtsmusik, die aus den Lautsprechern über ihnen tönte und von einem großen Riesenrad, das fröhlich rot und gelb blinkte.
Als Kampel nach dem Anhänger in seiner Jacke tastete, verflogen seine schwärmerischen Gedanken für den Weihnachtsmarkt abrupt. Er wurde sich schmerzhaft bewusst, dass er nicht aus eigenem Antrieb hier war, sondern weil ihn die Aufnahmeprüfung einer islamischen Terrororganisation hierhergeführt hatte. Es schüttelte ihn bei der Vorstellung, dass die Terroristen womöglich sogar einen Anschlag auf diesen Weihnachtsmarkt ins Auge fassten. Kampel musste an den Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz denken, mitten in Berlin. Dort war am 19. Dezember 2016 ein Dschihadist mit einem Lkw in die Besucher gerast und hatte dabei 11 Menschen getötet und 55 weitere verletzt.
Dieses Vorgehen war mittlerweile leider keine Seltenheit mehr. Allein in den Jahren 2016 und 2017 hatte es in Europa zahlreiche ähnliche Anschläge gegeben, bei denen Dschihadisten jedes Mal mit einem Lkw oder einem Auto in eine Menschenmenge gerast waren. Die Aufzählung dieser Attentate las sich wie eine Liste des Schreckens:
Juli 2016 – Nizza, Frankreich: Dschihadist fährt mit einem Lkw durch eine Strandpromenade, auf der der französische Nationalfeiertag gefeiert wird. 86 Tote, über 400 Verletzte.
Dezember 2016 – Berlin, Deutschland: Dschihadist fährt mit einem Lkw durch einen Weihnachtsmarkt. 11 Tote, 55 Verletzte.
März 2017 – London, Vereinigtes Königreich: Dschihadist fährt mit einem Auto in eine Menschenmenge auf der Westminsterbrücke. 6 Tote, 49 Verletzte.
April 2017 – Stockholm, Schweden: Dschihadist fährt mit einem Lkw durch ein Einkaufszentrum. 5 Tote, 14 Verletzte.
August 2017 – Barcelona, Spanien: Dschihadist fährt mit einem Lieferwagen durch den Boulevard Las Ramblas. 14 Tote, 118 Verletzte.
Kampel wusste, dass die entsprechenden Attentäter ihre Anschläge häufig mit dem Koran begründet hatten. Sie beriefen sich dabei auf einen Vers, der forderte, die Ungläubigen mit »Schlachtrossen« zu bekämpfen. Viele Dschihadisten interpretierten Lkws und Autos als eine moderne Form dieser Kriegspferde.
[8:60] Und rüstet für sie [die Ungläubigen], soviel ihr an Kriegsmacht und Schlachtrossen aufzubringen vermögt, um damit Gottes und eure Feinde einzuschüchtern, und andere außer ihnen, von denen ihr keine Kenntnis habt, wohl aber Gott! […]
Kampel und Lisa erreichten die Mitte des Weihnachtsmarktes, wo sich die Buden zu einem kleinen Platz hin öffneten. In der Mitte des Platzes erhob sich ein beeindruckender kreisförmiger Springbrunnen, um den eine Schlittschuhbahn aufgebaut war.
»Das ist unser Ziel«, verkündete Lisa und zeigte auf den Springbrunnen. »Der Neptunbrunnen.«
Kampel nahm sich einen Moment Zeit, um den imposant angestrahlten Neptunbrunnen in sich aufzunehmen. Die Statue in der Mitte des Brunnens zeigte einen muskulösen, halbnackten Mann mit einem langen Bart, der einen Dreizack in der Hand hielt. Es handelte sich dabei um den römischen Meeresgott Neptun. Er thronte auf einer Muschelschale, die vier Fabelgestalten unter ihm in die Luft hielten. Im Sommer, wenn der Brunnen in Betrieb war, spritzten verschiedene Meerestiere in der Brunnenschale Wasser aus ihren Mäulern zu Neptun hinauf. Am Rand des Brunnens saßen vier spärlich bekleidete Frauenfiguren, die die vier ehemals deutschen Flüsse Rhein, Weichsel, Oder und die Elbe darstellen sollten.
Nachdem Lisa einen kontrollierenden Blick auf ihr Handy geworfen hatte, zeigte sie am Brunnen vorbei auf mehrere Marktstände, die in Richtung des Roten Rathauses lagen. »Die Koordinaten liegen nicht genau auf dem Brunnen, sondern irgendwo dort hinten«, sagte sie. »Dort muss die andere Hälfte des QR-Codes sein.«
Mit eiligen Schritten ging Lisa über den kleinen Platz und bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge. Kampel folgte ihr auf dem Fuß und musste sich anstrengen, um Schritt zu halten. Scheinbar mühelos huschte die Kommissarin durch die Besuchermassen des Weihnachtsmarkts und warf dabei immer wieder einen Blick auf ihr Smartphone. Auf dem Bildschirm sah Kampel einen Kompass, der die Richtung und die Entfernung zu ihrem Zielpunkt anzeigte.
»Noch vierzig Meter«, sagte Lisa und beschleunigte ihre Schritte. »Dreißig Meter. Zwanzig Meter. Zehn …«
Sie brach mitten im Satz ab, als sie ihren Blick von dem Smartphone nach oben wandte.
Kampel und Lisa standen vor einer Wand aus etwa zweieinhalb Meter hohen, dicken Holzplatten, die um den äußeren Rand des gesamten Weihnachtsmarkts verlief.
»Mist!«, schimpfte Lisa mit Blick auf ihren digitalen Kompass. »Der QR-Code muss hinter diesem Zaun sein.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Kampel zweifelnd. »Dahinter ist eine Baustelle. Hier wird seit 2010 die U-Bahn-Station Rotes Rathaus gebaut. Die Bauarbeiten sollen erst 2020 beendet werden.«
Lisa zeigte direkt auf den Zaun. »Die Koordinaten liegen zehn Meter in dieser Richtung! Der QR-Code muss dort sein!«
»Ich weiß nicht recht«, murmelte Kampel. »Glauben Sie wirklich, der Autor der Fitna ist in diese Baustelle eingebrochen, um dort seinen QR-Code zu verstecken? Das wäre für ihn sicherlich viel zu riskant gewesen. Dieser Mann will unter allen Umständen unentdeckt bleiben.«
»›Die Zahlen weisen dir den Weg‹«, zitierte Lisa das zweite Gedicht der Fitna. »Die Zahlen unter dem Gedicht müssen Koordinaten gewesen sein. Und diese Koordinaten führen uns genau hierher!« Sie trat an den Bauzaun und klopfte gegen das Holz. »Es muss hier irgendwo einen versteckten Eingang geben …«
Während die Kommissarin den Zaun untersuchte, warf Kampel noch einmal einen Blick zurück in das Innere des Weihnachtsmarkts. Hinter den vielen Menschen, die sich zwischen den Marktständen tummelten, konnte er noch immer den eindrucksvollen Neptunbrunnen sehen. Der Meeresgott schien Kampel direkt anzublicken.
Kampel überlegte eine Weile und schüttelte dann mit dem Kopf. »Das alles ergibt für mich keinen Sinn. Warum sollte uns die Fitna ausgerechnet zum Neptunbrunnen führen? Neptun ist ein römischer Gott – für einen Muslim ist er damit ein falscher Gott. Der Neptunbrunnen ist genau die Art von Götzenbildnis, die Mohammed in Mekka vernichtete. Und der Mann, der hinter diesem Gedicht steckt, würde es ihm bestimmt am liebsten gleichtun.«
Lisa zuckte mit den Schultern. »Vielleicht soll der Neptunbrunnen den Fitna-Rekruten daran erinnern, welchen falschen Göttern die Ungläubigen huldigen? Immerhin hat uns das erste Gedicht auch nicht an einen Ort geführt, der etwas mit dem Islam zu tun hatte. Ganz im Gegenteil, wir mussten zu einem Denkmal für ermordete Juden.«
»Aber das Denkmal für die ermordeten Juden Europas hatte einen klaren Bezug zur ersten Säule des Islam. Wir sollten daran erinnert werden, welches Schicksal diejenigen erwartet, die nicht die Schahāda sprechen und sich damit nicht zum islamischen Glauben bekennen. Außerdem bezieht sich die Schahāda auf die Juden. Der Neptunbrunnen hingegen hat überhaupt keinen Bezug zur zweiten Säule des Islam, dem täglichen Gebet.« Kampel schüttelte noch einmal mit dem Kopf. »Wir müssen hier falsch sein.«
»Vielleicht haben Sie recht«, meinte Lisa langsam, ohne jedoch die Untersuchung des Bauzauns abzubrechen. Über die Schulter sagte sie: »Sie können gerne nochmal über das Gedicht nachdenken, vielleicht finden Sie ja doch eine andere Lösung. Aber ich will in der Zwischenzeit weiter diese Holzwand absuchen.«
»Einverstanden. Aber gehen Sie nicht zu weit weg. Denken Sie daran, was passiert ist, als wir uns im Holocaust-Mahnmal getrennt haben.«
»Ich bleibe in Sichtweite«, erwiderte Lisa ernst und schritt weiter den Bauzaun entlang.
Während sich die Kommissarin entfernte, griff Kampel nach seinem Smartphone. Mit ein paar kurzen Wischbewegungen rief er das zweite Gedicht der Fitna auf. Im Schnelldurchlauf ging er noch einmal in Gedanken alles durch, was ihm zu dem Text einfiel.
Stets fünfmal täglich tun wir uns’re Unterwerfung kund,
so regelmäßig wie ein Uhrwerk, auf Minutsekund’.
Damit verwies das Gedicht auf das islamische Gebet, das fünfmal am Tag zu festgelegten Zeiten durchgeführt werden musste. Auf Minutsekund’ … Auf Minutsekund’ … Kampel störte sich an dieser Formulierung. Die Gebetszeiten richteten sich nach dem Sonnenstand und wurden häufig an der Länge eines Schattens abgelesen. Es war durchaus möglich, auf diese Weise die Gebetszeiten auf die Minute genau zu bestimmen. Aber auf die Sekunde? Kampel hielt dies für übertrieben. Doch er wischte diesen Gedanken zunächst beiseite und las weiter.
Jedoch um wirklich Diener unseres Allahs zu werden,
musst du sogar bereit sein, um im Heil’gen Krieg zu sterben.
Wirf Schrecken in das Herz Europas, das soll sein dein Sieg.
Diese Zeilen bezogen sich auf die Bereitschaft zum Dschihad, der an verschiedenen Stellen im Koran als eine edlere Tat als das Beten beschrieben wurde. Ziel des Heiligen Krieges war es, Schrecken in die Herzen der Ungläubigen zu werfen.
Wo immer du auch stehst, die Zahlen weisen dir den Weg.
Kampel dachte lange über diese letzte Zeile nach. Wie er es auch drehte und wendete, er kam immer wieder zu dem Schluss, dass Kommissarin Albers mit ihrer Interpretation recht haben musste: Der Vers bezog sich auf GPS-Koordinaten, die unabhängig von der Position des Benutzers stets auf einen festgelegten Punkt auf dem Globus wiesen.
Die Zahlen waren GPS-Koordinaten, da war sich Kampel sicher. Aber irgendetwas stimmte an Albers’ Lösung trotzdem nicht. Vielleicht hatte sie bei der Eingabe der Zahlen einen Fehler gemacht?
Kampel rief das Navigationsprogramm seines Smartphones auf und öffnete das Dialogfeld, in dem er die GPS-Koordinaten eines Punktes eingeben konnte. Kampel übertrug die Zahlen unter dem zweiten Gedicht nacheinander in das Dialogfeld. Auf dem Bildschirm stand nun:
WGS (x° x.x’)
N 52° 31.162012’ E 13° 24.479124’
Genau dieselben Koordinaten hatte auch Lisa Albers’ Kartenprogramm angezeigt. Aber das konnte nicht stimmen …
Als Kampel die erste Zeile des Dialogfelds betrachtete, dachte er an einen der Privatvorträge zurück, den ein Bekannter von ihm, der Dozent für Kartografie, gehalten hatte. Wenn Kampel sich recht erinnerte, wies die Kennzeichnung WGS (x° x.x’) auf die Maßeinheit der eingegebenen Koordinaten hin: Grad und Bogenminuten. Die Angabe N 52° im ersten Teil der Koordinaten bezeichnete demnach den 52. nördlichen Breitengrad – darin befand sich Berlin. Punkte innerhalb dieses Breitengrads wurden in sogenannten Bogenminuten gemessen und mit einem Apostroph angegeben. Die Zahlenfolge 31.162012’ beschrieb also die 31. Bogenminute und einen bestimmten Punkt innerhalb dieser Bogenminute, der mit Dezimalzahlen hinter dem Punkt angegeben wurde.
Bogenminute …
Plötzlich kam Kampel die zweite Zeile des Gedichts in den Sinn: »So regelmäßig wie ein Uhrwerk, auf Minutsekund’.«
Ihm war, als hätte jemand ein Licht in seinem Kopf eingeschaltet. Minutsekund’. Minute. Sekunde. Das ist es!
Kampel hatte sich an dem Begriff Minutsekund’ schon von Beginn an gestört, doch nun erkannte er, dass der Autor der Fitna damit auf etwas Bestimmtes hinweisen wollte: Die Zahlen unter dem Gedicht waren nicht in der Maßeinheit Grad und Bogenminuten zu lesen, sondern als Grad, Bogenminuten und Bogensekunden.
Erregt tippte Kampel auf die Schaltfläche WGS (x° x.x’) auf seinem Smartphone. Ein Auswahlmenü mit verschiedenen Maßeinheiten öffnete sich. Kampel wählte WGS (x° x’ x.x“). Hinter den Koordinaten erschien nun eine neue Schaltfläche, die mit einem “ angegeben war – das Eingabefeld für die Maßeinheit Bogensekunde.
Eilig übertrug Kampel die Zahlenfolge aus dem Gedicht in die jeweiligen Felder und betrachtete das Endergebnis:
WGS (x° x’ x.x“)
N 52° 31’ 16.2012“ E 13° 24’ 47.9124“
Die erste Zeichenkolonne bezeichnete nun den 52. Grad nördlicher Breite, darin die 31. Bogenminute und darin wiederum die 16. Bogensekunde mit einem dahinter angegebenen Dezimalpunkt.
Gespannt klickte Kampel auf die Schaltfläche Übernehmen. Auf dem Bildschirm baute sich eine Karte von Berlin auf. Ein kleiner roter Punkt blinkte auf der Karte.
Als Kampel an den Punkt heranzoomte, lachte er vor Freude auf.
So regelmäßig wie ein Uhrwerk. Das ist es!
Der Autor der Fitna hätte nicht deutlicher werden können.
Kapitel 29
Der Dschinn fuhr seinen Wagen abrupt an den Straßenrand. Hinter ihm kommentierte ein Autofahrer dieses Parkmanöver mit einem langgezogenen Hupen, doch das kümmerte den Dschinn wenig.
Eilig stieg er aus dem Wagen und hielt auf den Weihnachtsmarkt am Roten Rathaus zu, der noch ein paar Querstraßen von ihm entfernt war. Aus der Ferne konnte er bereits die bunte Weihnachtsbeleuchtung in der Dunkelheit erkennen.
Im Gehen schaute der Dschinn auf sein Smartphone. Der kleine rote Punkt auf der Karte hatte sich gerade wieder bewegt. Der Religionswissenschaftler und die Polizistin befanden sich hinter dem Weihnachtsmarkt. Dort waren sie eine Weile stehen geblieben, doch nun entfernten sie sich in Richtung Fernsehturm.
Der Dschinn beschleunigte seine Schritte. Die Ungläubigen durften ihm diesmal nicht entwischen. Er musste die Fitna um jeden Preis bekommen.
Er bat Gott mit einem Koranvers um Kraft für seine Mission:
[61:11] Ihr müsst an Gott und seinen Gesandten glauben und mit eurem Vermögen und in eigener Person um Gottes willen Krieg führen. […]
Kapitel 30
Im Laufen schloss Kampel seine Erklärungen ab: »Die Koordinaten unter dem zweiten Gedicht schicken uns nicht zum Neptunbrunnen, sondern zur Weltzeituhr!«
Kampel und Lisa gingen eilig in Richtung Alexanderplatz, wo sie die bekannte Berliner Uhr finden würden.
Lisa legte sich eine Hand auf die Stirn. »›So regelmäßig wie ein Uhrwerk‹«, zitierte sie das zweite Gedicht. »Dieser Satz verweist ja geradezu auf eine Uhr.«
Kampel nickte. »In dem Gedicht stecken noch einige andere Hinweise auf Uhren. Die Koordinaten unter dem Gedicht sind in einer Maßeinheit angegeben, die sich normalerweise auf einer Uhr befinden: Minuten und Sekunden. Und zum Auslesen der Koordinaten müssen wir auf Uhren zurückgreifen: Das GPS-System bestimmt die Position eines Punktes, indem die Übertragungsdauer zwischen der Erde und dem Satelliten mit einer extrem genauen Atomuhr gemessen wird. Das Thema der Zeit zieht sich also durch das ganze zweite Gedicht. Wir werden dadurch immer wieder auf die zweite Säule des Islam hingewiesen, das fünfmalige Ritualgebet.«
Lisa war verblüfft. »Dieses Gedicht ist viel komplexer als wir zunächst angenommen haben. Genau wie das erste.«
Kampel und Lisa gingen unter einer Eisenbahnbrücke hindurch. Die Kommissarin zeigte auf ein graues Objekt vor ihnen. »Da ist die Weltzeituhr!«
Sie beschleunigten ihre Schritte und erreichten den Alexanderplatz, den belebtesten Ort Berlins. Trotz der winterlichen Kälte und der fortgeschrittenen Uhrzeit war der Platz wie immer vollgestopft mit Touristen, die den Berliner Fernsehturm bewunderten und von hier zu einer Stadtführung aufbrauchen. Kampel hatte sich die Beliebtheit dieses Ortes nie erklären können. Streng genommen war der Alexanderplatz nur eine große Fläche aus grauen Betonplatten, die von kargen, ebenfalls grauen Häusern der DDR-Zeit eingerahmt wurde. Die einzige wirkliche Sehenswürdigkeit auf dem Platz war die Weltzeituhr, vor der Kampel und Lisa nun zum Stehen kamen.
Die Weltzeituhr fügte sich mit ihrem grauen Äußeren perfekt in die triste Umgebung des Alexanderplatzes ein. Die Uhr bestand aus einem großen, flachen Zylinder, der auf einer schmalen Säule stand. Kampel fühlte sich von dem Gebilde immer an eine Torte erinnert, die auf einen Stock aufgespießt worden war und so in die Höhe gehalten wurde. Der in der Luft schwebende, große Zylinder der Weltzeituhr war nicht ganz rund, sondern hatte insgesamt 24 flache Seitenflächen. In jeder Seitenfläche waren die Namen verschiedener Städte eingelassen, die sich innerhalb einer bestimmten Zeitzone befanden. In der Mitte des Zylinders, zwischen den Städtenamen, verlief ein farbiges Band, das in großen goldenen Ziffern mit den Stunden 1 bis 24 beschriftet war. Das Band bewegte sich im Verlauf des Tages langsam durch den Zylinder und zeigte somit die Uhrzeit der verschiedenen Städte und Zeitzonen auf der Welt an.
Oben auf der Weltzeituhr befand sich eine Metallskulptur – selbstverständlich ebenfalls in grau –, die das Sonnensystem der Erde präsentierte: Eine dicke Metallkugel in der Mitte stellte die Sonne dar, darum herum verliefen Stahlringe mit kleineren Kugeln, die die Umlaufbahnen der Planeten anzeigten. Das Sonnensystem rotierte pro Minute einmal um die eigene Achse und bewegte sich damit für das bloße Auge deutlich sichtbarer als das langsame Uhrenband.
Beim Anblick der Uhr musste Kampel an die Münzsammlung seines Vaters denken. Die Weltzeituhr war im Jahr 1969 anlässlich des 20. Jahrestags der DDR eingeweiht worden und hatte den sozialistischen Staat so stolz gemacht, dass sie auf Briefmarken und sogar auf einer Sondermünze präsentiert worden war. Die entsprechende Münze war der ganze Stolz von Kampels Vater gewesen.
»Irgendwo hier muss der QR-Code sein, den wir suchen«, sagte Lisa und betrat den Bereich unter dem großen Zylinder der Weltzeituhr.
Kampel folgte der Kommissarin und lenkte seinen Blick zunächst auf die schmale Säule in der Mitte, die den Zylinder über ihren Köpfen stützte. Am oberen Ende der Säule waren an vier Seiten schlichte Uhren angebracht, die jeweils die Uhrzeit eines anderen Erdteils zeigten. Auf der grauen Säule selbst hoben sich in einem etwas helleren Grau die Umrisse einer Weltkarte ab. Instinktiv fuhren Kampels Augen zu dem Punkt auf der Karte, an dem sich die Stadt Mekka befand. Auf der ganzen Welt beteten Muslime fünfmal am Tag in Richtung dieser Stadt – es wäre damit ein ausgezeichnetes Versteck für den QR-Code gewesen, um erneut auf die zweite Säule des Islam hinzuweisen. Doch Kampel fand nichts Ungewöhnliches auf der Karte. Als nächstes inspizierte er die Umrisse Europas auf dem Stein, immerhin hieß es in dem Gedicht: »Wirf Schrecken in das Herz Europas, das soll sein dein Sieg.« Doch auch dort fand Kampel nichts.
Lisa war in der Zwischenzeit einmal um die Säule herumgegangen und kam kopfschüttelnd zu Kampel. »Ich habe auf der ganzen Säule keinen QR-Code gefunden.« Sie deutete auf den Zylinder über ihnen. »Vielleicht ist der QR-Code an einer der Seitenflächen?«
Kampel und Lisa traten an den Rand der Weltzeituhr und betrachteten den breiten Zylinder, der sich über ihren Köpfen erhob. Dann gingen sie gemeinsam um die Weltzeituhr herum, wobei sie das Gebilde genau mit den Augen absuchten. Die in den Zylinder eingelassenen Städtenamen waren um diese Uhrzeit von innen beleuchtet und flogen in der winterlichen Dunkelheit an ihnen vorbei: Nischnij, Jekaterinburg, Omsk, Krasnojarsk, Irkutsk, Jakutsk … Als Kampel und Lisa wieder bei Helsinki angelangten, hatten sie ihre Runde beendet.
»Keine Spur von einem QR-Code«, seufzte Lisa.
Sie zeigte nach oben zu dem Teil der Uhr, der mit dem leuchtenden Schriftzug Berlin beschriftet war. Darunter war das Uhrenband an einer großen goldenen 20 stehengeblieben. Es war schon nach 20:00 Uhr.
»Vielleicht kommen wir zu spät«, sagte Lisa. »Möglicherweise hat der Autor der Fitna inzwischen von unserer Suche erfahren und den QR-Code entfernt.«
Dieser Gedanke ließ Kampel frösteln. Wenn das stimmte, würde er niemals den Mann finden, der Dominik in den Heiligen Krieg geführt hatte.
Kampel versuchte sich von diesem düsteren Gedanken abzulenken. Er schaute nach oben zur Weltzeituhr und las die Namen der anderen Städte, die über und unter der großen goldenen 20 standen. An all diesen so unterschiedlichen Orten war es gerade nach 20:00 Uhr: Amsterdam, Berlin, Brüssel, Budapest, Madrid, Paris, Prag, Stockholm, Warschau, Oslo, Kopenhagen, Wien, Bern, Pressburg, Belgrad, Rom …
Kampel schnappte nach Luft. Er hatte eine Erleuchtung.
»Rom!«, sagte er aufgeregt. »Der QR-Code muss an irgendeiner Stelle angebracht sein, die mit Rom zu tun hat!«
Die Kommissarin schien ihm nicht folgen zu können. »Wie kommen Sie darauf?«
»In dem Gedicht heißt es: ›Wirf Schrecken in das Herz Europas, das soll sein dein Sieg.‹ Das ist schon wieder ein mehrdeutiger Hinweis! Auf den ersten Blick weist uns dieser Vers darauf hin, dass Muslime laut verschiedener Koranverse Schrecken in die Herzen der ungläubigen Europäer werfen sollen. Ich glaube, der Vers hat aber noch eine andere Bedeutung: Das ›Herz Europas‹ ist ein Hinweis auf die Stadt Rom! Für viele Muslime gilt Rom als das Herz des ungläubigen Europas, denn Rom ist die Heimat des Vatikans und damit die Hauptstadt des Christentums.«
Lisa überlegte und nickte dann. »Der Verweis auf Rom würde mich nicht wundern. Dschihadisten sprechen immer wieder davon, dass Rom eingenommen werden müsse, um den Heiligen Krieg gegen Europa siegreich zu beenden. Der Islamische Staat beschäftigt sich zum Beispiel in einer kompletten Ausgabe seines Magazins Dabiq mit der Eroberung Roms und der Bekämpfung des Christentums.«[65]
Kampel nickte. »Sogar Mohammed persönlich hatte es auf Europa abgesehen. Er verfasste einen Brief an den damaligen Cäsaren des oströmischen Reiches, in dem er ihn dazu aufforderte, den Islam anzunehmen. Wenn er das nicht täte, würde er für die Sünden seiner Untertanen büßen müssen.«[66]
»Wir müssen also irgendwie nach Rom …«, murmelte Lisa und fuhr die Weltzeituhr erneut aufmerksam mit den Augen ab. »Aber wie?«
Ihr Blick wanderte von dem Sonnensystem auf der Uhr zu dem großen Zylinder und dann zu der Säule darunter. Als sie den Boden unter der Säule betrachtete, lachte sie auf. In den Bereich unter der Weltzeituhr war in dunklerem Grau ein Mosaik eingelassen, das eine Windrose zeigte.
»Ich glaube, die Windrose unter der Uhr zeigt uns den Weg«, sagte sie aufgeregt. »Es ist wie bei einem Kompass! Wir müssen der Windrose in Richtung Rom folgen!«
Kampel hielt diese Erklärung für sinnvoll. Er und die Kommissarin schritten unter die Weltzeituhr und stellten sich genau unter die Seite des Zylinders, in der der Schriftzug Rom eingelassen war. Dann betrachteten sie das Mosaik mit der Windrose zu ihren Füßen. Sie standen auf einem Pfeil der Windrose, der zu einem nur wenige Meter entfernten Hochhaus zeigte, das den Alexanderplatz begrenzte.
Langsam gingen sie auf das Hochhaus zu und achteten dabei darauf, ob sie auf dem Weg einen QR-Code entdecken würden. Nach wenigen Schritten hatten sie die Hauswand erreicht. Sie standen nun vor einer breiten Fensterfront, hinter der sich ein kleines Café befand.
Als Kampels Blick an den Fenstern nach unten wanderte, sah er es. Auf dem dünnen Teil der Hauswand unter dem Fenster war in einem blassen Grau, das sich kaum von dem Rest der Wand abhob, ein halber QR-Code aufgesprüht.
»Das ist es!«, sagte er und bückte sich zusammen mit der Kommissarin zu dem Symbol herunter.
Schnell zog Kampel sein Smartphone hervor und öffnete das Programm zum Scannen von QR-Codes. Gleichzeitig öffnete Lisa das zweite Gedicht auf ihrem Telefon. Sie zoomte an den halben QR-Code unter dem Gedicht heran, sodass er den kompletten Bildschirm ausfüllte. Dann hielt sie ihr Smartphone an die andere Hälfte des Codes auf der Häuserwand, wodurch sich ein vollständiges Bild ergab.
Kampel scannte das zusammengesetzte Symbol mit seinem Telefon. Das Gerät vibrierte kurz. Eine Webseite öffnete sich.
Fasziniert las er den Text. Noch ein Gedicht!
Während Kampel völlig von dem Gedicht eingenommen war, erhob sich Lisa und warf einen prüfenden Blick in die vorbeiziehenden Menschenmassen.
Dann sah sie ihn.
Zwischen einer Gruppe Touristen lauerte ein vertrautes Gesicht mit glühenden Augen. Es gehörte einem schlanken Araber, der mit großen Schritten auf sie zustapfte. Als er merkte, dass die Kommissarin ihn entdeckt hatte, beschleunigte er seine Schritte.
Er rannte geradewegs auf sie zu.
Kapitel 31
»Kommen Sie!«, schrie Lisa.
Sie packte Kampel am Arm und zog ihn zur U-Bahn-Station, deren Eingang unmittelbar neben der Weltzeituhr unter den Alexanderplatz führte.
Kampel folgte Lisa, ohne zunächst den Grund für ihre plötzliche Eile zu begreifen. Erst als er mit ihr die Treppe nach unten rannte und dabei einen letzten Blick zur Weltzeituhr warf, bevor sie unter der Erdoberfläche verschwanden, sah er den Araber. Der Killer rannte mit großen Schritten auf sie zu. Er war schon auf Höhe der Weltzeituhr und nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Aus dieser Distanz konnte Kampel in die hasserfüllten und wild entschlossenen Augen des Mannes blicken.
Als Kampel den Angreifer sah, überflutete Adrenalin seinen Körper. Er beschleunigte seine Schritte und rannte zusammen mit Lisa zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe nach unten. Dabei schubsten sie mehrmals andere Leute unsanft beiseite – sie mussten so schnell wie möglich in eine U-Bahn gelangen.
Als Kampel und Lisa das Ende der Treppe erreichten, kamen sie in einen breiten, aber nicht sehr hohen Gang, der an allen Wänden mit türkisen Fliesen ausgelegt war – ein charakteristisches Merkmal der U-Bahn-Station Alexanderplatz. Links und rechts war der unterirdische Korridor mit zahlreichen kleinen Imbissbuden und Souvenirläden gepflastert.
Sie rannten den Gang entlang in Richtung der Bahnsteige.
Kampel schlug das Herz bis zum Hals. Immer wieder schnappte er nach Luft. Im Rennen drehte er sich um. Nur wenige Meter hinter ihnen erreichte der Araber gerade das Ende der Eingangstreppe und betrat den unterirdischen Gang der U-Bahn-Station. Der Attentäter schien mit der rechten Hand unter seiner geöffneten Jacke etwas festzuhalten. Seine Pistole, dachte Kampel panisch. Er wird uns erschießen!
Kampel beschleunigte seine Schritte. Wieder drehte er sich um. Der Araber kam immer näher. Er war nur noch zwei Armlängen entfernt. Kampel konnte aus dieser Distanz ein grimmiges Funkeln in den Augen des Angreifers erkennen.
Dann geschah alles wie in Zeitlupe. Der Araber zog seine rechte Hand unter der Jacke hervor. Jetzt ist alles vorbei …
Plötzlich krachte zwischen Kampel und dem Killer ein Metallgestell zu Boden. Lisa hatte einen Postkartenständer umgerissen, der vor einem der Souvenirläden stand. Die bunten Postkarten verteilten sich in alle Richtungen.
Der Araber versuchte abzubremsen, doch es war zu spät. Er krachte mit voller Geschwindigkeit in den am Boden liegenden Ständer.
Kampel holte erleichtert Luft. Kommissarin Albers’ Manöver würde den Angreifer zwar nicht aufhalten, verschaffte ihnen jedoch wertvolle Sekunden für ihre Flucht.
Lisa zog Kampel weiter den Gang entlang. Sie gelangten an zwei Treppen. Eine führte nach oben, die andere nach unten. Die Treppen endeten auf unterschiedlichen Bahnsteigen. Lisa warf im Laufen einen raschen Blick auf eine Leuchttafel an der Decke. Der Tafel zufolge war die Linie U2 gerade auf dem oberen Bahnsteig zum Halten gekommen. Wenn sie schnell genug nach oben laufen würden, könnten sie womöglich in die Bahn steigen und fliehen.
Wenn nicht, säßen sie in der Falle.
»Hoch!«, schrie Lisa und rannte zusammen mit Kampel die Treppe nach oben. Oben angekommen, sandte sie ein kurzes »Danke« gen Himmel: Auf dem Bahnsteig befanden sich gleich zwei Züge. Auf den Gleisen links und rechts spuckten die Züge zahllose Passagiere aus. Davor drängelten sich größere Menschenmassen, die auf die aussteigenden Passagiere warteten, bis sie selbst die Bahn betreten konnten.
»Kommen Sie!«, sagte Lisa und zog Kampel in eine Touristengruppe zu ihrer Rechten, die gerade auf den Einstieg in den Zug wartete. »Nicht in die Bahn!«, sagte sie über ihre Schulter zu Kampel. »Wir warten in der Menge!« Sie wusste, dass die Menschenmasse ihnen eine ideale Tarnung vor den Blicken des Arabers bot.
Lisa warf einen Blick nach links auf die andere Seite des Bahnsteigs. Auf dem gegenüberliegenden Gleis hatte der Zug inzwischen fast alle Passagiere aufgenommen und würde jeden Moment die Türen schließen.
»Rüber!«, rief die Kommissarin und rannte mit Kampel zu dem Zug auf der anderen Seite des Bahnsteigs. Sie stiegen an der nächstgelegenen Tür in die U-Bahn und stolperten eilig an anderen Passagieren vorbei tiefer in den Waggon.
Lisa drehte sich um und warf einen Blick zu den Türen des Zuges. Nun mach schon! Mach die Türen zu und fahr los!
Die Türen fingen an, sich langsam zu schließen.
Als Lisa einen Blick nach draußen warf, entdeckte sie den Araber auf der gegenüberliegenden Seite des Bahnsteigs. Ihre Augen trafen sich. Der glühende Blick des Killers schien ihren Kopf zu versengen.
Furcht packte Lisa, als sie zu den Türen des U-Bahn-Waggons sah. Sie waren noch nicht ganz geschlossen. Der Killer würde nur wenige Meter rennen müssen und könnte noch rechtzeitig in den Zug steigen.
Doch der Araber rannte nicht. Er ging langsam auf den Waggon zu, in dem Kampel und Lisa waren und blieb vor den sich schließenden Türen stehen. Er machte keine Anstalten, den Zug zu betreten. Die vielen Menschen schienen ihn abzuschrecken. Stattdessen starrte er Kampel und Lisa hasserfüllt an. Er hob seine rechte Hand zum Kopf und fuhr sich mit dem Daumen langsam über den Hals – es war die nicht nur in der islamischen Welt weit verbreitete Köpfungsgeste.
Der Zug fuhr langsam an und ließ den Araber auf dem Bahnsteig zurück. Sein glühender Blick verfolgte Kampel und Lisa noch lange nachdem sie in der Dunkelheit des U-Bahn-Tunnels verschwunden waren.
Kapitel 32
»Ich muss Sie noch ein wenig zurechtmachen, bevor Sie die Bühne betreten«, sagte die junge Frau. »Aber keine Sorge, ich werde Sie nicht schminken. Sie bekommen von mir nur etwas Puder ins Gesicht, damit Ihre Haut im Scheinwerferlicht nicht glänzt.«
»Ich weiß schon, wie das abläuft«, antwortete der Murrabi lächelnd. »Das ist nicht mein erster Fernsehauftritt.«
Die junge Ungläubige lachte und begann, mit einem großen Pinsel ein feines Pulver auf sein Gesicht aufzutragen.
Der Murrabi ließ die Prozedur äußerlich ungerührt über sich ergehen. Innerlich wandte er sich an Gott: Bitte verzeih mir, dass ich mich von dieser unreinen Frau berühren lasse. Es dient nicht meiner Befriedigung, sondern nur dir und dem Sieg des Islam. Er zitierte in Gedanken einen Satz aus dem Koran, den schon viele Mudschahidin vor ihm gesprochen hatten:
[10:85-86] […] Herr! Mach uns nicht zu einer Versuchung für das Volk der Frevler und errette uns durch deine Barmherzigkeit von dem Volk der Ungläubigen!
Während der Murrabi eingepudert wurde, betrachtete er sich selbst in dem großen, ausgeleuchteten Spiegel, vor dem er saß. Er war zufrieden mit dem, was er sah. Der neu gekaufte Anzug saß absolut perfekt und ließ seine füllige Gestalt nicht nur ein klein wenig schmaler wirken, sondern verlieh ihm noch dazu eine würdevolle Aura. Er würde heute noch besser aussehen als bei seinen bisherigen Fernsehauftritten.
Der Murrabi war noch immer überrascht, wenn er daran dachte, wie seine Fernsehpräsenz begonnen hatte. Angefangen hatte es mit einem kleinen Zeitungsartikel über die Hauptschule, an der er unterrichtete. Eine Reporterin hatte für den Artikel kurze Interviews mit verschiedenen Lehrern der Schule geführt und deren Erfahrungen in ihrem Bericht verwertet. Die Reporterin hatte die Geschichte des Murrabi so interessant gefunden, dass sie ihm kurze Zeit später einen eigenen Artikel gewidmet hatte. Ein Lehrer gegen das Problemviertel hatte die Reportage gelautet, in der der Murrabi berichtete, wie ihm sein islamischer Glaube dabei half, mit seinen vielen muslimischen Schülern in Kontakt zu treten und ihm Mut im Kampf gegen die vielen sozialen Probleme an der Schule gab. Die Reportage hatte hohe Wellen geschlagen und so war der Murrabi schon ein paar Wochen später in eine Talkshow eingeladen worden, in der er über seine Arbeit an der Schule erzählen sollte. Die Diskussion war im Verlauf der Sendung immer wieder zum Thema Islam abgeschwiffen, wobei der Murrabi als Lehrer für islamischen Religionsunterricht mit seinem Fachwissen hatte glänzen können. Die offene und intelligente Art des Murrabi kam bei den Medienleuten offensichtlich gut an, denn wenig später wurde er noch in zwei weitere Talkshows eingeladen. Inzwischen gehörte er fast schon zum Inventar, wenn in einer deutschen Talkshow über religiöse Fragen rund um den Islam diskutiert werden sollte.
Der Murrabi probte sein Lächeln im Spiegel. In wenigen Minuten würde er seinen vierten Talkshow-Auftritt absolvieren. Er sollte diesmal allerdings kein Teil der Diskussionsrunde sein, sondern würde im späteren Teil der Sendung mit einem Einspieler vorgestellt werden und dann ein kurzes Einzelgespräch mit dem Moderator führen.
Der Murrabi dachte noch einmal darüber nach, was er sagen würde. In der heutigen Sendung sollte es um die Integration von Muslimen in die deutsche Gesellschaft gehen, wofür der Murrabi als ein vorbildliches Beispiel dienen sollte. Er hatte sich dafür schon ein paar wohlklingende Sätze überlegt und ging sie in Gedanken erneut durch.
Aber darüber musst du dir eigentlich keine Sorgen machen, dachte der Murrabi zufrieden. Er wusste, dass er ein begnadeter Redner war. Das wurde ihm jedes Mal während des Freitagsgebets deutlich, wenn er seine Predigt – die Chutba – hielt und seine handverlesenen Schüler in seinen Bann zog.
Während der Murrabi weiter eingepudert wurde, glitten seine Gedanken langsam ab. Er musste an eine Predigt denken, auf die er besonders stolz gewesen war. Damals hatte er die Gesichter seiner jungen Zuhörer regelrecht zum Strahlen gebracht … Es war während eines Freitagsgebets vor etwas mehr als einem Jahr gewesen …
Der Murrabi stand vorne in seiner Moschee an einem kleinen, schmucklosen Tisch, auf dem der Koran lag. Er trug ein langes, weißes Gewand.
Der Murrabi warf einen Blick durch den kargen, kalten Raum, den er mit ein paar Gebetsteppichen auf dem Boden bestückt hatte. Viele hätten den Murrabi dafür verlacht, dass er diesen Ort als seine Moschee bezeichnete, aber er war stolz auf das, was er hier geschaffen hatte. Er wusste, dass eine Moschee nicht prunkvoll sein musste. Eine Moschee benötigte noch nicht einmal ein Minarett. Das einzige, was wirklich zählte, waren die Worte Gottes, die in einer Moschee gesprochen wurden – und die Zuhörer, die diesen wunderbaren Worten lauschten.
Das Publikum bestand aus zehn jungen Männern, die auf den Gebetsteppichen vor dem Murrabi saßen und ihn erwartungsvoll ansahen. Seine Schüler hatte er sorgfältig ausgewählt. In jedem einzelnen von ihnen hatte er ein Potenzial erkannt, ein glühendes Feuer tief in ihrem Inneren. Diese jungen Männer wollten nicht nur stumpf beten, sondern sie wollten ihrem Gott mit echten Taten dienen.
Der Murrabi begann seine Predigt, indem er einen Koranvers auswendig zitierte:
[9:5] Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf! […]
»Meine Brüder«, sagte der Murrabi mit seiner angenehmen Stimme, »ihr alle kennt diese Worte. Sie stammen aus dem berühmten Schwertvers. Was Gott uns hier verkündet, könnte unmissverständlicher nicht sein: Wir Muslime sollen wann immer möglich Krieg gegen die Ungläubigen führen! Der Heilige Krieg ist die wichtigste Pflicht und die edelste Tat, die ein Muslim vollbringen kann.« Der Murrabi erkannte in den Gesichtern seiner Zuhörer, dass sie seine Worte begeistert aufnahmen.
Er fuhr fort: »Es gibt noch viele weitere Koranverse, in denen wir eindeutig zum Dschihad aufgerufen werden. Wie etwa diesen hier …« Wieder zitierte der Murrabi einen Vers auswendig:
[5:35] Ihr Gläubigen! Fürchtet Gott und trachtet danach, ihm nahezukommen, und führet um seinetwillen Krieg! Vielleicht wird es euch dann wohl ergehen.
»Wenn ihr gegen die Ungläubigen Krieg führt, verrichtet ihr damit das Werk Gottes. Im Dschihad werdet ihr zu seinen Händen.«
[9:14] Wenn ihr gegen sie [die Ungläubigen] kämpft, wird Gott sie durch euch bestrafen, sie zuschanden machen, euch zum Sieg über sie verhelfen und Leuten, die gläubig sind, innere Genugtuung verschaffen […]
Der Murrabi machte eine feierliche Pause.
»Meine Brüder, heute möchte ich mit euch besprechen, warum diese und andere Koranverse vielen Muslimen verwirrend erscheinen. Wie ihr sicherlich wisst, stammen die Verse zum Heiligen Krieg, die ich soeben zitiert habe, aus der sogenannten medinensischen Zeit. Der Prophet – Gottes Segen und Heil seien auf ihm – offenbarte sie uns, nachdem er von Mekka nach Medina ausgewandert war und dort eine Armee aufbaute, um die herrliche Botschaft des Korans in der Welt zu verbreiten.
Ihr wisst auch, dass die Koranverse das Wort Gottes sind. Das Wort Gottes ist perfekt und für alle Zeiten gültig – es galt vor 1400 Jahren genauso, wie es heute gilt und in 1400 Jahren noch gelten wird.
Und hier sind viele Muslime verwirrt: Wenn Gottes Worte für alle Zeiten gelten, wie ist es dann möglich, dass er uns in anderen Koranversen einen völlig anderen Umgang mit den Ungläubigen vorschreibt? In der mekkanischen Zeit, als der Prophet – Friede sei mit ihm – noch in Mekka lebte, trug Gott den Muslimen auf, nicht gegen die Ungläubigen zu kämpfen, sondern ihre widerlichen Lügen mit Geduld zu ertragen.« Der Murrabi zitierte:
[20:130] Ertrage nun geduldig, was sie [die Ungläubigen] sagen! […]
»Gott verkündete sogar, dass die Muslime sich von den Ungläubigen abwenden sollten, anstatt gegen sie zu kämpfen.«
[54:6] Darum wende dich von ihnen ab! Sie werden schon noch erfahren, was mit ihnen geschieht. […]
[7:199] Übe Nachsicht; […] gebiete, was recht und billig ist und wende dich von den Toren ab!
»In Mekka ließ unser Herr und Schöpfer zudem noch verlautbaren, dass wir den Ungläubigen Frieden wünschen sollten!«
[28:55] Und wenn sie [die Muslime] leeres Gerede [der Ungläubigen] hören, wenden sie sich davon ab und sagen: »Uns kommen bei der Abrechnung unsere Werke zu, und euch die euren. Heil sei über euch! Wir wollen mit den Toren nichts zu tun haben.«
Der Murrabi machte eine Pause und studierte die Gesichter seiner Zuhörer. Zufrieden registrierte er, dass sie über die großen Unterschiede zwischen den medinensischen und den mekkanischen Koranversen ernsthaft nachzudenken schienen.
»Meine Brüder«, sagte der Murrabi, »es ist verständlich, dass viele von euch über diese so unterschiedlichen göttlichen Anweisungen verwirrt sind. Ihr fragt euch, an welche Koranverse wir uns als Muslime halten sollen: Sollen wir die Ungläubigen in ihrem widerlichen Frevel gewähren lassen und ihnen dabei auch noch unseren Segen geben, wie es noch in Mekka hieß? Oder sollen wir gegen die Ungläubigen kämpfen, wie es die Offenbarungen in Medina verlangen? Welche Verse gelten für uns? Die feigen Verse aus der mekkanischen Zeit oder die Verse zum Heiligen Krieg aus der medinensischen Zeit?« Der Murrabi ließ diese Frage einen Moment lang bei seinen Zuhörern sacken.
»Ich möchte diese Frage mit einem Gleichnis lösen«, sagte er. »Stellt euch vor, ich hätte euch letztes Jahr ein Telefonbuch gegeben. Heute gebe ich euch dann eine neue, überarbeitete Ausgabe dieses Telefonbuchs. Stellt euch nun vor, ihr möchtet einen Freund anrufen und sucht seine Nummer in den beiden Telefonbüchern. Ihr werdet merken, dass in den Telefonbüchern unterschiedliche Telefonnummern stehen. Welche Nummer werdet ihr wählen? Die Nummer aus dem alten Telefonbuch oder die Nummer aus der neuen und überarbeiteten Ausgabe?«
Der Murrabi sah, wie die Gesichter seiner Zuhörer aufleuchteten. Sie hatten verstanden.
»Ihr werdet natürlich die Nummer aus dem neuen Telefonbuch anrufen!«, verkündete der Murrabi. »Wenn ihr die Nummer aus dem alten Telefonbuch wählen würdet, würdet ihr niemanden erreichen. Die Nummer ist veraltet. Sie gilt nicht mehr. Es gilt nur noch das, was in dem neuen Telefonbuch steht.
Genau so ist es mit dem Koran, meine Brüder. Jedes Mal wenn Gott einen Koranvers sandte, der einem alten Vers widersprach, sollte fortan nur noch der neue gelten. Die neuen Verse ersetzen die alten – die Islamgelehrten sagen dazu, die neuen Verse abrogieren die alten. Dieser Vorgang wird als Abrogation bezeichnet.
Gott selbst weist uns im Koran an zahlreichen Stellen auf die Abrogation hin. So erklärt der Koran explizit, dass Gott Verse ›in Vergessenheit geraten lassen‹ kann – Gott sorgt dafür, dass diese Verse fortan nicht mehr gelten sollen. Wenn Gott einen Vers in Vergessenheit geraten lässt, bringt er uns dafür jedoch einen noch besseren Vers, der den Alten abrogiert. Im Koran heißt es genaugenommen …«
[2:106] Wenn wir einen Vers aus dem Wortlaut der Offenbarung tilgen oder in Vergessenheit geraten lassen, bringen wir dafür einen besseren oder einen, der ihm gleich ist. Weißt du denn nicht, dass Gott zu allem die Macht hat?
»Gott hat nicht nur die Muslime bestimmte Koranverse vergessen lassen, sondern sogar Mohammed selbst – Gottes Lob und Frieden auf ihm. Dies geht aus einer Koranstelle hervor, in der Gott direkt zum Propheten spricht – Friede sei mit ihm.«
[87:6-7] Wir werden dich [Mohammed] Offenbarungstexte vortragen lassen, und du wirst nichts davon vergessen, außer was Gott will! Er weiß, was verlautbart, und was geheim gehalten wird.
»Als einige Ungläubige erkannten, dass der Prophet – Friede sei mit ihm – bestimmte Verse durch andere abrogierte, bezichtigten sie ihn der Lüge, so als stammten die wunderbaren Worte des Koran nur aus seinem Hirn und nicht etwa von Gott. Gott reagierte auf diese ungeheuerlichen Anschuldigungen, indem er verkünden ließ …«
[16:101] Und wenn wir einen Vers anstelle eines anderen eintauschen – und Gott weiß ja am besten, was er herabsendet –, sagen sie [die Ungläubigen]: »Es ist ja eine reine Erfindung von dir.« Das ist nicht wahr. Aber die meisten von ihnen wissen nicht Bescheid.
»Es obliegt allein dem Willen Gottes, welche Koranverse er austauscht oder löscht. So steht es im Koran geschrieben.«
[13:39] Und Gott löscht, was er will, aus, oder lässt es bestehen. Bei ihm ist die Urschrift, in der alles verzeichnet ist.
Der Murrabi machte wieder eine kurze Pause und versicherte sich der vollen Aufmerksamkeit seines Publikums, bevor er fortfuhr: »Meine Brüder, lasst mich euch nun erklären, wie die Abrogation in der Praxis funktioniert. Als Mohammed – Gott segne ihn und schenke ihm Heil – noch in Mekka lebte, offenbarte er uns eine göttliche Botschaft, wonach wir Muslime den schrecklichen Unglauben in der Welt tolerieren sollten.«
[29:46] Und streitet mit den Leuten der Schrift nie anders als auf eine möglichst gute Art – mit Ausnahme derer von ihnen, die Frevler sind! Und sagt: »Wir glauben an das, was als Offenbarung zu uns, und was zu euch herabgesandt worden ist. Unser und euer Gott ist einer. Ihm sind wir ergeben.«
Als der Murrabi diese Worte gesprochen hatte, hielt er kurz inne. Dann rief er mit Nachdruck durch die Moschee: »Dieser Vers gilt heute nicht mehr! Der Vers wurde abrogiert! Denn als Mohammed – Friede sei mit ihm – nach Medina auswanderte, sandte Gott uns einen viel besseren und schöneren Vers, der den alten ersetzt.« Mit Inbrunst trug der Murrabi die wunderbaren Worte Gottes vor:
[9:29] Kämpft gegen diejenigen, die nicht an Gott und den jüngsten Tag glauben und nicht verbieten, was Gott und sein Gesandter verboten haben, und nicht der wahren Religion [dem Islam] angehören – von denen, die die Schrift erhalten haben – kämpft gegen sie, bis sie kleinlaut aus der Hand Tribut entrichten!
»Meine Brüder, so wie mit diesen beiden Koranversen verhält es sich mit allen Versen zum Heiligen Krieg! Alle Verse, die uns zur Untätigkeit gegenüber den Ungläubigen verdammen, stammen noch aus der mekkanischen Zeit. Diese Verse gelten nicht mehr. Sie wurden ersetzt durch viel bessere und schönere Verse, die uns der Prophet – Gottes Segen und Heil seien auf ihm – in Medina offenbarte. Für uns gelten nur noch die medinensischen Verse. Und die medinensischen Verse erzählen von der wunderbarsten und edelsten aller Taten – vom Dschihad!«
Der Murrabi beobachtete zufrieden, wie die Gesichter seiner jungen Zuhörer strahlten. Nach seinem zuletzt kämpferischen Ton, fuhr er nun etwas leiser fort: »Die islamischen Gelehrten gehen davon aus, dass es im Koran insgesamt 225 Verse gibt, die durch andere Verse abrogiert wurden.[67] Wenn ihr also in Zukunft beim Studium des Korans auf einen Vers stoßt, der in scheinbarem Widerspruch zu einem anderen steht, dann haltet euch einfach an den später offenbarten Vers. Vorrang haben immer die medinensischen Verse. Nach allgemeiner Auffassung bestehen die folgenden Suren mehrheitlich aus Versen, die in Medina offenbart wurden: 2, 3, 4, 5, 8, 9, 24, 33, 47, 48, 49, 57, 58, 59, 60, 62, 63, 65, 66 und 110.« Der Murrabi hatte die Nummern der Suren von einem Blatt abgelesen, das er nun in die Höhe hielt. »Das ist eine Liste von insgesamt 20 Suren. Nach unserem Gebet werde ich jedem von euch eine Kopie dieser Liste geben, auf dass sie euch beim Studium des Korans helfen möge.« Die jungen Zuhörer lächelten dankbar. »Meine Brüder, diese 20 medinensischen Suren berichten uns fast alle vom Heiligen Krieg! Der Schwertvers, den ich euch zu Beginn vorgetragen habe, stammt sogar aus Sure 9 – diese Sure ist nach allgemeiner Auffassung die vorletzte Sure, die Mohammed offenbarte – Friede sei mit ihm. Der Schwertvers ist also eine seiner letzten – und aktuellsten – Offenbarungen.«
Der Murrabi machte eine abschätzige Handbewegung, als er fortfuhr. »Einige Muslime behaupten, dass die Verse aus der mekkanischen Zeit, die zur Untätigkeit gegenüber den Ungläubigen raten, auch heute noch gelten würden. Diese Muslime berufen sich darauf, dass Gottes Worte unabänderlich seien und deshalb nicht mehr geändert werden könnten – auch nicht durch Abrogation. Sie stützen diese Ansicht unter anderem mit folgendem Koranvers …«
[18:27] Und verlies, was dir von der Schrift deines Herrn als Offenbarung eingegeben worden ist! Es gibt niemand, der seine Worte abändern könnte. Und du wirst außer ihm keine Zuflucht finden.
Wieder wurde der Murrabi laut: »Doch diese Worte bedeuten nur, dass wir Menschen nicht die Botschaft Gottes verändern dürfen. Gott selbst kann über seine eigene Schrift sehr wohl verfügen, wie es ihm beliebt! Ich wiederhole folgenden Vers dazu …«
[13:39] Und Gott löscht, was er will, aus, oder lässt es bestehen. Bei ihm ist die Urschrift, in der alles verzeichnet ist.
»Uns steht es nicht zu, über Gottes Löschungen zu urteilen!«, rief der Murrabi. »Diejenigen Muslime, die die Abrogation ablehnen, lehnen auch Gottes Worte ab. Sie sind keine echten Muslime! Denn obwohl Gott im Koran und in den Hadithen immer wieder von der Abrogation spricht, ignorieren sie seine Worte. Sie sind nicht besser als die Ungläubigen!«
Die Worte des Murrabi hallten durch die Moschee. Als das Echo verklungen war, setzte er sich. Er betete eine Minute lang im Stillen. Diese Pause war im Ablauf des Freitagsgebets vorgeschrieben.
Als die Minute vergangen war, stand der Murrabi wieder auf und sprach einen Segen für den Propheten. Danach begann er mit dem zweiten, kürzeren Teil seiner Predigt.
Der Murrabi berichtete davon, wie edel die Mudschahidin waren, die völlig uneigennützig alle erdenklichen Anstrengungen unternahmen, um den Islam in der Welt zu verbreiten und den Unglauben zu bekämpfen. Er erzählte von den vielen Wundern, die die Kämpfer Gottes nach ihrem Tod im Paradies erwarteten. Die gefallenen Mudschahidin würden in wunderschönen, riesigen Gärten wandeln, in denen sie Milch und Honig aus fließenden Bächen trinken würden. Sie würden 72 wundervolle Huris bekommen, die große Brüste und schöne Augen hatten, und mit denen sie so oft verkehren konnten wie sie wollten – und es würde jedes Mal fantastisch sein und jedes Mal würden die Huris wieder zu Jungfrauen werden …
Wie immer, wenn der Murrabi von dem Weg Gottes erzählte, begannen die Augen seiner jungen Zuhörer zu leuchten. Vor allem ein junger Mann in der ersten Reihe schien förmlich zu glühen. Der junge Mann war kein gebürtiger Muslim, wie der Murrabi wusste. Er war als Atheist erzogen worden und erst später konvertiert.
Als der Murrabi das Feuer in den Augen des jungen Konvertiten sah, entschied er sich spontan, seine Predigt mit einem Hadith abzuschließen:
Der Prophet Gottes sagte: »Jeder, dessen beide Füße für die Sache Gottes mit Staub bedeckt werden, wird nicht vom Höllenfeuer berührt werden.«[68]
»Jeder, der zum Islam findet und für Gott kämpft, wird im Paradies belohnt«, betonte der Murrabi. Er zwinkerte dem jungen Mann in der ersten Reihe unauffällig zu. »Auch die Konvertiten werden belohnt. Wichtig ist nicht, ob ihr als Muslim geboren wurdet oder nicht. Wichtig ist nur, dass ihr im Laufe eures Lebens zu Gott findet.«
Zufrieden registrierte der Murrabi, wie der junge Mann bei seinen Worten breit lächelte. Er war etwas ganz Besonderes. Der Junge hatte einen unglaublich starken Glauben, wie der Murrabi ihn selten zuvor erlebt hatte. Umso erstaunlicher war dies angesichts der Familie, aus der der junge Mann kam: Sein Vater war ein sogenannter »Religionswissenschaftler« – ein Ungläubiger, der den Koran in einer Weise analysierte, als handelte es sich dabei nicht etwa um die Worte Gottes, sondern lediglich um die Aussprüche eines einfachen Schafhirten. Doch der Sohn dieses Religionswissenschaftlers war ganz anders. Dominik Kampel hatte großes Potenzial. Und der Murrabi wusste schon, wie er dieses Potenzial nutzen würde. Er würde dem jungen Mann schon bald eine Fitna geben …
»Das war’s schon«, sagte die junge Frau und riss den Murrabi aus seinen Gedanken.
Der Murrabi erhob sich aus dem schweren Stuhl und wurde von der Ungläubigen in einen kleinen Nebenraum geleitet, in dem er warten sollte, bis er die Bühne des Fernsehstudios betreten konnte.
Als die junge Frau den Raum verließ, atmete der Murrabi tief durch. In wenigen Minuten würde er einen weiteren wichtigen Sieg für den Dschihad erringen und die Botschaft Gottes in der Welt verbreiten. Anders als in seinen Predigten, würde er sich heute jedoch zurückhalten müssen. Doch er wusste, dass dies keine Sünde war. Wichtig war nicht, was er den Ungläubigen sagte, sondern was er in seinem Herzen dachte. Im Stillen sprach er ein Gebet, in dem er den Koran zitierte:
[2:225] Gott belangt euch nicht wegen des leeren Geredes in euren Eiden. Er belangt euch vielmehr wegen dessen, was euer Herz begeht. […]
Kapitel 33
Die U-Bahn raste durch die Dunkelheit. Kampel und Lisa hatten sich in den hinteren Teil gesetzt und holten tief Luft.
»Er war schon wieder alleine«, sagte die Kommissarin nach einigen Atemzügen.
»Was?«, keuchte Kampel. Er war von der hastigen Flucht noch immer aus der Puste. Sie waren dem Araber nur um Haaresbreite entkommen.
»Ich glaube dieser Kerl arbeitet alleine«, meinte Lisa. »Wenn er einen oder sogar mehrere Partner hätte, hätte er uns bestimmt nicht schon wieder alleine gejagt.« Sie überlegte einen Moment. »Dschihadisten operieren häufig in getrennten Terrorzellen, die nichts voneinander wissen. Solche Zellen bestehen manchmal bloß aus einer einzigen Person – einem Einzeltäter, der Anweisungen von einem Ranghöheren bekommt. Ich glaube, dieser Killer ist ein solcher Einzeltäter. Er weiß vermutlich nur, dass er die Fitna beschützen soll und bekommt dazu Anweisungen von einem Auftraggeber.«
»Könnte sein Auftraggeber der Autor der Fitna sein?«
»Vielleicht. So oder so, ich glaube wir haben es vorerst nur mit ihm allein zu tun.«
»Na immerhin …« Kampel klang wenig zuversichtlich. »Und was machen wir jetzt?«
»Wir sollten fürs Erste in der U-Bahn bleiben. Hier sind wir sicher.«
Kampel lachte. »Sie sind wahrscheinlich die erste Frau, die sich in der Berliner U-Bahn sicher fühlt.«
Lisa lächelte kurz und wurde dann wieder ernst. »Wir bleiben am besten so lange hier unten, bis wir den nächsten Hinweis der Fitna entschlüsselt haben.«
Kampel war für einen kurzen Moment perplex. Die hektische Flucht vor dem Killer hatte ihn so in Panik versetzt, dass er die Fitna völlig vergessen hatte.
Er zog das Handy aus seiner Jacke und rief die Internetseite auf, zu der ihn der QR-Code an der Weltzeituhr geführt hatte. Auf dem Bildschirm baute sich erneut ein schmuckloser, schwarzer Text auf weißem Grund auf, unter dem ein QR-Code abgebildet war.
Fasziniert lasen Kampel und Lisa den Text:
Der gut’ Muslim bringt jede Anstrengung für den Dschihad,
egal ob Wort, ob Schrift, ob Siedlung, oder per Geburt,
und dazu zählt auch nicht zuletzt die eigene Zakāt.
Es wird schon bald ’ne Mehrheit sein, die sich nach Mekka wend’t,
am Orte, wo »das deutsche Volk« uns heute noch regiert.
Folg’ ihrem Blick und seh’, wo man sein Geld dem Guten spend’t.
Kampels Hände zitterten. Er las das Gedicht noch einmal. Hatte er die Bedeutung dieser sechs kurzen Zeilen wirklich richtig verstanden? Doch es gab keinen Zweifel. Die Erkenntnis traf ihn mit voller Wucht.
»Was ist?«, fragte Lisa, als sie seinen schockierten Gesichtsausdruck bemerkte. »Sie wirken beunruhigt.«
Kampel überlegte, wie er seine Gedanken in Worte fassen sollte. »Der Autor der Fitna ist viel raffinierter, als die gewöhnlichen Dschihadisten, die sich in die Luft sprengen oder in Menschenmengen mit Autos rasen. Dieses Gedicht spricht eine viel bedeutendere Methode des Dschihads an.«
Als Kampel den verwirrten Blick der Kommissarin bemerkte, deutete er auf die ersten beiden Gedichtzeilen auf seinem Smartphone. »›Der gut’ Muslim bringt jede Anstrengung für den Dschihad, egal ob Wort, ob Schrift, ob Siedlung, oder per Geburt‹«, zitierte er. »Wie ich Ihnen bereits erklärte, stammt das Wort Dschihad von dem arabischen Verb für sich anstrengen ab. Genau genommen drückt der Begriff Dschihad aus, dass ein Muslim jede menschenmögliche Anstrengung erbringen muss, um den Islam zu verbreiten. Die verschiedenen Formen dieser Anstrengungen werden in der zweiten Zeile des Gedichts angesprochen. Demnach gibt es den Dschihad durch das Wort und den Dschihad durch die Schrift – damit sind mündliche und schriftliche Bekehrungsversuche gemeint, beispielsweise indem ein Muslim überzeugende Reden über die Vorzüge des Islam hält oder Flugblätter verteilt.«
Kampel blickte Lisa eindringlich an. »Die beiden anderen Formen des Dschihads, die in diesem Gedicht genannt werden, sind jedoch noch weitaus wirksamer und deutlich subtiler. Der Islam kann nämlich darüber hinaus durch Siedlung oder durch Geburten verbreitet werden – indem Muslime demografische Mehrheiten in nicht-islamischen Ländern erlangen. Diesem Dogma zufolge sollen Muslime in möglichst großer Zahl in ungläubige Länder einwandern und dort möglichst viele Kinder bekommen. Ganz ähnlich äußerte sich beispielsweise der Imam einer Moschee in Jerusalem, der dazu aufrief, westliche Länder durch muslimische Geburten zu erobern.[69] Ich selbst bezeichne diese Form des Dschihads in meinen Büchern als Demografischen Dschihad.« Kampel schluckte. »Diese Form des Dschihads ist die mit Abstand effektivste – und die gefährlichste …«
Kampel schaute aus dem Fenster der U-Bahn in die Dunkelheit, ohne etwas von seiner Umgebung wahrzunehmen. Er tauchte in seinen Gedanken ab.
Der Demografische Dschihad …
Kapitel 34
In Gedanken sah Kampel sich in einem Hörsaal. Das Publikum applaudierte, als er das Podium betrat.
»Danke«, sagte Kampel durch den Applaus und versuchte mit einem Lächeln, seine Nervosität zu überspielen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie viele Zuhörer er an diesem Abend hatte. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Sogar auf den Treppen am Rand des Raums saßen Menschen, die keinen Sitzplatz mehr gefunden hatten. Wie bei den meisten seiner öffentlichen Auftritte war das Publikum auch heute bunt gemischt: Im Hörsaal saßen junge Studenten mit verrückten Frisuren neben Männern und Frauen in Bürokleidung und älteren Herrschaften mit weißen Haaren.
Kampel nestelte angesichts der vielen Menschen etwas unsicher an dem Sakko, dass er über sein bunt kariertes Freizeithemd geworfen hatte. Sein Outfit war ein Kompromiss, denn er wollte heute zwar förmlicher aussehen als sonst, aber er hatte sich nicht dazu durchringen können, einen Anzug mit Krawatte zu tragen.
»Danke, danke«, sagte Kampel noch einmal, woraufhin der Applaus langsam abebbte. Er atmete tief durch und begann seinen Vortrag.
»Wie Sie wissen, möchte ich Ihnen heute mein neues Buch vorstellen.« Kampel deutete auf einen kleinen Tisch am Rand des Podiums, auf dem mehrere Bücher zu einer Pyramide aufgestapelt waren. »Einige von Ihnen waren vermutlich überrascht, als Sie den Buchtitel zum ersten Mal hörten: Der Demografische Dschihad – Die Entwicklung der muslimischen Bevölkerung in Europa. Meine treuen Leser wissen, dass ich mich für gewöhnlich mit theologischen Fragen rund um den Islam beschäftige und nicht mit demografischen. Dieses Thema brannte mir jedoch schon sehr lange unter den Nägeln und ich halte mein neues Buch für mein bisher wichtigstes Werk.«
Im Publikum kehrte eine gespannte Aufmerksamkeit ein. Kampel fuhr fort: »Ich werde immer wieder gefragt, warum wir Westeuropäer uns überhaupt mit dem Islam beschäftigen sollten. Immerhin leben wir doch im christlich geprägten Europa – wozu sollten wir also den Islam studieren, diese Religion aus einem weit entfernten Erdteil? Genau diesen Einwand brachte übrigens schon meine Mutter vor, als ich ihr erzählte, dass ich Religionswissenschaften mit dem Schwerpunkt Islam studieren wollte.« Einige Zuhörer im Publikum lachten. »Die Antwort auf diese Frage ist jedoch ganz einfach: Wir Europäer müssen uns schon allein deshalb eingehend mit dem Islam beschäftigen, weil Muslime zu einer immer stärkeren demografischen Gruppe in unserer Gesellschaft werden. Während die ethnische Bevölkerung schrumpft, nimmt die Zahl der Muslime in Deutschland und in ganz Europa immer weiter zu. Der Islam übt dadurch einen immer größeren Einfluss auf unsere Gesellschaft aus.«
Kampel ließ diese These kurz sacken. »Bevor wir uns speziell der muslimischen Demografie zuwenden, möchte ich Ihnen zunächst ganz allgemein die Einwanderungsbewegungen nach Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg vorstellen.«
Kampel drückte auf eine kleine Fernbedienung in seiner Hand, woraufhin an der Wand hinter ihm ein ansteigender Graph erschien:

»In diesem Diagramm sehen Sie den Anteil der Ausländer unter der deutschen Bevölkerung im Zeitverlauf.[70] Ausländer sind alle in Deutschland lebenden Personen, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben, also keinen deutschen Personalausweis besitzen. Wir können an dieser Darstellung wunderbar die wichtigsten Einwanderungsbewegungen nach Deutschland nachvollziehen.«
Kampel ging zu dem Graphen an der Wand und zeigte auf die gestrichelte Linie im linken Teil. »Bis zum Jahr 1980 wurde der Ausländeranteil nicht jährlich erhoben. Die gestrichelte Linie verbindet die uns bis dahin bekannten Daten aus den Jahren 1961, 1970 und 1975.«
Kampel zeigte auf den Punkt links unten. »Wie Sie sehen, waren im Jahr 1961 nur 1,2 Prozent der Bevölkerung in Deutschland Ausländer. Zu dieser Zeit erlebte Deutschland ein wahres Wirtschaftswunder. Im Jahr 1959 war die Bundesrepublik zur zweitgrößten Industrienation hinter den USA geworden – und das, nachdem das Land im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört worden war und erst mühsam wiederaufgebaut werden musste. Im Jahr 1961 ging es der deutschen Wirtschaft derart prächtig, dass die Arbeitslosenquote weniger als einen Prozent betrug – fast jeder Deutsche hatte Arbeit.[71] Die deutschen Unternehmen suchten händeringend nach Arbeitskräften. Deshalb schloss die Bundesrepublik Deutschland in den 60er-Jahren zahlreiche sogenannte Anwerbeabkommen mit anderen Ländern ab, um Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben. 1960 wurden entsprechende Verträge mit Spanien und Griechenland geschlossen, 1961 mit der Türkei, 1963 mit Marokko, 1964 mit Portugal, 1965 mit Tunesien und 1967 mit Jugoslawien.«
Kampel ging an dem Wandbild etwas nach rechts und zeigte auf den steilen Anstieg der Kurve. »Der Ausländeranteil stieg in den 60ern entsprechend rasant an. Im Jahr 1970 betrug er schon 4,3 Prozent. 1973 folgte der sogenannte Anwerbestopp und Deutschland warb keine weiteren Arbeitsmigranten mehr an. Dennoch stieg der Ausländeranteil in den 70ern weiterhin erheblich, weil die Arbeitsmigranten ihre Familien in großer Zahl nach Deutschland holten. Im Jahr 1980 betrug der Ausländeranteil dann 7,7 Prozent. Danach blieb er einige Jahre auf diesem Niveau, bis in den frühen 90ern zahlreiche Menschen aus Ost- und Südosteuropa einwanderten, vor allem aus Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien. Zuletzt stieg der Ausländeranteil nochmal extrem durch die Masseneinwanderung in den Jahren 2015 und 2016. Allein in diesen beiden Jahren kamen fast 1,9 Millionen Ausländer zu uns – ein Plus von 23,1 Prozent.«[72]
Kampel trat von der Wand weg und deutete auf den gesamten Graphen. »Sie sehen also, dass die Zahl der Ausländer seit dem Zweiten Weltkrieg deutlich zugenommen hat – und das, obwohl viele Ausländer regelmäßig aus der Statistik herausfielen, da sie die deutsche Staatsangehörigkeit erlangten und fortan nicht mehr als Ausländer galten. Seit dem Jahr 2000 erhalten Ausländer den deutschen Pass schon nach acht Jahren dauerhaftem und rechtmäßigem Aufenthalt in Deutschland.
Am 31.12.2016 wurden im Ausländerzentralregister insgesamt 10 Millionen Ausländer erfasst.[73] Von diesen Menschen kommen 35 Prozent – das sind 3,5 Millionen Menschen – aus einem Land, in dem die Bevölkerung mehrheitlich muslimisch ist. Die größten Gruppen darunter bilden Türken, Syrer und Afghanen.«[74]
Kampel drückte erneut auf die Fernbedienung in seiner Hand. An der Wand erschien ein Kreisdiagramm, das in drei Tortenstücke geteilt war.
»Werfen wir nun einen Blick auf die Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Nach der Definition des Bundesamts für Statistik sind Menschen mit Migrationshintergrund all jene, die mindestens ein Elternteil haben, das nicht von Geburt an die deutsche Staatsangehörigkeit besaß. In diese Definition fallen demnach Ausländer; Ausländer, die in der Zwischenzeit als Deutsche eingebürgert wurden; und deren Nachkommen.«[75]
Kampel zeigte auf eines der Tortenstücke. »Im Jahr 2016 hatten 18,5 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund – das sind 22,5 Prozent der Bevölkerung. Vereinfacht ausgedrückt: Fast jede vierte Person in Deutschland hat mindestens ein Elternteil, das nicht schon von Geburt an deutsch war.« Kampel zeigte nun auf ein kleineres Tortenstück daneben. »Davon hatten 6,4 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund aus einem mehrheitlich islamischen Land – das sind 7,7 Prozent aller in Deutschland Lebenden. Damit hat in Deutschland jeder Dreizehnte Wurzeln im islamischen Kulturkreis.[76]
Ich wiederhole: 22,5 Prozent der in Deutschland Lebenden hatten einen Migrationshintergrund und 7,7 Prozent einen islamischen Migrationshintergrund. Das hört sich für einige von Ihnen womöglich nicht weiter dramatisch an. Aber bedenken Sie, dass der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund unter den Altersgruppen äußerst unterschiedlich verteilt ist.«
Kampel ließ ein neues Diagramm an der Wand erscheinen:

»In diesem Diagramm sehen Sie den Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in den verschiedenen Altersgruppen im Jahr 2016.[77] Sie erkennen links unten an der gestrichelten Linie, dass nur 4,8 Prozent der vor 1921 Geborenen einen Migrationshintergrund haben. Über die Geburtsjahrgänge hinweg steigt dieser Anteil dann deutlich an: Von denjenigen, die in den 60er-Jahren geboren wurden, haben schon 16,7 Prozent einen Migrationshintergrund; bei den Geburtsjahrgängen der 70er sind es sogar schon 28,9 Prozent. Von den seit 2011 geborenen Kindern hat sogar schon mehr als jedes Dritte einen Migrationshintergrund. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund hat im Zeitverlauf also rasch zugenommen.«
Kampel ging an die Wand und zeigte auf die gepunktete Linie unten im Bild. »Gleichzeitig wuchs auch der Anteil der Menschen mit islamischem Migrationshintergrund.« Er zeigte auf den Teil der Linie über dem Jahr 1976. »Schon mehr als jeder Zehnte der unter 40-Jährigen hat einen islamischen Migrationshintergrund.« Kampel fuhr die Linie entlang nach rechts. »Bei den unter 6-Jährigen ist es sogar schon mehr als jeder Achte.«
Eine junge Frau im Publikum meldete sich. »Sie sagten vorhin, dass Menschen einen Migrationshintergrund besitzen, wenn mindestens eines ihrer Elternteile nicht deutsch ist. Heißt das, die Herkunft der Großeltern wird in dieser Statistik nicht berücksichtigt?«
»Ein sehr guter Einwand«, lobte Kampel die junge Frau. »Tatsächlich wird die Herkunft der Großeltern hier nicht berücksichtigt. Das bedeutet, dass beispielsweise die Enkel der Türken, die in den 60er-Jahren über das Anwerbeabkommen nach Deutschland kamen, in vielen Fällen schon als Deutsche ohne Migrationshintergrund gelten – wenn ihre Eltern seit Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft hatten. Würden wir in dieser Statistik auch die Herkunft der Großeltern berücksichtigen, würde der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund noch deutlich höher ausfallen.«
Kampel bemerkte, dass er die junge Frau kannte, die sich gemeldet hatte. »Ich glaube, Sie waren schon öfter in meinen Veranstaltungen. Wenn ich mich richtig erinnere, studieren Sie Soziologie?«
Die junge Frau grinste breit darüber, dass Kampel sie wiedererkannte und nickte aufgeregt.
»Sehr schön«, sagte Kampel. »Dann wollen wir doch mal testen, wie viel Ihnen im Studium beigebracht wird. Als angehende Soziologin wissen Sie sicher, welche großen drei Prozesse die demografische Entwicklung beeinflussen?«
»Fertilität, Mortalität und Migration«, sagte die junge Frau wie aus der Pistole geschossen.
»Eine glänzende Antwort«, sagte Kampel und wandte sich wieder an das gesamte Publikum. »Erlauben Sie mir, diese Fachbegriffe für Sie zu übersetzen: Die Bevölkerung einer Gesellschaft verändert sich durch Geburten, Sterbefälle und durch Ein- und Auswanderung.«
Kampel drückte wieder auf die Fernbedienung, woraufhin eine große Tabelle an der Wand erschien.

»In dieser Tabelle sehen Sie die drei Prozesse der Bevölkerungsentwicklung bei Deutschen und Ausländern.[78] Betrachten wir die demografische Entwicklung im Jahr 2016.« Kampel leuchtete mit einem in seine Fernbedienung eingebauten Laserpointer auf das Jahr 2016 in der linken Spalte. Er ließ den kleinen roten Punkt in der Zeile nach rechts wandern, während er die einzelnen Werte erläuterte. »Im Jahr 2016 wurden 658.889 deutsche Kinder geboren – dazu zählen auch Deutsche mit Migrationshintergrund – und 881.240 Deutsche starben. Nimmt man diese beiden Prozesse zusammen, verringerte sich die Zahl der Deutschen um 222.351 Menschen. Im selben Jahr wurden in Deutschland 133.234 ausländische Kinder geboren und 29.659 Ausländer starben. Zusammengenommen legte die Zahl der Ausländer also um 103.575 Menschen zu.« Der rote Lichtpunkt befand sich nun in der Spalte Wanderungen. »Im Jahr 2016 kehrten 145.965 Deutsche aus dem Ausland zurück nach Deutschland, 282.808 wanderten aus. Zusammengenommen wurde die deutsche Bevölkerung um 136.843 Menschen kleiner. 1.720.190 Ausländer wanderten nach Deutschland ein und 1.085.383 Ausländer verließen Deutschland – es wanderten also 634.807 mehr Ausländer ein als aus.« Kampel deutete auf die letzten beiden Spalten. »Nehmen wir all diese Prozesse zusammen, erkennen wir, dass sich die deutsche Bevölkerung im Jahr 2016 um 359.194 Menschen verkleinerte, während sich die ausländische Bevölkerung um 738.382 Menschen vergrößerte.« Kampel fuhr mit dem Laserpointer die letzten beiden Spalten von oben nach unten. »Diese Entwicklung ist schon seit Jahren zu beobachten: Jedes Jahr werden die Deutschen weniger, während die Ausländer mehr werden.«
Kampel ließ diesen Satz einen Moment lang sacken. Es wurde still im Saal.
Er fuhr fort: »Die Gründe für diese Entwicklung sind zum einen die durchgängig hohe Zahl an Einwanderern nach Deutschland und zum anderen die unterschiedlichen Geburtenraten zwischen Deutschen und Ausländern.« Er zeigte wieder auf die Soziologiestudentin im Publikum. »Wissen Sie, wie viele Kinder deutsche Frauen durchschnittlich bekommen?«
»Die totale Fertilitätsrate? Die liegt bei 1,4.«
»Korrekt«, sagte Kampel lächelnd. »Und es war sogar der richtige Fachbegriff.« Wieder wandte er sich an das gesamte Publikum. »Deutsche Frauen bekommen in ihrem Leben durchschnittlich 1,43 Kinder, ausländische Frauen dagegen 1,95.[79] Muslimische Frauen bekommen 1,9 Kinder.«[80]
Hinter Kampel erschien eine Stadtkarte von Berlin, die mit verschiedenen Prozentzahlen versehen war.
»Die Folgen dieser Entwicklung sehen wir hier in Berlin genauso wie in vielen anderen deutschen Großstädten. In ganz Berlin sind heute schon 18 Prozent aller Einwohner Ausländer; 30,7 Prozent haben einen Migrationshintergrund. In einigen Stadtteilen ist dieses Verhältnis noch extremer. In Berlin-Neukölln beispielsweise liegt der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bei 43,7 Prozent, in Berlin-Mitte sogar bei 50 Prozent.«[81]
An der Wand erschienen die Umrisse zweier anderer Städte. »Andere Großstädte in Deutschland sind sogar schon gekippt. In Frankfurt etwa hatte im Jahr 2017 mehr als die Hälfte der Einwohner einen Migrationshintergrund – ethnische Deutsche sind dort schon heute in der Minderheit. Außerdem hat fast jeder dritter Frankfurter keine deutsche Staatsangehörigkeit.[82] Noch gravierender ist die Situation in Offenbach: Dort haben 61,4 Prozent aller Einwohner einen Migrationshintergrund.[83]
Diese demografische Verschiebung ist in den jungen Jahrgängen noch weitaus dramatischer.« Kampel sprang schnell hintereinander durch mehrere Folien und nannte verschiedene Statistiken. »In Frankfurt hatten schon im Jahr 2012 fast 70 Prozent der unter 6-Jährigen einen Migrationshintergrund.[84] In Stuttgart waren es 58,1 Prozent in dieser Altersgruppe.[85] In zahlreichen anderen Großstädten in Westdeutschland liegt der Wert in ähnlichen Bereichen, immer zwischen 30 und 49 Prozent. In ganz Nordrhein-Westfalen zusammengenommen haben 31,7 Prozent aller unter 6-Jährigen einen Migrationshintergrund.[86]
Vor allem in den Schulen ist der hohe Migrantenanteil der jungen Jahrgänge deutlich sichtbar. In mehr als der Hälfte aller Berliner Grundschulen haben über 50 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund.[87] In Duisburg liegt der Migrantenanteil an 26 von 76 Grundschulen bei über 75 Prozent, an 13 Grundschulen sogar bei 90 bis 100 Prozent.[88] In Essen beträgt der Migrantenanteil an 17 von 84 Grundschulen mehr als 75 Prozent.[89] In Hamburg hatte die Hälfte aller Schüler im Schuljahr 2017/2018 einen Migrationshintergrund.[90]«
Kampel legte eine kurze Pause ein. »Kommen wir nun speziell zur muslimischen Demografie. Als ersten sollten wir klären, wie viele Muslime überhaupt in Deutschland leben. Wie ich vorhin bereits sagte, haben 6,4 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund aus einem mehrheitlich islamischen Land. Wir müssen jedoch davon ausgehen, dass nicht alle diese Menschen tatsächlich praktizierende Muslime sind. Die Zahl gibt uns jedoch einen groben Näherungswert. Einer Hochrechnung vom Bundesministerium des Innern zufolge lebten am 31.12.2015 zwischen 4,4 und 4,7 Millionen Muslime in Deutschland.[91] Eine ähnlich große Zahl finden wir in einer Studie des Pew Research Centers, die von knapp 5 Millionen Muslimen im Jahr 2016 ausgeht.[92] Damit hat sich die Zahl der Muslime in Deutschland seit 1990 fast verdoppelt, damals lebten hier nur 2,5 Millionen Muslime.[93]«
Kampel wandte sich eindringlich an das Publikum. »Wie auch immer wir die genaue Zahl der Muslime in Deutschland ansetzen, eines steht fest: Muslime bilden schon heute eine ausschlaggebende demografische Gruppe, und ihre Zahl wird weiter rasant steigen. Diese Entwicklung sehen wir analog zum Ausländeranteil vor allem in den jungen Altersgruppen und in Großstädten. In Offenbach, Altenessen und Bremen ist der Name Mohammed in seinen verschiedenen Schreibweisen der am häufigsten vergebene Name bei männlichen Neugeborenen.[94] In Duisburger Schulen sind Muslime seit dem Jahr 2013 die am stärksten vertretene Religionsgemeinschaft.[95]
Ähnliche Entwicklungen beobachten wir in ganz Westeuropa.« Kampel ließ an der Wand hinter sich den Umriss von Großbritannien erscheinen. Mit jedem Druck auf die Fernbedienung in seiner Hand ploppten neue Statistiken auf der Karte auf. »Derzeit sind über sechs Prozent aller Briten muslimisch.[96] Diese Muslime sind sehr jung: Die Hälfte der britischen Muslime ist unter 25, ein Drittel sogar unter 15 Jahren alt.[97] Mohammed ist im Vereinigten Königreich der am häufigsten vergebene Name für Neugeborene.[98] Die muslimische Bevölkerung wuchs in den 2000er-Jahren zehnmal schneller als alle anderen Bevölkerungsgruppen.[99] Einem Oxford-Professor für Demografie zufolge könnte es schon im Jahr 2050 eine muslimische Bevölkerungsmehrheit in Großbritannien geben.[100] Schon 2011 waren 12,4 Prozent aller Londoner Muslime.[101] Ethnische weiße Briten waren damals mit einem Anteil von 45 Prozent in ihrer eigenen Hauptstadt bereits in der Minderheit.[102]«
Als Nächstes zeigte Kampel eine Karte von Frankreich an der Wand. Wieder blendete er verschiedene Statistiken ein, die er kurz erläuterte. »In Frankreich lebten im Jahr 2016 insgesamt 5,7 Millionen Muslime. Sie machen damit 7,5 Prozent der französischen Bevölkerung aus und bilden die größte muslimische Gemeinschaft in Europa.[103] In einzelnen französischen Städten stellen Muslime bereits gewaltige Mehrheiten. Im südfranzösischen Marseille beispielsweise sind 29 Prozent aller Einwohner Muslime.[104] Marseille ist damit die islamischste Stadt Europas – neben Birmingham im Vereinigten Königreich und Brüssel in Belgien.«
Kampel sprang nun schnell hintereinander durch Folien, die andere europäische Länder zeigten. Dabei nannte er kurze Statistiken, die wie Gewehrschüsse auf die Zuhörer einprasselten. »Wo wir gerade bei Brüssel sind: In der belgischen Hauptstadt besuchten schon 2012 43 Prozent der Schüler Islamunterricht.[105] In Amsterdam, der Hauptstadt des Nachbarlands Niederlande, sind mehr als die Hälfte aller Neugeborenen Muslime.[106] In den vier größten niederländischen Städten ist Mohammed der am häufigsten vergebene Vorname für Neugeborene.[107] Gleiches gilt für die norwegische Hauptstadt Oslo.[108] In Österreich hat sich die Zahl der Muslime in den letzten 45 Jahren verdreißigfacht – von 23.000 Muslimen im Jahr 1971 auf 700.000 Muslime im Jahr 2016.[109]«
Kampel machte eine kurze Pause. Er wollte dem Publikum einen Augenblick Zeit geben, um das Zahlenmaterial auf sich wirken zu lassen. In dem Hörsaal hatte sich eine deutliche Anspannung ausgebreitet. Viele der Zuhörer dachten vermutlich zum ersten Mal über die demografische Dimension des Islam in Europa nach.
Es war im Raum so still geworden, dass Kampel ein wenig zusammenfuhr, als er seine eigene Stimme elektrisch verstärkt über die Lautsprecheranlage hörte:
»Meine Damen und Herren, derzeit erleben wir die größte Wanderungsbewegung in der jüngeren Menschheitsgeschichte. Jedes Jahr strömen Millionen von Menschen nach Europa, viele davon aus der islamischen Welt. Allein im Jahr 2015 kamen 890.000 Asylsuchende nach Deutschland.[110] 2015 und 2016 wurden in nur zwei Jahren über 1,2 Millionen Asylverfahren aufgenommen.[111] Lassen Sie mich Ihnen bildlich vorführen, wie sich die demografische Zusammensetzung Deutschlands dabei veränderte.«
Kampel ging zu einem kleinen Tisch am Rand des Podiums. Unter dem Tisch holte er ein längliches Glas hervor, das mit einer Unmenge kleiner, bunter Kugeln gefüllt war.
»Das hier ist Deutschland im Jahr 2014«, sagte Kampel, während er das Glas in die Höhe hielt. »Jede der bunten Kugeln steht für 100.000 Menschen. Da in Deutschland im Jahr 2014 knapp 81,2 Millionen Menschen lebten, befinden sich in dem Glas 812 Kugeln. In dem Gefäß sind 737 rote Kugeln für knapp 73,7 Millionen Deutsche und 75 gelbe Kugeln für knapp 7,5 Millionen Ausländer.«[112]
Kampel stellte das Glas auf den Tisch vor sich und griff erneut nach unten. Er brachte einen kleinen Becher zum Vorschein, der ausschließlich mit grünen Kugeln gefüllt war. »In diesem Becher befinden sich 12 Kugeln. Sie stehen für die 1,2 Millionen Asylantragssteller, die in den Jahren 2015 und 2016 nach Deutschland einwanderten.«
Kampel stellte den kleinen Becher mit grünen Kugeln neben das hohe Glas auf dem Tisch. »Wenn wir die beiden Gefäße so nebeneinander betrachten, erscheint uns die Einwanderung in dieser Zeit reichlich undramatisch. Wenn ich die 12 grünen Kugeln der Einwanderer zu den 820 Kugeln der deutschen Bevölkerung in das große Glas geben und dann schütteln würde, würden die grünen Kugeln schnell in der Menge untergehen.«
Kampel hielt kurz inne. »Was wir dann allerdings nicht beachten würden, wären Merkmale wie das Alter und das Geschlecht der Einwanderer. Die Asylantragsteller sind nämlich deutlich jünger und häufiger männlich als die deutsche Bevölkerung. Im Jahr 2015 waren 69,2 Prozent aller Asylantragsteller männlich und 40 Prozent zwischen 18 und 29 Jahren alt.[113] Multiplizieren wir diese beiden Prozentsätze, erkennen wir, dass 27,7 Prozent aller Asylantragsteller von 2015 und 2016 junge Männer zwischen 18 und 29 Jahren gewesen sein müssten. Das sind etwa 340.000 der 1,22 Millionen Asylantragsteller.« Kampel griff in den kleinen Becher und holte drei grüne Kugeln heraus, die für 340.000 Menschen standen. Er legte die Kugeln auf den Tisch.
Unter dem Tisch zog Kampel ein kleines Glas hervor, das mit roten und gelben Kugeln gefüllt war. »Dieses Glas steht für alle Männer zwischen 18 und 29, die 2014 in Deutschland lebten. In dem Glas befinden sich 50 rote Kugeln für 5 Millionen deutsche Männer und 8 gelbe Kugeln für 800.000 ausländische Männer in dieser Altersgruppe.«
Kampel nahm die 3 grünen Kugeln vom Tisch und schüttete sie in das Glas zu den 50 roten und 8 gelben Kugeln. »Das ist das Ergebnis von zwei Jahren Zuwanderung«, sagte er. »In diesem Glas sehen wir alle Männer zwischen 18 und 29, die derzeit in Deutschland leben – ein Querschnitt durch das männliche Publikum einer Diskothek, wenn Sie wollen. In dem Glas befinden sich nun 50 Deutsche und 11 Ausländer. Schon heute ist also fast jeder fünfte Mann zwischen 18 und 29 nicht deutsch. Und jeder Achtzehnte lebt erst seit zwei Jahren in unserem Land.«
Kampel stellte das Glas auf den Tisch und ging zurück zur Mitte des Podiums. »Meine Damen und Herren, die massive Zuwanderung verschiebt die demografischen Verhältnisse zwischen Deutschen, Ausländern und insbesondere Muslimen auf gewaltige Art und Weise. Diese Verschiebung wird sich noch weiter verschärfen, wenn die Asylsuchenden in den nächsten Jahren ihre Familien nach Deutschland nachholen und hier selbst Familien gründen werden. Während eine deutsche Frau im Schnitt nur 1,4 Kinder bekommt, bekommen Frauen in Syrien 3, im Irak 4 und in Afghanistan knapp 5 Kinder.[114] Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schätzte zuletzt, dass allein die Syrer über den Familiennachzug 500.000 weitere Menschen nach Deutschland holen werden.[115]
Zudem müssen wir davon ausgehen, dass die meisten Asylsuchenden niemals in ihre Heimatländer zurückkehren werden. In einer Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge gaben beinahe 85 Prozent der Asylsuchenden an, für immer in Deutschland bleiben zu wollen.[116]
Der Migrationsstrom nach Deutschland wird in absehbarer Zeit nicht abreißen. Das Bundesamt für Statistik geht davon aus, dass jedes Jahr 200.000 weitere Menschen zu uns kommen werden.[117] Deutschland ist nach wie vor das Hauptziel der Zuwanderung. Schon im Jahr 2017 entfiel fast ein Drittel aller in Europa gestellten Asylanträge auf Deutschland.[118] In Deutschland wurden im ersten Halbjahr 2017 mehr Asylentscheide gefällt als in allen anderen EU-Ländern zusammen.[119]«
Hinter Kampel erschien eine Karte von Afrika an der Wand. »Vor allem die Zuwanderung aus Afrika wird in den nächsten Jahren rasant zunehmen. Diese Zuwanderung wird zum großen Teil islamisch sein, denn ungefähr 40 Prozent aller Afrikaner sind Muslime.« Während Kampel fortfuhr, blendete er mit jedem neuen Druck auf seiner Fernbedienung eine neue Zahl über dem Umriss Afrikas ein. »In Afrika leben heute 1,25 Milliarden Menschen. Im Jahr 2017 plante ungefähr jeder fünfte Mensch in der Sub-Sahara, innerhalb der nächsten fünf Jahre seinen Kontinent zu verlassen.[120] Das sind bei 920 Millionen Menschen in der Sub-Sahara 184 Millionen migrationswillige Afrikaner. Sie kommen auf nur 742 Millionen Menschen in ganz Europa.[121] Den Vereinten Nationen zufolge wird sich die afrikanische Bevölkerung im Jahr 2030 auf 1,7 Milliarden vergrößert haben.[122] Wenn sich das Leben in Afrika bis dahin nicht erheblich verbessern wird – wovon ich ehrlich gesagt nicht ausgehe – wird es dann ungefähr 280 Millionen migrationswillige Afrikaner aus der Sub-Sahara geben.[123] Dann wird es aber nur 739 Millionen Menschen in ganz Europa geben![124]«
Über der Karte von Afrika erschien eine gigantische Zahl, die das gesamte Bild einnahm. »Bis zum Jahr 2100 wird sich die Bevölkerung Afrikas sogar vervierfachen. Im Jahr 2100 werden in Afrika 4 Milliarden Menschen leben. Dann werden knapp 40 Prozent aller Menschen auf der Erde Afrikaner sein.«[125]
An der Wand erschien eine Europakarte, über der ein steil ansteigender Graph verlief. Daneben stand eine Tabelle:

»Kommen wir zurück zur demografischen Entwicklung von Muslimen«, sagte Kampel. »In der ersten Spalte der Tabelle sehen Sie, dass im Jahr 2016 in Europa knapp 25,8 Millionen Muslime lebten – das sind 4,9 Prozent der Gesamtbevölkerung.[126] In der mittleren Spalte sehen Sie, wie sich die muslimische Bevölkerung entwickeln würde, wenn wir von einer ›mittleren Zuwanderung‹ nach Europa ausgehen. In diesem Szenario würden von heute an keine Asylbegehrenden mehr nach Europa einwandern, sondern nur noch reguläre Einwanderer – beispielsweise Arbeitsmigranten, die ordnungsgemäß mit einem Visum und Pass nach Europa kommen. In diesem Szenario werden Muslime im Jahr 2050 schon 57,8 Millionen Einwohner in Europa und damit einen Bevölkerungsanteil von 11,2 Prozent stellen. In Deutschland sind dann bereits 10,8 Prozent aller Menschen muslimisch. In Schweden wird der Anteil dann sogar schon 20,5 Prozent betragen, in Frankreich 17,4 Prozent und im Vereinigten Königreich 16,7 Prozent.«
Im Saal schnappten einige Zuhörer hörbar nach Luft. Kampel fuhr fort: »In der letzten Spalte sehen Sie, was passieren wird, wenn die Zuwanderung in den folgenden Jahren genauso ungebremst weitergeht wie in den Jahren 2014 bis 2016. Dann werden in Europa 75,5 Millionen Muslime leben. In Deutschland werden knapp 20 Prozent aller Einwohner muslimisch sein, in Schweden sogar über 30 Prozent und in allen anderen westeuropäischen Ländern 15 bis 20 Prozent.«
Hinter Kampel erschien nun eine Weltkarte. Auf der Karte befanden sich drei Kreisdiagramme, die mit den Worten 2010, 2050 und 2070 überschrieben waren.
»Auf dieser Folie sehen Sie die Anhängerschaft verschiedener Religionen auf der ganzen Welt. Im Jahr 2010 gab es weltweit 2,2 Milliarden Christen und 1,6 Milliarden Muslime. Christen bildeten ein knappes Drittel der Weltbevölkerung, Muslime ein knappes Viertel. Im Jahr 2050 wird es einer Studie des Pew Research Centers zufolge schon fast so viele Muslime wie Christen auf der Welt geben.« Kampel zeigte auf das letzte Kreisdiagramm. »Wenn die derzeitigen Bevölkerungsentwicklungen konstant bleiben, werden im Jahr 2070 zum ersten Mal mehr Muslime als Christen auf der Welt leben.«[127]
Kampel gönnte den Zuhörern eine kurze Pause, um die Informationen auf sich wirken zu lassen. Im Hörsaal war eine nachdenkliche Stille eingekehrt.
Kampel fuhr leise fort: »Ich sagte zu Beginn meines Vortrags, dass wir Europäer uns schon allein deshalb mit dem Islam auseinandersetzen müssen, weil Muslime einen immer größeren Teil der europäischen Bevölkerung ausmachen werden. Diese demografische Verschiebung müssen wir uns unbedingt vergegenwärtigen – viele Muslime haben dies bereits getan. In einer Umfrage unter rund 1000 Türken in Deutschland wünschte sich fast die Hälfte, dass in Deutschland irgendwann mehr Muslime als Christen leben sollten.«[128] An der Wand hinter Kampel erschien ein kurzer Satz. »Ich möchte meinen Vortrag mit einem Zitat des derzeitigen türkischen Präsidenten Erdoğan abschließen. Er rief im März 2017 den in Europa lebenden Türken zu: ›Macht nicht drei, sondern fünf Kinder, denn ihr seid die Zukunft Europas!‹«[129]
Kampel drückte noch einmal auf die Fernbedienung. Die Wand hinter ihm wurde schwarz.
Einen Moment lang trat völlige Stille im Saal ein.
Dann applaudierte das Publikum. Kampel machte eine angedeutete Verbeugung und wandte sich der Signierstunde seines neuen Buchs zu.
Kapitel 35
Kampel erwachte aus seinen Gedanken wie aus einem tiefen Traum. Er saß noch immer neben Lisa Albers in der U-Bahn und raste durch den Berliner Untergrund.
Die Kommissarin rätselte weiterhin über das dritte Gedicht der Fitna. Sie zeigte auf das Smartphone in Kampels Hand und las die ersten Gedichtzeilen vor: »›Der gut’ Muslim bringt jede Anstrengung für den Dschihad, egal ob Wort, ob Schrift, ob Siedlung, oder per Geburt, und dazu zählt auch nicht zuletzt die eigene Zakāt.‹« Sie tippte auf dem Smartphone auf das letzte Wort. »Was ist diese Zakāt?«
»Die Zakāt ist die dritte Säule des Islam«, erklärte Kampel. »Die Zakāt ist eine Art Almosensteuer, die jeder Muslim entrichten muss, der dazu geistig und finanziell in der Lage ist.«
»Eine Almosensteuer?«, fragte Lisa, indem sie das Wort Steuer besonders betonte. »Heißt das, Muslime müssen einen festgelegten Anteil ihres Einkommens für wohltätige Zwecke spenden? Funktioniert das so ähnlich wie die Sozialabgaben auf unseren Lohnzetteln?«
Kampel musste lachen. »Ihr Vergleich beschreibt die Zakāt sehr gut, allerdings hängt die Höhe der Zakāt nicht vom Einkommen, sondern vom Vermögen ab. Muslime müssen den Gegenwert von 2,5 Prozent ihres Besitzes an Vieh, Feldfrüchten, Edelmetallen und Handelsgütern für Almosen aufwenden.«
»Klingt so, als wäre das haargenau festgelegt.«
Kampel nickte. »Wie ich bereits sagte: Der Islam regelt das Leben der Muslime bis ins kleinste Detail. Auch zu derartigen Steuerdetails gibt es religiöse Gesetze. In einigen islamischen Ländern wird die Zakāt sogar vom Staat selbst eingesammelt, zum Beispiel in Saudi-Arabien.«
Kampel wusste, dass das Wort Zakāt im Koran ausschließlich in den medinensischen Suren vorkam, als Mohammed bereits zahlreiche Gebiete unterworfen und eine große Armee aufgebaut hatte. Einige Islamwissenschaftler vermuteten deshalb, dass der Prophet das Almosensystem einführte, um sein neu geschaffenes Reich am Leben zu erhalten.
Islamischen Überlieferungen zufolge zogen im Jahr 630 zum ersten Mal Mohammeds Agenten aus und forderten die Zakāt bei verschiedenen arabischen Stämmen ein. Sie hatten ein schwer zu widerlegendes Argument auf ihrer Seite: Wer nicht zahlte, wurde getötet. Bei dem Gedanken an die blutrünstigen Steuereintreiber des Propheten war Kampel jedes Mal froh, dass er sich auf seinem Finanzamt lediglich mit störrischen Beamten herumschlagen musste.
»Wofür wird die Zakāt verwendet?«, fragte Lisa.
»Die Zakāt ist eine religiöse Abgabe und darf laut verschiedenen muslimischen Kommentatoren nur Muslimen nützen und nicht den Ungläubigen. Dem Koran zufolge soll die Zakāt für Sklaven, Schuldner, Reisende und für den Weg Gottes gespendet werden.«[130]
Lisa schnappte überrascht nach Luft. »Für den Weg Gottes? Diese Formulierung habe ich schon häufig gehört!«
»Das wundert mich nicht. Für den Weg Gottes ist eine arabische Phrase für den Dschihad. Sie kommt im Koran insgesamt 49-mal vor. Wenn der Koran davon spricht, für den Weg Gottes zu spenden, soll der Heilige Krieg finanziert werden. Das wird an anderer Stelle im Koran sogar noch bekräftigt …«
Blitzschnell schlug Kampel den Koran in seiner Hand an einem der vielen Klebezettel auf. Er las vor:
[2:195] Und spendet für den Krieg um Gottes willen! […]
Kampel fuhr fort: »Wie ich Ihnen bereits erklärte, gibt es sowohl friedliche, als auch gewalttätige Formen des Dschihads. Zakāt-Spenden im Namen des Dschihads können also genauso für Verteilungen des Korans wie für islamische Terrororganisationen verwendet werden.«
Die Kommissarin traf eine plötzliche Erkenntnis. »Ich weiß jetzt, dass ich den Begriff Zakāt schon einmal gehört habe! Ich erinnere mich an einen Bericht vom UNO-Sicherheitsrat, demzufolge Terrororganisationen wie Al-Qaida Spenden über das Zakāt-System erhalten hatten. Einzelne Muslime hatten Geld an bestimmte Wohltätigkeitsorganisationen gespendet, die es dann an Terrororganisationen weiterleiteten.«[131]
Mit einem Mal erinnerte Lisa sich wieder an die vielen islamischen Wohltätigkeitsorganisationen, denen vorgeworfen wurde, mit Zakāt-Spenden Terrororganisationen zu unterstützen: Das Saudi Joint Relief Committee, dessen Direktor sogar ein Mitbegründer von Al-Qaida war.[132] Die Wohltätigkeitsorganisation Al-Wafa, die in einem Bericht der US-Regierung zu den Hintergründen der Anschläge vom 11. September auftauchte und in der ein späterer Guantanamo-Insasse als Freiwilliger gearbeitet hatte.[133] Die Holy Land Foundation for Relief and Development, die ehemals größte islamische Spendenorganisation der USA, die nach den Anschlägen auf das World Trade Center geschlossen wurde.[134] Die Benevolence International Foundation aus Saudi-Arabien mit Sitz in den USA, die von den Vereinten Nationen 2002 verboten wurde.[135] Das Sanabal Charitable Committee aus Großbritannien, das lybische Terroristen unterstützt hatte.[136] Die Organisation Islamic Relief Worldwide aus Großbritannien, die die palästinensische Terrororganisation Hamas unterstützt haben soll.[137] Die Organisation Muslim Aid mit Sitz in London, die angeblich Dschihadisten in Bosnien und Bangladesch unterstützte.[138] Die Al-Haramain Foundation aus Saudi-Arabien, bei der ein weiterer Guantanamo-Insasse als Freiwilliger arbeitete.[139] Sogar in Deutschland hatte es schon eine islamische Wohltätigkeitsorganisation gegeben, die Terroristen unterstützt hatte: Der türkisch-deutsche Verein Internationale Humanitäre Hilfsorganisation e.V. hatte in deutschen Moscheen insgesamt 8,3 Millionen US-Dollar eingesammelt und an die Hamas gespendet. Der Verein war im Jahr 2010 verboten worden.[140]
Kampel las die zweite Hälfte des Gedichts vor: »›Es wird schon bald ’ne Mehrheit sein, die sich nach Mekka wend’t, am Orte, wo das deutsche Volk uns heute noch regiert. Folg’ ihrem Blick und seh’, wo man sein Geld dem Guten spend’t.‹« Kampel dachte laut über eine der Formulierungen nach, die ihm besonders ins Auge fiel: »›Am Orte, wo das deutsche Volk uns heute noch regiert‹ … Ich glaube, damit ist der Bundestag gemeint. Das hier im Gedicht durch Anführungszeichen abgesetzte ›deutsche Volk‹ bezieht sich wahrscheinlich auf die Inschrift über dem Reichstagsgebäude: ›dem deutschen Volke‹.«
Lisa dachte über Kampels Idee nach. »Wenn sich diese Zeile auf den Bundestag bezieht, könnte mit der ›Mehrheit, die sich nach Mekka wend’t‹ dann eine parlamentarische Mehrheit gemeint sein?«
»Vermutlich. Ich glaube der Autor spielt damit auf eine islamische Partei an, die seiner Meinung nach irgendwann in den Bundestag einziehen könnte.« Als Kampel den skeptischen Blick der Kommissarin bemerkte, setzte er zu einer Erklärung an: »Die Vorstellung von einer islamischen Partei im Bundestag erscheint Ihnen heute wahrscheinlich noch wie eine Spinnerei. Aber wenn das Wachstum der muslimischen Bevölkerung in Deutschland weiter anhält, halte ich dieses Szenario für durchaus denkbar. In unserem Nachbarland, in den Niederlanden, ist das schon Wirklichkeit geworden: Dort wurde im Jahr 2017 mit DENK die erste islamische Partei ins Parlament gewählt. Auch in Deutschland gibt es schon einige Parteien, die sich vornehmlich an Muslime wenden. Da wäre etwa die BIG, das Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit, oder die Allianz Deutscher Demokraten.«
Kampel musste lächeln, als er an ein Wahlplakat der BIG dachte, das er im Internet entdeckt hatte. Auf dem Plakat war der einwanderungskritische Autor Thilo Sarrazin abgebildet – dessen Name falsch geschrieben war – und darunter stand die ebenfalls falsch geschriebene Forderung: »Ja zu ein respektvolles Miteinander«.[141]
Kampel fuhr fort: »Schon jetzt gibt es in Deutschland zahlreiche Wählerbündnisse von Muslimen, die ihren Mitgliedern die Wahl bestimmter Parteien anraten. In Duisburg gibt es beispielsweise ein Wählerbündnis namens Ummah – das ist das arabische Wort für die Gemeinschaft aller Muslime –, das eine Kooperation mit der SPD im Integrationsrat unterhält.
Generell stehen die SPD und ähnlich ausgerichtete Parteien bei Muslimen hoch im Kurs. Bei der Bundestagswahl 2013 wählten von den Türken in Deutschland 64 Prozent die SPD, 12 Prozent die Grünen und 12 Prozent die Linke – das sind zusammen 88 Prozent.[142] Diese Ergebnisse sind erstaunlich, wenn man sie mit den Wahlergebnissen in der Türkei vergleicht. Bei den türkischen Parlamentswahlen im Jahr 2015 stimmten knapp 60 Prozent der in Deutschland lebenden Türken für Erdoğans äußerst konservative AKP.«[143]
Lisa überlegte eine Weile. »Angenommen, eine islamische Partei, die den Koran und die Hadithe bis aufs Wort befolgt, würde in den Bundestag einziehen: Wie würde ihr Parteiprogramm aussehen?«
»Darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen«, sagte Kampel abwägend. »Ich kann mir jedoch vorstellen, welche Auffassung der Autor der Fitna vertritt. Er hält sich wahrscheinlich am ehesten an die staatstheoretischen Überlegungen von Maudūdī. Maudūdī ist der Meinung, dass nur Gott das Recht habe, Gesetze zu beschließen. Diese Gesetze hat Gott im Koran und im Leben Mohammeds, wie es in den Hadithen überliefert ist, umfassend festgelegt. Laut Maudūdī sollten islamische Länder daher darauf abzielen, zu sogenannten Khilafaten zu werden – Vertretungen des göttlichen Gesetzes auf Erden. In Khilafaten sorgen die Menschen dafür, dass die göttlichen Gesetze genau umgesetzt werden, aber sie dürfen keine eigenen Gesetze erlassen.«[144]
Kampel seufzte. »Mir scheint es so, als strebten die meisten islamischen Länder tatsächlich die Staatsform des Khilafats an. Von den 57 islamischen Ländern, die Mitglied in der Organisation für Islamische Zusammenarbeit sind, kann kaum eines als gefestigte Demokratie bezeichnet werden. Am ehesten demokratisch sind noch Indonesien und die Türkei, doch auch dort werden nicht-muslimische Minderheiten immer stärker unterdrückt. Bis zum Jahr 1890 gab es in der arabischen Sprache nicht mal das Wort Demokratie. Das von den Arabern heute verwendete Wort für Demokratie ist lediglich direkt aus dem Griechischen übernommen.«
Kampel dachte kurz nach. »Ob die Türkei noch länger demokratisch bleibt, wage ich außerdem zu bezweifeln. Auch dort scheint es Bestrebungen zu geben, den Staat in ein Khilafat umzuwandeln. Als der heutige türkische Präsident Erdoğan noch Bürgermeister von Istanbul war, zitierte er einen interessanten Satz aus einem religiösen Gedicht: ›Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.‹«[145] Kampel machte eine kurze Pause. »Das von Erdoğan zitierte Gedicht drückt Maudūdīs Überlegungen perfekt aus: Die Demokratie ist nur ein Mittel zur Errichtung des Khilafats. Genau so könnte es Deutschland ergehen, wenn eine islamische Partei an Macht gewinnt.«
Als Kampel aus dem Zugfenster schaute, dachte er an verschiedene Umfrageergebnisse, die er kürzlich für einen Artikel über die Demokratievorstellungen von Muslimen zusammengetragen hatte. Demnach gab es in Westeuropa erschreckend viele Muslime, die sich für die Einführung der Scharia – der Gesetzgebung des Islam – als offizielles Landesgesetz aussprachen. In einer Umfrage sagten 47 Prozent der türkischen Einwanderer in Deutschland, es sei wichtiger die Gesetze des Islam zu befolgen als die deutschen Gesetze. Außerdem meinten 32 Prozent, Muslime sollten eine soziale Ordnung wie zu Zeiten Mohammeds anstreben und 50 Prozent sagten, es gebe nur eine wahre Religion.[146] In einer anderen Befragung unter 280 muslimischen Neuntklässlern meinten 27,4 Prozent, die Scharia sei viel besser als die deutschen Gesetze.[147] Besonders zahlreich waren die Scharia-Befürworter in Großbritannien vertreten, dort machten sie in fünf verschiedenen Umfragen 23 bis 40 Prozent aller befragten Muslime aus.[148] In Frankreich lag ihr Anteil bei 29 Prozent.[149] Die positive Einstellung zur Scharia schien unter Muslimen in ganz Europa weit verbreitet zu sein, denn in einer Studie in sechs europäischen Ländern hielten zwei Drittel der Muslime die islamischen Gesetze für wichtiger als die ihres Heimatlandes.[150]
Lisa wiederholte die letzten Zeilen des Gedichts: »›Es wird schon bald ’ne Mehrheit sein, die sich nach Mekka wend’t, am Orte, wo das deutsche Volk uns heute noch regiert. Folg’ ihrem Blick und seh’, wo man sein Geld dem Guten spend’t.‹« Sie überlegte kurz. »Wenn ich das richtig verstehe, müssen wir dem Blick der Mehrheit im Bundestag folgen, die sich ›nach Mekka wend’t‹. Wenn wir uns also vom Reichstag aus in Richtung Mekka bewegen, müssten wir auf einen Ort stoßen, an dem ›man sein Geld dem Guten spend’t‹. Vielleicht eine islamische Wohlfahrtsorganisation oder so etwas.«
Kampel fand diese Schlussfolgerung naheliegend. »Wir müssen also zum Reichstag und von dort aus in Richtung Mekka laufen.«
Die Kommissarin lachte. »Das geht auch einfacher. Sie vergessen die Macht der digitalen Welt, Herr Kampel.« Sie nahm ihr Smartphone zur Hand und öffnete eine Karte von Berlin. »Wir empfangen hier unten zwar kein GPS, aber Internet. Das ist alles, was wir brauchen.« Lisa suchte in dem Kartenprogramm nacheinander nach den Begriffen Reichstag und Mekka und markierte beide Orte jeweils mit einem Punkt auf der Karte. Dann verband sie die beiden Punkte mit einer Linie. Sie zoomte an den Reichstag heran und deutete auf die entstandene Linie, die nun genau in Richtung Mekka verlief. »Irgendwo auf dieser Linie muss der Ort sein, an dem ›man sein Geld dem Guten spend’t‹.«
Beeindruckt beobachtete Kampel, wie Lisa auf der Karte dem Verlauf der Linie vom Reichstag aus folgte und den Kartenausschnitt immer wieder ein kleines Stück weiter in Richtung Mekka verschob. Dabei kontrollierte sie, ob sich ein markanter Punkt oder ein wichtiges Gebäude auf der Linie nach Mekka befand.
Die Linie führte durch die Britische Botschaft am Pariser Platz und von dort über die Behrenstraße und die Französische Straße vorbei an einigen namenlosen Gebäuden. Nach einigen weiteren Bildschirmabschnitten tauchten um die Linie herum zahlreiche Symbole auf.
»Hier kommen viele kleine Geschäfte«, sagte Lisa. »Eine Apotheke, ein Sandwich-Laden, eine Unternehmensberatung …«
»Da!« Kampel deutete auf einen Punkt, der genau auf der Linie lag. »Dort ist ein Euro-Zeichen – ist das eine Bank?«
Lisa zoomte heran. »Ja. Die Bank heißt ›KD Bank‹.«
»Wirklich?« Aufgeregt drehte Kampel den Bildschirm zu sich und überprüfte die Karte. Tatsächlich lag dort, genau auf der Luftlinie zwischen dem Reichstag und Mekka, die KD Bank.
»Das muss unser Ziel sein!«, rief er.
»Warum? Von einer ›KD Bank‹ habe ich noch nie gehört.«
Kampels Augen leuchteten auf. »Die KD Bank ist eine islamische Bank. Sie betreibt Islamic Banking.«
Kapitel 36
Lisa studierte den Fahrplan, der in der U-Bahn über der Tür angebracht war. »Wir müssen an der nächsten Haltestelle aussteigen, wenn wir zu dieser KD Bank wollen.« Sie setzte sich zurück zu Kampel und überlegte einen Moment. »Sie sagten, die KD Bank betreibt Islamic Banking. Was ist das?«
»Unter dem Begriff Islamic Banking werden Bankgeschäfte zusammengefasst, die sich nach der Scharia richten«, antwortete Kampel. »Dem Koran zufolge ist es Muslimen verboten, bei Geldgeschäften Zinsen zu verlangen.[151] Außerdem wird beim Islamic Banking nicht in Dinge investiert, die im Islam verboten sind, wie zum Beispiel Schweinefleisch, Alkohol oder Glücksspiel.«
Kampel beobachtete schon seit Langem, dass immer mehr Banken islamische Produkte anboten. Die Commerzbank beispielsweise hatte schon vor mehr als einem Jahrzehnt den ersten islamischen Fonds in Deutschland eingerichtet, den Al-Sukoor-Fonds. Die Deutsche Bank war 2007 mit dem scharia-konformen DWS Noor Islamic Funds nachgezogen. Sogar auf dem Aktienmarkt fand das Islamic Banking bereits Verbreitung: Dow Jones bot seit 1999 einen eigenen Aktienindex für Muslime an, den Dow Jones Islamic Market Index. Seit 2006 gab es einen ähnlichen Scharia-Aktienindex auch bei Standard & Poor’s.
Die KD Bank, zu der sie nun unterwegs waren, war jedoch die erste rein islamische Bank in Deutschland. Sie war 2010 gegründet worden und hatte mittlerweile Filialen in Berlin, Frankfurt und Mannheim.
Der Zug fuhr in eine hell erleuchtete U-Bahn-Station ein.
»Hier müssen wir raus«, sagte Lisa.
Kampel und Lisa verließen den Zug und gingen mit schnellen Schritten über den Bahnsteig. Sie folgten einer Treppe nach oben, die sie mitten in der Berliner Innenstadt entließ.
Kampel nahm einen tiefen Atemzug der frischen Luft. Er war froh, wieder an der Erdoberfläche zu sein, umgeben von dem stetigen Rauschen des Berliner Verkehrs und den bunt zusammengewürfelten, vorbeiziehenden Menschenmassen. Er fühlte sich, als wäre er stundenlang in einem dunklen Keller gefangen gehalten worden und wäre nun endlich wieder frei.
Kampel schaute sich um. Sie befanden sich mitten auf der Friedrichstraße, die er gerne als »Fifth Avenue von Berlin« bezeichnete. Genau wie die berühmte Straße in New York war die Friedrichstraße gesäumt von modernen Gebäuden aus Glas und Beton, zwischen denen sich die Autos genau so dicht an dicht drängelten wie die Büroarbeiter und die staunenden Touristen auf den schmalen Bürgersteigen.
»Hier entlang«, sagte die Kommissarin und führte Kampel zur nächsten Straßenecke. Im Gehen schaute sie sich aufmerksam in alle Richtungen um. »Halten Sie die Augen nach dem Araber offen. Womöglich wartet er schon auf uns. Wir sollten den QR-Code scannen und dann so schnell wie möglich von hier verschwinden.« Als sie um eine Häuserecke traten, zeigte Lisa auf die gegenüberliegende Straßenseite. »Da ist es!«
Kampel folgte ihrem Blick zu einem schmucklosen, modern aussehenden Gebäude aus Glas und Beton. Über den großen, hell erleuchteten Schaufenstern im Erdgeschoss hing ein Schild mit der Aufschrift »KD Bank«. Das Logo der islamischen Bank war eine goldene Palme auf grünem Untergrund.
Kampel war sich sicher, dass die grüne Farbgebung des Firmenlogos nicht zufällig gewählt war. Den islamischen Überlieferungen zufolge hatte Mohammed häufig grüne Gewänder und Turbane getragen und er ließ seine muslimischen Soldaten auf ihren Eroberungsfeldzügen grüne Banner hissen. Außerdem war über seiner Grabstätte ein grünes Tuch gespannt worden. Auch heute noch galt Grün als die Farbe des Islam, weshalb die meisten Koranausgaben in Grün gehalten waren – so auch der Koran, den Kampel mit sich herumtrug. Auch Schmuckelemente in Moscheen wurden häufig mit grüner Farbe gemalt. Zudem verwendeten viele Länder die Farbe Grün in ihren Flaggen bewusst als Symbol für den Islam.[152] Besonders prominent war das Grün in der saudi-arabischen Flagge, die auf grünem Grund die Schahāda präsentierte, das islamische Glaubensbekenntnis. Die palästinensische Terrororganisation Hamas verwendete ebenfalls eine grüne Flagge, zudem trugen ihre Kämpfer häufig grüne Stirnbänder.
Lisa schaute kurz nach links und rechts auf die Straße und ging dann über die rote Fußgängerampel auf die Bank zu. Sie scheint sich wenig aus Grün zu machen, dachte Kampel amüsiert, als er ihr folgte.
Kampel und Lisa warfen einen Blick durch die breite Glasfront in das Innere der Bank. In den Schaufenstern hingen Plakate, die lächelnde Muslime zeigten und mit kurzen Slogans scharia-konforme Finanzgeschäfte anpriesen. Der hell erleuchtete Innenraum war klinisch weiß gehalten. Dort konnten sich die Bankkunden an einem großen Schalter auf Deutsch und Türkisch beraten lassen. Um diese Uhrzeit war die Bank jedoch völlig leer und nur ein Vorraum mit einem Geldautomaten stand noch offen.
»Ich wette, der QR-Code ist irgendwo an der Fassade angebracht«, sagte Lisa. »Der Autor der Fitna will bestimmt nicht, dass ein angehender Dschihadist in die Bank geht und auf sich aufmerksam macht.«
Kampel nickte und begann gemeinsam mit der Kommissarin die Fassade der KD Bank zu untersuchen, wobei sie jeden Zentimeter genau ins Auge fassten.
Kampel ging ein paar Schritte nach rechts, wo das Gebäude endete. Er blickte nach oben: An der Ecke des Gebäudes war ein Regenrohr angebracht. Neben dem Rohr hing ein weiteres Schild, auf dem das Logo der islamischen Bank abgebildet war: die gelbe Palme auf grünem Grund.
»Folg’ ihrem Blick und seh’, wo man sein Geld dem Guten spend’t …«
Kampels Blick glitt an dem Regenrohr entlang, das neben dem Schild verlief. An dem Rohr klebten zahlreiche Zettel und Sticker, aber leider kein QR-Code. Stattdessen bewarben die vielen bunten Zettel die unterschiedlichsten Dinge: ein Musikfestival, eine politische Kundgebung, einen privaten Hebammendienst …
Als Kampels Blick auf den Flyer für den Hebammendienst fiel, geriet er ins Stocken. Ihm schossen wieder die ersten beiden Verse des Gedichts durch den Kopf, die ihn so erschrocken hatten.
Der gut’ Muslim bringt jede Anstrengung für den Dschihad,
egal ob Wort, ob Schrift, ob Siedlung, oder per Geburt …
Der Demografische Dschihad …
Kampel hatte eine Eingebung. Hing der Aushang für den Hebammendienst womöglich nicht zufällig hier?
Kampel kratzte an einer Ecke des Flyers, bis er ein kleines Stück abgeblättert hatte, und riss dann den kompletten Zettel herunter. Als er das Regenrohr hinter dem Aushang freigelegt hatte, lachte er laut auf: Dort war mit Graffiti ein halber QR-Code aufgesprüht.
Lisa hatte Kampels Freudenschrei gehört und trat zu ihm. Als sie das Symbol an dem Regenrohr entdeckte, lachte sie ebenfalls. »Sie sind großartig!«, sagte sie zu Kampel und zog ihr Smartphone hervor, wobei sie nicht bemerkte, dass Kampel wegen ihres Kompliments leicht errötete.
Mit mehreren flinken Wischbewegungen öffnete die Kommissarin die Webseite mit dem dritten Gedicht auf ihrem Smartphone und zoomte an den darunter abgebildeten QR-Code heran, sodass er den ganzen Bildschirm einnahm. Dann hielt sie das Gerät neben die andere Hälfte des QR-Codes an dem Regenrohr. Das halbierte Symbol an dem Rohr und das auf dem Smartphone ergaben nebeneinander ein vollständiges Bild.
Kampel scannte den vervollständigten QR-Code mit seinem eigenen Smartphone ein. Das Gerät in seiner Hand vibrierte.
Eine Webseite baute sich auf: Es war das vierte Gedicht der Fitna.
Kapitel 37
In jedem der 173 U-Bahnhöfe in Berlin sind im Schnitt 30 Kameras angebracht, die Tag und Nacht jede Bewegung der Passagiere aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln aufzeichnen. Die Aufnahmen werden 48 Stunden lang gespeichert und zu einer Leitstelle bei den Berliner Verkehrsbetrieben übertragen, wo sie von einem dort stationierten Polizisten überprüft werden können.[153] Mit der Kameraüberwachung will die Polizei der steigenden Zahl von Verbrechen in den Berliner U-Bahnhöfen begegnen. Allein im ersten Halbjahr 2016 waren dort mehr als 15.000 Verbrechen verübt worden.[154] Im Jahr 2016 hatte die Polizei mehr als 6900-mal bei den Verkehrsbetrieben nach einzelnen Überwachungsaufzeichnungen angefragt, um Verbrechen aufzuklären.[155]
In seinem kleinen Büro im Bundespolizeipräsidium in Potsdam saß Raschid am Computer und sah sich die Aufzeichnungen aus einer der zahlreichen Überwachungskameras an.
Raschid hatte sich von einem Kollegen einen direkten Zugriff auf die komplette Videodatenbank der Verkehrsbetriebe geben lassen. Das entsprach zwar nicht dem vorgeschriebenen Protokoll, aber gegen eine finanzielle Zuwendung hatte sich der Mann schnell davon überzeugen lassen, dass es manchmal besser war, die Vorschriften zu missachten.
Raschid spulte die Aufnahme zurück. Die Aufzeichnung stammte aus einer Videokamera am U-Bahnhof Alexanderplatz. Erneut sah er in überraschend guter Qualität, wie der Dschinn den Religionswissenschaftler und die Polizistin durch den Bahnhof jagte.
Raschid markierte den entsprechenden Abschnitt an seinem Computer und klickte auf Löschen.
Er knurrte. So sehr er den Dschinn auch respektierte, aber er hatte einen Fehler gemacht.
»Du musst besser aufpassen!«, schimpfte Raschid durch das Headset an seinem Kopf. »Du darfst auf keinen Fall entdeckt werden, sonst gefährdest du die ganze Mission!«
Die Stimme des Dschinn kam wie ein loderndes Feuer durch die Leitung. »Mach mir keine Vorschriften! Du brauchst mich nicht daran zu erinnern, was hier auf dem Spiel steht!«
»Wir müssen unbedingt …«
»Das GPS-Signal ist wieder da«, unterbrach der Dschinn ihn. »Das heißt, sie haben den Sender noch immer nicht entdeckt. Ich melde mich, wenn es etwas Neues gibt.« Ohne ein weiteres Wort trennte er die Verbindung.
Raschid seufzte. Er betete inständig, dass es dem Dschinn gelingen würde, den Anhänger zu beschaffen und die beiden Ungläubigen ohne Aufsehen aus dem Weg zu räumen. Sie durften auf keinen Fall zu dem Mann hinter der Fitna gelangen.
Resigniert schüttelte Raschid den Kopf und machte sich wieder an die Arbeit. An dem U-Bahnhof Alexanderplatz waren besonders viele Überwachungskameras installiert. Er musste noch jede Menge weitere Videoaufzeichnungen löschen.
Kapitel 38
Kampel und Lisa saßen in einem geschmackvoll eingerichteten Café, das trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit immer noch gut besucht war. Der ganze Raum war erfüllt von dem lebhaften Schwatzen der Gäste und dem Duft heißer Getränke.
Kampel nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse Kaffee. Die warme Flüssigkeit schien ihm sofort durch die Glieder zu strömen und gab ihm neue Kraft. Zum ersten Mal seit Stunden konnte er durchatmen. Er und Lisa Albers würden hier fürs Erste sicher sein. Hier konnten sie in Ruhe das nächste Rätsel der Fitna lösen.
Während Lisa sich unter den Tisch beugte und ihr Handy an eine Steckdose anschloss, schaute Kampel aus dem Fenster, an dem sie saßen. Auf der Straße vor dem Café, nur wenige Meter von ihnen entfernt, befand sich eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten Berlins: der Checkpoint Charlie.
Der Checkpoint Charlie war ein kleines, weißes Häuschen mit einem flachen Dach und einer Reihe von winzigen Fenstern an den Seiten. Auf dem nicht mal drei Meter hohen Verschlag stand ein Schild mit der Aufschrift: »US ARMY CHECKPOINT.« Vor dem Häuschen waren zwischen zwei US-amerikanischen Flaggen Sandsäcke aufeinandergestapelt. Daneben verkündete ein großes Schild auf Englisch, Russisch, Französisch und Deutsch: »Sie verlassen den amerikanischen Sektor – US Army.«
Der Checkpoint Charlie war seit dem Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 der bekannteste Grenzübergang zwischen dem »amerikanischen Sektor« und dem »russischen Sektor« gewesen – also zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Der Checkpoint Charlie war damit eines der wichtigsten Symbole der deutschen Teilung nach dem Zweiten Weltkrieg.
Amüsiert beobachtete Kampel die vielen Touristen, die sich vor dem kleinen Wachhäuschen gegenseitig fotografierten. Es kümmerte sie offenbar nicht, dass es sich bei dem Häuschen nur um eine Nachbildung und nicht um den echten Checkpoint Charlie handelte. Das Original war schon ein halbes Jahr nach dem Mauerfall abgebaut worden und heute im Berliner Alliierten-Museum ausgestellt.
Lisa kletterte unter dem Tisch hervor und beobachtete den steigenden Ladestand ihres Handys. »Endlich wieder Strom«, sagte sie zufrieden. »Dann wollen wir uns mal um das vierte Gedicht kümmern …« Mit ein paar schnellen Wischbewegungen an ihrem Smartphone öffnete sie die Webseite, zu der sie der QR-Code an der KD Bank geführt hatte.
Für uns geboten ist das Gute und verwehrt das Schlechte,
doch sie verachten selbst im heil’gen Monat diese Rechte.
Den Übertretern hat Allah das Herz und Ohr versiegelt,
es ist erlaubt, im Kriegsfall ihnen etwas vorzuspiegeln.
An einem Denkmal, da ist alles schamlos unverhüllt,
dort findest du mit einem Blick auch schon das nächste Bild.
Unter dem Gedicht prangte nicht nur ein weiterer QR-Code, sondern zudem eine rätselhafte Zeichenfolge:

»Das ist das vierte Gedicht in dieser Fitna«, sagte Lisa. »Wenn der Autor seinem bisherigen Muster folgt, müsste das Gedicht die vierte Säule des Islam beschreiben. Das ist das Fastengebot, nicht wahr?«
Kampel nickte. »Jeder volljährige Muslim, der geistig und körperlich dazu in der Lage ist, muss einmal im Jahr fasten. Im heiligen Monat Ramadan dürfen die Muslime tagsüber nichts essen, nichts trinken, nicht rauchen, keinen Geschlechtsverkehr haben und sollen generell enthaltsam leben.«
»Gelten diese Fastengebote nicht in der Nacht?«
Kampel schüttelte den Kopf. »Sobald die Sonne untergegangen ist, dürfen die Muslime während des Ramadan wieder so viel essen und trinken wie sie wollen. Im medizinischen Sinne fasten die Muslime also nicht, sondern verzichten nur kurzfristig auf Nahrung. Viele Muslime feiern den Sonnenuntergang im Ramadan mit opulenten Festessen.«
Kampel erinnerte sich an eine dieser Feierlichkeiten, die ihm besonders im Gedächtnis geblieben war. Während eines Ramadan war er wegen einer Buchvorstellung in Dortmund gewesen und hatte mit Überraschung festgestellt, dass auf dem Dortmunder Festplatz jeden Abend eine riesige Feier für das islamische Fastenbrechen stattgefunden hatte. Auf dem ganzen Platz waren etliche Zelte aufgebaut, die während der Abendstunden eine bunte Auswahl an orientalischen Speisen und Getränke anboten. An manchen Abenden hatten sich auf dem Platz bis zu 19.000 Muslime versammelt. Es war ein riesiges islamisches Volksfest, mitten in Deutschland.[156]
Kampel fuhr mit seiner Erklärung fort: »Der Ramadan gilt im islamischen Kalender als heiliger Monat, weil Mohammed in ihm die ersten Koranverse offenbart wurden.«
»Der heilige Monat wird auch in dem Gedicht erwähnt«, sagte Lisa. »›Für uns geboten ist das Gute und verwehrt das Schlechte, doch sie verachten selbst im heil’gen Monat diese Rechte.‹«
»›Für uns geboten ist das Gute und verwehrt das Schlechte‹ …«, murmelte Kampel nachdenklich vor sich hin. »Das ist ein fast wörtliches Zitat aus dem Koran. Dort heißt es an mehreren Stellen, dass Muslime ›das Gute gebieten‹ und ›das Schlechte verbieten‹ beziehungsweise ›verwehren‹ sollen.[157] In einfachen Worten: Muslime dürfen alles tun, was vom Islam erlaubt wird und müssen alles unterlassen, was der Islam verbietet. Dieser Gegensatz zwischen Halāl und Ḥarām, zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen, ist im Islam sehr wichtig. Es ist ein gutes Beispiel für den islamischen Dualismus.«
Lisa zitierte die zweite Gedichtzeile: »›Doch sie verachten selbst im heil’gen Monat diese Rechte.‹ Diese Zeile bezieht sich auf die Ungläubigen, nicht wahr? Sie halten sich nicht mal im Ramadan an die islamischen Gebote und Verbote.«
Kampel nickte.
Die Kommissarin las die nächsten beiden Zeilen vor: »›Den Übertretern hat Allah das Herz und Ohr versiegelt, es ist erlaubt, im Kriegsfall ihnen etwas vorzuspiegeln.‹« Sie überlegte kurz. »Den Anfang verstehe ich noch. Sie sagten, dass Gott dem Koran zufolge allen Nicht-Muslimen das Herz und die Ohren versiegelt habe und sie deshalb die Botschaft des Islam nicht hören könnten. Aber was ist mit der zweiten Zeile? ›Es ist erlaubt, im Kriegsfall ihnen etwas vorzuspiegeln …‹ Wenn ich das richtig verstehe, darf den Ungläubigen im Krieg etwas ›vorgespiegelt‹ werden. Was ist damit gemeint?«
»Taqīya«, flüsterte Kampel leise. Er lehnte sich auf seiner Sitzbank zurück und schaute durch das Fenster nach draußen. Einen Augenblick lang versank er in seinen Gedanken. Die Taqīya war selbst unter Muslimen eins der umstrittensten Konzepte des Islam …
Nach einer Weile fuhr er fort: »Das Wort Taqīya bedeutet wörtlich übersetzt so viel wie Frömmigkeit oder Furcht, wird in der Praxis jedoch meistens als Täuschung übersetzt. Im engeren Sinne bedeutet Taqīya, dass Muslime über ihren islamischen Glauben lügen dürfen, wenn sie sich in Gefahr befinden.«
Kampel legte seinen Koran auf den Tisch und schlug das Buch an einer bestimmten Stelle auf. Er las einen Koranvers vor, wobei er einen eingeschobenen Satz besonders betonte:
[16:106] Diejenigen, die an Gott nicht glauben, nachdem sie gläubig waren – außer wenn einer äußerlich zum Unglauben gezwungen wird, während sein Herz im Glauben Ruhe gefunden hat, – […] über die kommt Gottes Zorn, und sie haben eine gewaltige Strafe zu erwarten.
»Dieser Koranvers fasst die Taqīya sehr gut zusammen: Es ist Muslimen verboten, ihren islamischen Glauben abzustreiten, außer wenn sie sich in Gefahr befinden.«
Kampel blätterte zu einem anderen Koranvers, während er fortfuhr. »Eine ähnliche Ausnahmeregelung findet sich in einem der vielen Verse, die es Muslimen verbieten, sich mit Ungläubigen anzufreunden.[158] Demnach dürfen Muslime von dem Verbot abweichen, wenn sie sich vor den Ungläubigen fürchten.« Kampel hatte den Vers gefunden und las vor:
[3:28] Die Gläubigen sollen sich nicht die Ungläubigen anstatt der Gläubigen zu Freunden nehmen. Wer das tut, hat keine Gemeinschaft mehr mit Gott. Anders ist es, wenn ihr euch vor ihnen [den Ungläubigen] wirklich fürchtet. In diesem Fall seid ihr entschuldigt. […]
»Auch das ist Taqīya«, erklärte Kampel. »Muslime dürfen sich mit Ungläubigen anfreunden, wenn sie sich selbst dadurch schützen können.«
Kampel blätterte weiter. »Nach Lesart vieler Dschihadisten gibt es im Koran noch einen weiteren Vers zur Taqīya. Demnach dürfen Muslime lügen und sich nach außen hin unislamisch geben, solange sie in ihrem Herzen am Islam festhalten.«
[2:225] Gott belangt euch nicht wegen des leeren Geredes in euren Eiden. Er belangt euch vielmehr wegen dessen, was euer Herz begeht. […]
»In einem als authentisch eingestuften Hadith erlaubt Mohammed den Muslimen in drei Situationen zu lügen: Im Krieg, zur Versöhnung und zur Schlichtung von Ehestreitigkeiten.« Kampel hatte die lose Seite mit den Hadithen aus seinem Koran hervorgezogen und las nun vor:
[…] Lügen ist in drei Fällen ausnahmsweise erlaubt: Im Krieg, um Menschen miteinander zu versöhnen und im Gespräch zwischen Ehegatten, um Auseinandersetzungen zu vermeiden.[159]
»Die Lüge war für Mohammed eine wichtige Waffe auf seinen Kriegszügen«, fuhr Kampel fort. »Beispielsweise schloss er im Jahr 628 einen Friedensvertrag mit den Mekkanern, der zehn Jahre lang halten sollte. In Wahrheit wollte er mit diesem Manöver allerdings nur mehr Zeit gewinnen, um seine eigene Armee zu vergrößern. Als seine Armee zwei Jahre später den Mekkanern überlegen war, brach er den Friedensvertrag unvermittelt und eroberte Mekka. In den Hadithen erklärt Mohammed ganz offen, dass er Verträge immer nur solange aufrechterhielt, solange sie ihm nützten und forderte die Muslime dazu auf, es ihm gleich zu tun.« Kampel las einen weiteren Hadith vor:
[…] Er [Mohammed] sagte: »[…] Bei Gott und seinem Willen, wenn ich einen Eid schwöre und später etwas Besseres finde, dann tue ich, was besser ist und breche meinen Eid.«[160]
»Gleich mehrere Hadithe überliefern uns einen kurzen Spruch, in dem Mohammed seine Auffassung von Täuschung als Kriegswaffe prägnant zusammenfasst: ›Krieg ist Täuschung.‹«[161]
Lisa dachte über Kampels Worte nach und zitierte dann eine Zeile aus dem Gedicht: »›Es ist erlaubt, im Kriegsfall ihnen etwas vorzuspiegeln.‹ Wenn ich das richtig verstehe, glaubt der Autor der Fitna, dass Muslime Ungläubige im Krieg täuschen dürfen. Gilt das auch im Heiligen Krieg?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Kampel. »Wie ich Ihnen bereits darlegte, gilt die westliche Welt im Islam als Dār al-Harb – als Land des Krieges. Dschihadisten glauben, dass sich hier lebende Muslime in einem permanenten Kriegszustand mit den Ungläubigen befinden und es ihnen deshalb immer erlaubt sei, Ungläubige zu belügen. Die Dschihadisten berufen sich bei dieser Auffassung nicht nur auf Mohammed, sondern auf Gott höchstpersönlich. Im Koran wird an zahlreichen Stellen beschrieben, wie Gott Listen gegen die Ungläubigen schmiedet.«[162]
Lisa war verwirrt. »Also belügt Gott die Ungläubigen? Verbietet der Koran das Lügen denn nicht, so wie die zehn Gebote in der Bibel?«
Kampel machte eine abwägende Handbewegung. »Um diese Frage zu beantworten, muss ich ein wenig ausholen. Zunächst einmal: Ja, der Koran verbietet das Lügen an sehr vielen Stellen. Lassen Sie mich Ihnen einen bekannten Vers zum Lügen vorlesen …« Kampel blätterte kurz in seinem Koran und las dann vor:
[2:42] Und verdunkelt nicht die Wahrheit mit Lug und Trug, und verheimlicht sie nicht, wo ihr doch um sie wisst!
»Auf den ersten Blick könnte man tatsächlich denken, dass dieser Vers das Lügen im Allgemeinen verbietet. Der Begriff Lügen hat im Koran allerdings eine ganz bestimmte Bedeutung. Immer wenn es im Koran um Lügen oder um Lügner geht, sind Ungläubige gemeint – sie verleugnen nämlich ›die Wahrheit‹, also den Islam. Das wird an einer anderen Stelle sehr deutlich …«
[16:105] Eine Lüge hecken eben diejenigen aus, die nicht an die Zeichen Gottes glauben. Sie sind es, die lügen.
»Lügen sind im Koran Lügen gegen den islamischen Gott.«
[4:50] Schau, wie sie [die Ungläubigen] gegen Gott eine Lüge aushecken! Das ist genug an offenkundiger Sünde.
»Im Koran kommt insgesamt neunmal die Frage vor: ›Wer ist frevelhafter, als wer gegen Gott eine Lüge ausheckt oder seine Verse für Lüge erklärt?‹«[163] Kampel klappte den Koran wieder zu. »Taqīya und Lügen sind im Islam unterschiedliche Dinge. Taqīya, die Täuschung der Ungläubigen zum eigenen Schutz oder im Krieg, ist erlaubt. Lügen, das Ablehnen des Islam als wahre Religion, ist verboten.«
Lisa ließ sich Kampels Erklärungen eine Weile schweigend durch den Kopf gehen. Ihr wurde langsam bewusst, dass sie bei ihrer Arbeit vermutlich schon häufig über Formen von Taqīya gestolpert war, ohne es zu merken. »Ich muss gerade an ein Handbuch denken, das sich an Dschihadisten in westlichen Ländern richtet und das dem Islamischen Staat zugeschrieben wird«, sagte sie. »Darin wird den Dschihadisten gleich im ersten Kapitel empfohlen, dass sie sich unserem westlichen Lebensstil anpassen und sich möglichst unauffällig verhalten sollen. Das Handbuch empfiehlt Männern beispielsweise, sich statt eines üppigen Vollbarts einen Dreitagebart wachsen zu lassen, wie ihn viele westliche Männer tragen. Frauen wird dagegen geraten, bunte statt schwarze Kopftücher zu tragen. Diese Empfehlungen beschreiben Formen von Taqīya, nicht wahr?«[164]
Kampel nickte. »Ja, das sind Musterbeispiele für Taqīya. Dschihadisten, die sich auf die Taqīya berufen, können sich in der Öffentlichkeit gemäßigter geben, als sie in Wirklichkeit sind. Sie können zum Beispiel gegen bestimmte Gebote des Korans verstoßen, etwa indem sie auf einer Feier Alkohol trinken und sich mit Ungläubigen anfreunden. Sie können aber auch versuchen, die gesamte Religion des Islam als möglichst gemäßigt zu präsentieren, beispielsweise durch Falschbehauptungen oder Auslassungen in problematischen Koranzitaten.«
»Was für Falschbehauptungen über den Islam meinen Sie? Sie haben doch bestimmt ein konkretes Beispiel im Kopf.«
Kampel nickte. »Eine typische Falschbehauptung über den Islam ist die Aussage, das arabische Wort Islām würde Frieden bedeuten. Das ist völlig falsch. Islām heißt wörtlich übersetzt Unterwerfung, wie Sie in jedem deutsch-arabischen Wörterbuch nachschlagen können. Frieden heißt auf Arabisch nicht Islām, sondern Salām, so wie in der bekannten arabischen Grußformel as-salāmu ʿalaikum – Friede sei mit dir. Die Wörter Islām und Salām haben keineswegs die gleiche Bedeutung, sondern lediglich die gleiche Wortwurzel.«
Lisa war verwirrt. »Wortwurzel?«
Kampel überlegte einen Moment, wie er der Kommissarin das Konzept der Wortwurzel erklären sollte. Schließlich nahm er eine Serviette aus einem kleinen Ständer auf dem Tisch und breitete sie zwischen sich und Lisa aus. Dann zog er einen Kugelschreiber aus seiner Jacke.
»Im Arabischen werden Wörter aus Wortwurzeln gebildet, die aus drei Konsonanten bestehen. Die Wortwurzel von Islām beispielsweise ist s-l-m.« Kampel schrieb oben auf die Serviette s-l-m, wobei er zwischen den einzelnen Zeichen etwas Platz ließ. »Aus dieser Wortwurzel kann ich viele verschiedene arabische Wörter bilden. Wenn ich zum Beispiel ein paar Vokale zwischen den Buchstaben einfüge, kann ich das Wort salima bilden. Das ist ein Verb und heißt in etwa wohlbehalten sein.« Kampel schrieb ein neues Wort auf die Serviette. »Ich kann aus der Wortwurzel s-l-m auch das Wort Salām bilden, das arabische Wort für Frieden. Oder das Verb salama – Frieden schließen. Ein anderes Verb aus der Wortwurzel s-l-m ist aslama. Aslama wird in Wörterbüchern als sich ergeben oder sich hingeben übersetzt. Die Nominalform von aslama ist Islām – wörtlich übersetzt Unterwerfung oder Hingabe an Gott.« Kampel ließ den Kugelschreiber weiter über die Serviette sausen. »Wenn ich jetzt noch den Artikel al anhänge, entsteht daraus al-Islām, die arabische Bezeichnung für den Islam als Religion. Daraus wiederum leitet sich die Bezeichnung für den einzelnen Gläubigen ab: Muslim – der sich Ergebende oder der sich Unterwerfende.«
Kampel hatte bei seinen Erklärungen alle von ihm benannten Wörter aufgeschrieben und mit ihrer jeweiligen Übersetzung notiert. Zufrieden betrachtete er das Gesamtergebnis auf der Serviette:

Kampel fasste seine Erklärung zusammen: »Wie Sie sehen, werden die arabischen Wörter für Frieden und für Islam, Salām und al-Islām, zwar aus der gleichen Wortwurzel abgeleitet, aber sie bedeuten keinesfalls dasselbe. Islam heißt nicht Frieden. Das wäre auch reichlich unlogisch, wenn man sich vergegenwärtigt, wie häufig der Koran vom Heiligen Krieg spricht. Wenn überhaupt, besteht zwischen den Begriffen Islam und Frieden allenfalls eine grobe Assoziation. Man könnte interpretieren, dass nach islamischem Verständnis auf der Welt Frieden erreicht wird, wenn sich alle Menschen dem Islam hingeben und es keine Ungläubigen mehr gibt.«
»Sie sagten, es wäre eine Form von Taqīya zu behaupten, dass Islam das arabische Wort für Frieden sei. Wollen Sie damit sagen, dass Muslime, die das behaupten, die Ungläubigen absichtlich täuschen?«
»Das habe ich so pauschal nicht gesagt«, meinte Kampel ausweichend. »Ich glaube, die meisten Muslime, die derartiges behaupten, wissen es einfach nicht besser und wiederholen damit bloß etwas, das sie irgendwo aufgeschnappt haben. Sie müssen bedenken, dass Muslime in Deutschland größtenteils Türken sind, von denen nur sehr wenige Arabisch sprechen.« Kampel machte eine Pause. »Es handelt sich bei einer solchen Behauptung erst dann um eine bewusste Täuschung, wenn diejenigen, die sie aufstellen, genau wissen, dass sie lügen. Wenn beispielsweise der Funktionär eines islamischen Vereins, dessen Muttersprache noch dazu Arabisch ist, derartiges im Fernsehen sagt, muss ich tatsächlich von einer absichtlichen Täuschung der Ungläubigen ausgehen – von Taqīya.«
Lisa merkte, dass das Gespräch inzwischen gefährliches Terrain berührte. Umso interessierter hatte sie Kampel in den letzten Minuten zugehört. »Sie hatten vorhin noch eine andere Form der Taqīya erwähnt: Auslassungen bei Koranzitaten. Was meinen Sie damit?«
Kampel hielt kurz inne. »Eine andere bekannte Taqīya-Strategie ist es, bestimmte Koranpassagen beim Zitieren auszulassen, um gewalttätige oder anderweitig problematische Inhalte gegenüber den Ungläubigen zu verbergen. Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben.« Kampel suchte einen Vers in seinem Koran, während er weitersprach. »Häufig wird behauptet, der Islam würde das Töten grundsätzlich verbieten. Um diese Position zu unterstreichen, wird dann Folgendes aus dem Koran zitiert …«
[5:32] […] wenn einer jemanden tötet […] [soll es so sein], als ob er die Menschen alle getötet hätte. Und wenn einer jemanden am Leben erhält, soll es so sein, als ob er die Menschen alle am Leben erhalten hätte. […]
»Diesen Vers kenne sogar ich«, sagte Lisa. »Ich habe das erst vor Kurzem wieder bei einer Podiumsdiskussion über religiösen Fanatismus gehört.«
Kampels Augen wurden groß. »Und der Vers wurde exakt so zitiert, wie von mir gerade?«
»Ja. Warum?«
»Weil ich den Koranvers gerade nur ausschnittsweise zitiert und damit seinen kompletten Sinn entstellt habe!«, sagte Kampel entrüstet. »Wenn man diesen Vers nämlich in voller Länge liest, wird klar, dass das Töten an dieser Stelle nicht verboten wird. Ganz im Gegenteil, der Vers erlaubt unter bestimmten Bedingungen sogar, andere Menschen zu töten! Vollständig lautet der Vers …« Kampel las die Passage in ganzer Länge vor, wobei er einen Teil in der Mitte besonders betonte:
[5:32] Aus diesem Grund haben wir den Kindern Israels vorgeschrieben, dass, wenn einer jemanden tötet, und zwar nicht etwa zur Rache für jemand anderes, der von diesem getötet worden ist oder zur Strafe für Unheil, das er auf der Erde angerichtet hat, es so sein soll, als ob er die Menschen alle getötet hätte. Und wenn einer jemanden am Leben erhält, soll es so sein, als ob er die Menschen alle am Leben erhalten hätte. […]
»Verstehen Sie, was dieser Vers in voller Länge besagt?«, fragte Kampel. »Der Vers verbietet nur das Töten von Unschuldigen, aber er erlaubt explizit das Töten von Menschen, die ›Unheil‹ angerichtet haben.«
Lisa wirkte geschockt. »Das klingt in der Tat alles andere als friedlich.«
»Noch dazu wendet sich Gott in dieser Passage gar nicht an die Muslime, sondern an die ›Kinder Israels‹ – also an die Juden. Außerdem ist dieser Koranvers nicht mal originär islamisch, denn er gibt nur in anderen Worten einen Abschnitt aus dem jüdischen Talmud wider. Dort heißt es …« Kampel las von einem Klebezettel vor, den er in kleiner Schrift beschrieben und neben den Koranvers geheftet hatte:
Der Mensch wurde deshalb einzig erschaffen, um dich zu lehren, dass wenn jemand eine israelitische Seele vernichtet, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt vernichtet, und wenn jemand eine israelitische Seele erhält, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt erhalten.[165]
Kampel fuhr fort: »Wie ungeeignet der Vers 5:32 ist, um für einen friedlichen Islam zu werben, wird noch deutlicher, wenn man im Koran nur wenige Zeilen weiterliest. Denn schon der darauffolgende Vers 5:33 ruft dazu auf, die Ungläubigen umzubringen, zu kreuzigen und ihnen die Gliedmaßen abzuschlagen.«
[5:33] Der Lohn derer, die gegen Gott und seinen Gesandten Krieg führen und überall im Land eifrig auf Unheil bedacht sind, soll darin bestehen, dass sie umgebracht oder gekreuzigt werden, oder dass ihnen wechselweise rechts und links Hand und Fuß abgehauen wird, oder dass sie des Landes verwiesen werden. Das kommt ihnen als Schande im Diesseits zu. […]
Lisa lief ein Schauer über den Rücken. Sie konnte sich ausmalen, welcher der beiden Verse dem Autor der Fitna besser gefallen würde.
Kapitel 39
Lisa nahm noch einen Schluck aus ihrer Tasse mit heißer Schokolade. Es war schön, in dem vollen Café zwischen all den laut schwatzenden Touristen zu sitzen und Kampel zuzuhören. Sie war von den Ausführungen des Religionswissenschaftlers so gebannt gewesen, dass sie in den letzten Minuten völlig den Grund vergessen hatte, aus dem sie in dem Lokal war. Erst als Kampel seinen Blick erneut zu dem vierten Fitna-Gedicht auf seinem Handy gewandt hatte, wurde ihr mit einem Schlag wieder bewusst, dass sie noch immer einer Spur von rätselhaften Gedichten folgen mussten, um den Kopf einer gefährlichen Terrororganisation zu schnappen.
Kampel murmelte in Gedanken versunken die letzten beiden Gedichtverse vor sich hin: »›An einem Denkmal, da ist alles schamlos unverhüllt, dort findest du mit einem Blick auch schon das nächste Bild‹ …«
»Wir müssen scheinbar zu einem Denkmal, an dem ›alles schamlos unverhüllt‹ ist«, sagte Lisa. »Was ist damit gemeint?«
Kampel ließ sich die einzelnen Worte durch den Kopf gehen. Schamlos unverhüllt … Unverhüllt … Plötzlich holte er überrascht Luft. »Unverhüllt – ohne Hülle! Das arabische Wort für Hülle ist Hidschāb!«
»Hidschāb?«, echote Lisa. »So bezeichnet man das Kopftuch, das muslimische Frauen tragen, oder?«
»Ganz genau. ›An einem Denkmal da ist alles schamlos unverhüllt‹ – ich wette, wir suchen ein Denkmal, das ein oder mehrere unverschleierte Frauen zeigt.«
Lisa seufzte. »Davon gibt es in Berlin etliche. Das hilft uns kaum weiter …«
Als sie das Gedicht auf Kampels Telefon betrachtete, wanderte ihr Blick zu den merkwürdigen Zeichen unter dem Text:

»Ich wette, diese Zeichen geben uns einen Hinweis auf das Denkmal, das wir suchen«, sagte Lisa. »HA BBSI … Sagt Ihnen das etwas?«
Kampel schüttelte den Kopf. »Ich habe diese Zeichen noch nie zuvor gesehen.«
»Vielleicht finden wir etwas im Internet.«
Die Kommissarin zog das Smartphone zu sich heran und öffnete den Internetbrowser. Sie rief eine Suchmaschine auf, tippte HA BBSI ein und drückte auf Suchen. Sie legte das Telefon zurück auf den Tisch, sodass sie und Kampel gemeinsam die Suchergebnisse betrachten konnten.
»Das hilft uns alles nicht weiter«, murmelte Kampel, nachdem er die Liste sorgfältig durchgelesen hatte. »Nichts davon hat auch nur entfernt mit dem Islam zu tun. Wir müssen irgendetwas übersehen haben …«
Lisa betrachtete noch einmal die seltsamen Zeichen unter dem Gedicht. Vielleicht verlor sie sich zu sehr in Details? Wenn sie einen Kriminalfall untersuchte, half es ihr häufig, die Dinge aus der Distanz zu betrachten. Sie hielt das Smartphone mit ausgestrecktem Arm von sich. Als sie nun auf den Bildschirm sah, fiel ihr etwas auf. Sie deutete auf die letzten vier Zeichen, die sie zuvor als BBSI gelesen hatte.
»Vielleicht sind das hier gar keine Buchstaben, sondern Zahlen«, meinte sie. »Statt BBSI könnte es genauso gut 8851 bedeuten – wie die Zahlen auf einer Digitaluhr.«
Kampel betrachtete die Zeichen einen Augenblick lang erstaunt. Er begriff, dass die Polizistin recht haben könnte. »Es könnte sich bei den Zeichen sogar um eine Mischung aus Buchstaben und Zahlen handeln. Zum Beispiel BB51 oder 88SI.«
Lisa nickte. Sie schnappte sich eine Serviette vom Tisch und notierte mit Kampels Kuli die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten aus Buchstaben und Zahlen, die sich aus der unterschiedlichen Interpretation der Zeichen ergaben: BBSI, 8BSI, 88SI, 885I, 8851 …
»Wir müssen wohl oder übel nach all diesen Kombinationen im Internet suchen«, sagte sie.
Kampel seufzte. »Das könnte die ganze Nacht dauern …« Er brauchte dringend einen neuen Kaffee.
Kapitel 40
Der Dschinn war in einer Menschentraube untergetaucht. Überall um ihn herum zeigten die Leute begeistert auf ein kleines Häuschen in der Mitte der Straße, das mit dem Schriftzug »US ARMY CHECKPOINT« versehen war. Der Dschinn folgte scheinbar dem Blick der Menge, doch in Wahrheit interessierte er sich bloß für das Café auf der anderen Straßenseite.
Als der Dschinn seine Zielpersonen entdeckte, lächelte er. Der Religionswissenschaftler und die Polizistin saßen an einem Fensterplatz und tippten konzentriert auf ihren Handys herum.
Das Blut in den Adern des Dschinn schien mit einem Mal schneller zu fließen. Er musste sich zwingen, seine Erregung zu zügeln. Er wäre zu gerne mit gezogener Waffe in das Café gestürmt und hätte das Ganze hier und jetzt beendet, doch das hätte zu viele Zeugen hinterlassen. Obwohl er verärgert über Raschids Zurechtweisung am Telefon war, wusste er, dass sein Partner recht hatte: Die Mission hing davon ab, dass er unsichtbar blieb. Niemand durfte von seiner Existenz erfahren. Wenn die Öffentlichkeit auf ihn aufmerksam würde, könnte er sich genauso gut in einer Menschenmenge in die Luft sprengen, wie ein gewöhnlicher Dschihadist. Aber die Mission, auf die Gott ihn geschickt hatte, war nicht die Mission eines gewöhnlichen Dschihadisten. Diese Mission erforderte Feingefühl. Diese Mission erforderte einen Geist. Einen Dschinn.
Der Blick des Dschinn wanderte die Straße entlang. Links neben dem Café war ein kleines Schnellrestaurant. Ein perfekter Ort, um sich auf die Lauer zu legen. Der Dschinn würde dort nur darauf warten müssen, bis die beiden Ungläubigen das Café verließen. Dann würde er sie verfolgen und an einem ruhigen Ort abfangen können. Er grinste. Er musste bloß geduldig sein, genau wie Gott verkünden ließ:
[2:153] Ihr Gläubigen! Sucht Hilfe in der Geduld und im Gebet! Gott ist mit denen, die geduldig sind.
Kapitel 41
Kampel betrachtete zum wiederholten Male die rätselhaften Zeichen unter dem Gedicht. Frustriert legte er das Smartphone beiseite und nahm einen großen Schluck aus seinem Kaffee. Er brauchte eine Pause. Er und Lisa durchsuchten das Internet schon seit einer gefühlten Ewigkeit nach einer Bedeutung dieser merkwürdigen Zeichen. Kampel hatte die ihm zugeteilte Hälfte an Kombinationsmöglichkeiten aus Buchstaben und Zahlen inzwischen abgearbeitet, doch er war zu keinem Ergebnis gekommen. Keiner der Funde hatte auch nur einen entfernten Zusammenhang mit dem Islam oder dem Ramadan.
Kampel schloss die Augen und atmete tief durch. Er war sich sicher, dass die Zeichen unter dem Gedicht eine Bedeutung hatten. Sie standen dort bestimmt nicht zufällig. Die bisherigen Gedichte der Fitna waren äußerst raffiniert gewesen: Immer hatte es kleine Hinweise gegeben, die ihm zunächst verborgen geblieben waren, die aber eine entscheidende Bedeutung hatten. So musste es auch hier sein. Er musste etwas übersehen haben.
In Gedanken wiederholte Kampel noch einmal die letzten beiden Gedichtzeilen:
An einem Denkmal, da ist alles schamlos unverhüllt,
dort findest du mit einem Blick auch schon das nächste Bild.
Kampel war sich nach wie vor sicher, dass diese Zeilen ihn zu einem Denkmal in Berlin führen sollten, das eine Frau ohne Hülle, also ohne einen Hidschāb zeigte.
Oder war diese Lösung vielleicht doch zu offensichtlich? Kampel wusste, dass der Begriff Hidschāb im Koran nicht für Kopftücher verwendet wurde, sondern verschiedene Formen von Trennwänden bezeichnete: eine Trennwand zwischen dem Paradies und der Hölle, zwischen Mohammed und den Ungläubigen oder zwischen Gott und den Menschen, wenn neue Koranverse offenbart wurden.[166] Der Begriff Hidschāb, wie er heutzutage für islamische Kopftücher verwendet wird, hatte sich erst später aus einem Vers abgeleitet, in dem Mohammed den männlichen Muslimen befahl, nur durch einen Vorhang mit seinen Frauen zu sprechen, wenn sie sein Haus betraten.[167] Im arabischen Original wurde der Vorhang in diesem Vers als ein Hidschāb bezeichnet – eine Trennwand zwischen Männern und Frauen.
Nur wenige Verse später offenbarte Mohammed dann, dass Frauen in der Öffentlichkeit ein Kopftuch tragen sollten. Nach islamischer Logik gaben sich die Frauen auf diese Weise als ehrbar zu erkennen und schützten sich vor Belästigungen:
[33:59] Prophet! Sag deinen Gattinnen und Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen, wenn sie austreten, sich etwas von ihrem Gewand über den Kopf herunterziehen. So ist es am ehesten gewährleistet, dass sie als ehrbare Frauen erkannt und daraufhin nicht belästigt werden. […]
Kampel dachte über die verschiedenen Deutungen des Begriffs Hidschāb nach und schüttelte dann den Kopf. Er glaubte nach wie vor, dass das Gedicht ihn zu einem Denkmal schickte, an dem Frauen ohne Kopftuch abgebildet waren. Aber welches Denkmal konnte das sein?
Er überlegte, welche wichtigen Berliner Denkmäler Frauen mit offenen Haaren zeigten. Da war zum Beispiel das Denkmal für die preußische Königin Luise. Oder das Richard-Wagner-Denkmal, das den großen deutschen Komponisten auf einem Thron zeigte, an den sich deutlich entblößte Frauenfiguren lehnten. Wollte der Autor der Fitna mit diesen Frauenfiguren womöglich die Rolle der Frau im Islam als untertänige Gattin symbolisieren?
Die Denkmäler für Königin Luise und Richard Wagner standen beide im Großen Tiergarten. Was war das nächstgelegene Denkmal, das eine Frau zeigte? In Gedanken wanderte Kampel nach Norden und gelangte zur Siegessäule. Sie zeigte zwar keine Frau im eigentlichen Sinne, aber zumindest eine Göttin.
Mit einem Mal überkam Kampel eine tiefe Traurigkeit. Er hoffte inständig, dass die Fitna ihn nicht zur Siegessäule führen würde. Er wusste nicht, ob er die Kraft dazu aufbringen würde. Mit der Siegessäule verband Kampel einige seiner schönsten, aber auch seine traurigsten Erinnerungen …
Kampel setzte seine Brille ab und rieb sich die Schläfen. Er nahm noch einen Schluck Kaffee.
Er versuchte sich dagegen zu wehren, doch die Erinnerungen an die Siegessäule spukten ihm durch den Kopf. Vor allem eine Erinnerung hatte sich fest in seinen Schädel eingeprägt. Es war eine jener bedrückenden Erinnerungen, die ihn in jeder wachen Minute verfolgten und ihm nachts den Schlaf raubten. So sehr er es sich auch wünschte, würde er diese Erinnerung wohl niemals in seinem Leben vergessen können.
Es war sein bisher letzter Besuch auf der Siegessäule gewesen … Vor einigen Monaten, an einem kalten, dunklen Tag im März …
Kampel schnürte seine Jacke ein wenig enger, als ihm eine starke Windböe entgegenblies. Es war eiskalt und hatte schon den ganzen Tag lang ohne Unterlass geregnet. Der Winter schien sich noch einmal mit aller Kraft dagegen zu wehren, dem Frühling weichen zu müssen.
Kampel ging die Straße des 17. Juni entlang, die vom Brandenburger Tor zur Siegessäule führte. Die hohen Bäume des Großen Tiergartens bildeten an der Straße eine breite Allee und verstärkten den Sturm wie in einem Windkanal. Kampel kämpfte sich Zentimeter für Zentimeter nach vorne. Trotz des anhaltenden Sturmes wagte er es, einen Blick nach oben zu werfen. Wie immer erfasste ihn ein Gefühl der Ehrfurcht, als er die Siegessäule betrachtete.
Die Siegessäule war eine insgesamt 67 Meter hohe, gewaltige Steinsäule im Stil eines antiken Tempels. An den Seiten waren auf mehreren Ebenen goldene Kanonenrohre angebracht. An der Spitze der Säule stand eine imposante Frauenfigur, deren vergoldete Oberfläche trotz des wolkenverhangenen Wetters die ganze Umgebung zu erstrahlen schien. Bei der Figur handelte es sich um Victoria, die Siegesgöttin der römischen Mythologie – dieselbe Figur, die auch auf dem Brandenburger Tor im Streitwagen abgebildet war. Die Victoria auf der Siegessäule steckte in einem wallenden Umhang und hatte ihre zwei großen Flügel hinter sich ausgebreitet. Viele Menschen hielten sie deshalb fälschlicherweise für einen Engel. Die Siegesgöttin hielt in ihrer Linken einen langen Stab mit einem Eisernen Kreuz an der Spitze, mit der Rechten streckte sie einen Lorbeerkranz nach oben, so als würde sie ihn gerade jemandem zum Sieg aufsetzen. Die Siegessäule war 1873 fertiggestellt worden und erinnerte an die siegreichen Kriege Preußens gegen Dänemark, Österreich und Frankreich, die 1871 zur Einigung Deutschlands und zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs geführt hatten.
Als Kampel den Eingang zur Siegessäule erreichte, hielt er für einen Augenblick inne. Er hatte sich oben auf der Aussichtsplattform mit jemandem verabredet. Das heutige Treffen würde schmerzhaft werden, doch leider war es unvermeidlich. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er schon lange gewusst, dass es irgendwann zu diesem Gespräch kommen würde.
Kampel atmete noch einmal tief durch und betrat den Eingang der Siegessäule. Er bezahlte den Eintrittspreis an der Kasse und ging eine Wendeltreppe nach oben. Nach 285 Stufen und vielen Atempausen erreichte er endlich die Spitze.
Als Kampel auf die Aussichtsplattform hinaustrat, war er einen Moment lang von dem Ausblick überwältigt. Er hatte eine atemberaubende Sicht auf das Brandenburger Tor und die Kuppel des Reichstags neben dem Großen Tiergarten. Dahinter erhob sich am Horizont die Skyline von Berlin mit ihren kantigen, grauen Gebäuden und dem Fernsehturm, der in den wolkenverhangenen Himmel ragte.
Kampel schaute sich um. Er war nicht der einzige, der die Aussicht genoss. An der vergoldeten Brüstung der Aussichtsplattform stand eine großgewachsene, schlanke Frau mit dunkelblonden, langen Haaren. Sie schaute gedankenverloren zum Horizont.
Kampel und die Frau waren die einzigen Menschen auf der Aussichtsplattform. Offenbar hatte das stürmische Wetter die Touristen von einem Besuch hier oben abgehalten.
Kampel trat zu der Frau. Als sie seine Schritte bemerkte, drehte sie sich zu ihm um.
»Hallo Paul«, sagte sie leise.
»Hallo Maria«, sagte Kampel. Nach einer verlegenen Pause fügte er hinzu: »Du siehst sehr gut aus.«
Seine Ex-Frau hatte sich in den Monaten seit ihrer Trennung kaum verändert. Ihre dunkelblonden, fast braunen Haare umrahmten noch immer das hübsche, längliche Gesicht mit der spitzen Nase, die sie selbst überhaupt nicht an sich mochte. Und noch immer verlor sich Kampel in ihren hellblauen Augen.
Als Kampel seine Ex-Frau betrachtete, schoss ihm unwillkürlich ein Erinnerungsfetzen durch den Kopf. Er hatte schon einmal mit Maria hier oben gestanden. Damals waren sie frisch verliebt gewesen. Maria war damals erst kurz zuvor wegen ihres Studiums der Kunstgeschichte nach Berlin gezogen und hatte sich gegenüber Kampel häufig darüber beschwert, wie schrecklich »grau« und »unhistorisch« sie Berlin empfand, da nur wenige alte Gebäude nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten geblieben waren. Kampel hatte sie daraufhin auf die Siegessäule geführt, denn von hier oben konnte man fast das Gefühl haben, sich noch immer im historischen Berlin zu befinden.
Als Kampel nun in Marias blaue Augen schaute, wurde ihm schmerzlich bewusst, wie weit entfernt diese Erinnerung inzwischen lag. Damals hatte Maria ihn breit angelächelt. Heute wirkte sie traurig und geistesabwesend.
Sie deutete auf das schwere Gitter, das oberhalb der goldenen Brüstung um die Aussichtsplattform verlief. »Du hattest recht«, sagte sie.
»Womit?«
»Mit den Liebesschlössern. Als wir uns das erste Mal hier trafen, hatte ich vorgeschlagen, ein Schloss mit unseren Initialen an das Gitter zu hängen. Du warst dagegen, weil du meintest, die Schlösser würden regelmäßig abgenommen werden und ein entferntes Liebesschloss wäre ein schlechtes Omen für unsere Beziehung.« Sie deutete wieder auf das Gitter. »Du hattest recht. Hier sind keine Liebesschlösser mehr. Die wurden alle abgenommen.«
Kampel war überrascht, dass Maria sich an dieses Gespräch erinnerte. Gleichzeitig wurde er traurig. »Ich hätte dich trotzdem nicht davon abhalten sollen, ein Schloss anzubringen. Es wäre ein schönes Symbol gewesen.«
»Aber es wäre irgendwann entfernt worden. Das war unvermeidlich.«
»Ja. Das war es.«
Für einen Augenblick breitete sich Stille zwischen ihnen aus. Sie blickten beide zum Brandenburger Tor. Ein kalter Wind umfing sie.
Maria griff in ihre Handtasche und holte mehrere säuberlich in Klarsichtfolie verpackte Papiere hervor. Sie gab sie Kampel.
»Das sind die Scheidungspapiere«, sagte sie. »Es ist alles unterschrieben. Die Scheidung ist damit rechtskräftig. Ich heiße jetzt nicht mehr Maria Kampel, sondern wieder Maria Wesig.«
Kampel nahm die Papiere entgegen und stopfte sie in einen Einkaufsbeutel aus Stoff, den er aus seiner Jacke hervorzog.
Der Anflug eines Lächelns ging über Marias Gesicht. »Wie ich sehe, hast du dir immer noch keinen Aktenkoffer zugelegt. Du hast dir noch nie viel aus Formalitäten gemacht.«
Kampel lachte. Für einen kurzen Augenblick war es wie früher. »Wohnst du immer noch bei deiner Schwester?«
Maria nickte. »Ja. Sophie hat mir nach unserer Trennung sehr geholfen.«
Kampel lachte leise auf. »Schon verrückt, irgendwie. In all den Jahren unserer Ehe hast du mich niemals deiner Schwester vorgestellt und mir nicht mal ein Bild von ihr gezeigt. Du hast mir immer gesagt, dass ihr euch in jungen Jahren schrecklich zerstritten hättet und du nichts mehr mit ihr zu tun haben willst. Und jetzt wohnst du sogar bei ihr?«
»Sie ist die einzige Verwandte, die ich noch habe«, sagte Maria. »Ich brauchte einfach jemanden, der mir half. Und was soll ich sagen – Sophie war sofort für mich da. Und sie hat mir unseren Streit von damals verziehen.« Maria hielt inne. »Du würdest sie mögen.«
Wieder wurde es still zwischen ihnen.
»Das war’s dann wohl«, sagte Kampel.
»Das war’s«, echote Maria und schaute geistesabwesend zum Horizont.
Kampel schwieg einen Augenblick. Er wusste, dass sie in Wahrheit noch mehr zu besprechen hatten, doch es würde Schmerzen verursachen. »Warum wolltest du dich gerade hier mit mir treffen, Maria?«
»Stört dich das?«, fragte sie ruhig zurück.
»Nein, aber … Warum hast du mir die Scheidungspapiere nicht einfach per Post geschickt?«
Sie seufzte. »Ach, ich hatte diese dumme Idee. Ich … Ich wollte …« Sie rang nach Worten. »Ich dachte, dass ich dir vielleicht verzeihen könnte, wenn ich mich mit dir hier oben treffen und an unsere alten Zeiten denken würde.«
Kampel schluckte. »Und? Kannst du mir verzeihen?«
Maria schwieg kurz. Eine tiefe Traurigkeit breitete sich in ihren Augen aus. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann dir nicht verzeihen. Ich glaube nach wie vor, dass Dominik wegen dir so radikal wurde.«
Kampel hatte mit dieser Antwort gerechnet, doch noch immer traf ihn der Vorwurf wie ein Schlag ins Gesicht. »Ich verstehe immer noch nicht, warum du mir die Schuld dafür gibst, was Dominik getan hat!«, rief er. »Ich bin ein Religionswissenschaftler, verdammt nochmal! Ich bin der Letzte, der wollte, dass sich unser Sohn einer islamischen Terrororganisation anschließt!«
»Ich weiß. Aber wegen dir hat sich Dominik überhaupt erst für den Islam interessiert.« Maria schwieg kurz. »Der Islam bestimmt dein ganzes Leben, Paul – die vielen Bücher, die du schreibst; die ständigen Vortragsreisen und Konferenzen; die langen Nächte in deinem Arbeitszimmer, wenn du nach etwas recherchierst … Dominik dachte, er könnte deine Aufmerksamkeit erregen, wenn er sich ebenfalls für den Islam interessieren würde. Er wollte, dass du endlich Zeit mit ihm verbringst.«
Innerlich sackte Kampel zusammen. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber er wusste, dass Maria recht hatte. Tatsächlich hatte er sich von Dominik immer weiter entfernt, je älter er geworden war. Mit den Jahren war ihm sein eigener Sohn immer fremder geworden.
Äußerlich verteidigte Kampel sich: »Aber ich wollte doch nicht, dass Dominik zum Islam konvertiert!«
»Ich weiß«, sagte Maria traurig. »Dominiks Konversion kam erst später, als wir beide uns immer öfter gestritten haben. Das war alles sehr hart für Dominik. Vielleicht ist er aus purem Trotz gegenüber uns konvertiert, vielleicht auch, weil ihm die Religion einen festen Halt gab … Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass du ihn hättest davon abhalten müssen, sich zu radikalisieren.«
»Wie hätte ich das machen sollen? Ich konnte doch nicht wissen, dass er sich dem Islamischen Staat anschließen würde!«
»Ich weiß es nicht, aber du hättest es zumindest ahnen müssen. Spätestens bei deiner letzten Begegnung mit ihm, von der du mir erzählt hast, hättest du merken müssen, wie radikalisiert er war. Als er in diesem islamischen Gewand auftauchte und über den Weihnachtsmarkt schimpfte.«
Kampel schüttelte heftig mit dem Kopf. »Du stellst es dir sehr leicht vor, Radikalisierungen zu erkennen, aber das ist es nicht. Dominik hat sich bis aufs Wort an das gehalten, was der Islam vorschreibt, aber das hätte noch lange nicht heißen müssen, dass er sich einer islamischen Terrororganisation anschließen würde. Er hat die Religion einfach sehr streng befolgt. Wo ist da die Grenze zur Radikalisierung? Es ist Muslimen nun mal verboten, Feste der Ungläubigen zu feiern und ihre Kleidung zu tragen. Daran hielt Dominik sich. Er wollte sich von den Ungläubigen deutlich abgrenzen. Das mag radikal gewesen sein, aber so schreibt es der Islam vor. In einem Hadith sagte Mohammed: ›Wer ein Volk nachahmt wird einer von ihnen.‹[168] Im Koran heißt es außerdem, dass …«
»Verschone mich mit deinen Lehrstunden über den Islam!«, sagte Maria bitter. »Ich bin mir sicher, dass du irgendetwas hättest tun können, um Dominik aufzuhalten – wenn du dich nur etwas mehr angestrengt hättest!«
Sie schaute wieder zum Horizont und wurde still. Eine Träne lief ihr über das Gesicht. Ihr linkes Auge zuckte. Das tat es immer, wenn sie weinte.
»Unser Sohn ist weg«, sagte sie leise. »Er ist ein Mörder geworden.«
Diese Aussage traf Kampel wie ein Schlag. »Nein, Maria, das stimmt nicht …«
»Doch, es stimmt«, unterbrach Maria ihn. »Du weißt selbst, was die Polizei gesagt hat. Dominik hat sich ein Flugticket besorgt, ist in die Türkei geflogen und von dort nach Syrien gereist, um im Heiligen Krieg Ungläubige zu töten. Natürlich ist er ein Mörder.«
Kampel war nun ebenfalls den Tränen nah. »Sag das nicht, Maria. Du weißt nicht, was mit Dominik passiert ist.«
»Doch, Paul, wir wissen es. Auch wenn wir es nicht zugeben wollen.«
Kampel öffnete den Mund und setzte zum Sprechen an. Es gab so viel, was er Maria sagen wollte, aber er konnte nicht. Die Worte blieben ihm im Halse stecken.
Maria schloss die Handtasche, die ihr über die Schulter hing. »Ich sollte jetzt gehen.«
Kampel hielt inne. »Vielleicht kann ich dich und deine Schwester mal besuchen?«
Maria zögerte und schüttelte dann traurig mit dem Kopf. »Bitte nicht. Das bringt nur alles wieder hoch. Jedes Mal, wenn ich dich anschaue, muss ich an Dominik denken – er sah dir so ähnlich. Und dann denke ich daran, was aus ihm geworden ist.« Noch eine Träne lief ihr über die Wange. »Ich halte diese Vorstellung einfach nicht mehr aus. Dich zu sehen, macht es nur noch schlimmer.«
»Aber Maria, ich …«
»Bitte folge mir nicht«, unterbrach sie ihn. Bevor sie die Wendeltreppe betrat, drehte sie sich noch ein letztes Mal um. »Tschüss, Paul«, flüsterte sie. Dann war sie weg.
Kampel blieb oben und schaute in den wolkenverhangenen Himmel. Er folgte Maria nicht, so wie sie es sich gewünscht hatte.
Doch es gab kaum einen Tag, an dem er seine Entscheidung nicht bereute. Er hätte ihr folgen sollen. Vielleicht würde sie dann noch leben.
Kapitel 42
»Haben Sie etwas herausgefunden?«, fragte Lisa.
Kampel zuckte zusammen. Die Kommissarin hatte ihn jäh aus seinen Gedanken gerissen. »Entschuldigung, was sagten Sie?«
Kampel merkte, dass er am ganzen Körper zitterte. Die Erinnerung an seine letzte Begegnung mit Maria hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen.
Lisas Blick wurde sanft. Wie immer schien die Polizistin instinktiv zu spüren, dass Kampel etwas auf der Seele lag. »Sie haben gerade an Ihren Sohn gedacht, nicht wahr?«, fragte sie leise. »Es tut mir sehr leid, was mit ihm passiert ist, glauben Sie mir.«
»Danke«, sagte Kampel. »Aber nein, ich habe nicht an meinen Sohn gedacht … Sondern an meine Frau. Meine Ex-Frau, um genau zu sein.«
»Was ist mit ihr?«
Kampel zögerte. Normalerweise wäre es ihm wahnsinnig erschienen, einer Frau, die er erst seit wenigen Stunden kannte, von seinem Privatleben zu erzählen. Aber irgendetwas in Lisas Blick verriet ihm, dass sie aufrichtig an seiner Geschichte interessiert war. Außerdem waren sie aufeinander angewiesen, wenn sie dieser Fitna folgen wollten. Er konnte ihr diesen Teil seiner Geschichte unmöglich verschweigen.
Kampel sammelte einen Moment lang Kraft, bevor er die grausame Wahrheit aussprach: »Meine Frau ist tot. Sie hat sich selbst umgebracht.«
Lisa öffnete schockiert die Augen. »Das ist schrecklich! Wann ist das passiert?«
»Vor neun Monaten. Ende März. Es war eine Woche nachdem meine Ex-Frau, Maria, mir die Scheidungspapiere gegeben hat. Offenbar wollte sie die Scheidung noch vor ihrem Tod aus der Welt schaffen.«
Der mitfühlende Blick der Kommissarin ermutigte Kampel, weiterzuerzählen: »Dominiks Verschwinden hat Maria noch stärker belastet als mich. Sie wurde jede Nacht von schrecklichen Albträumen geplagt und konnte wochenlang nicht schlafen. Ein Arzt hat ihr deshalb ein Schlafmittel verschrieben. Eines Tages hat sie eine Überdosis davon genommen. Ihre Schwester hat die Leiche gefunden. Nach unserer Trennung war Maria zu ihr gezogen.«
»Hat Ihre Frau einen Abschiedsbrief hinterlassen?«
Kampel nickte. »Ihr Abschiedsbrief war kurz und knapp. Sie schrieb, dass sie es ohne Dominik nicht mehr in dieser Welt aushielt und entschuldigte sich bei ihrer Schwester für den Kummer, den sie ihr mit dem Selbstmord bereitete.« Kampel schluckte. »Mich hat sie mit keinem Wort erwähnt.«
Lisa schwieg und hörte aufmerksam zu. Sie ermutigte Kampel mit einer Geste weiterzuerzählen.
Kampel fuhr fort: »Meine Ex-Frau gab mir die Schuld daran, dass Dominik in den Heiligen Krieg gezogen ist. Sie sagte, dass ich Dominiks Radikalisierung hätte erkennen müssen und dass ich ihn daran hätte hindern können, zu einem Dschihadisten zu werden.«
Kampel merkte, wie seine Augen feucht wurden. Er schaute aus dem Fenster, um seine Tränen vor Lisa zu verbergen. »Das Schlimmste ist, dass ich denke, Maria hatte recht«, sagte er. »Ich bin tatsächlich schuld an allem. Immer wenn Maria und ich Probleme hatten, habe ich mich in meine Arbeit gestürzt und bin ihr aus dem Weg gegangen, anstatt an unserer Ehe zu arbeiten. Und nur wegen mir hat sich Dominik für den Islam interessiert, der ihn später in den Heiligen Krieg führte.« Kampel wischte sich eine Träne aus den Augen. »Vielleicht hätte ich tatsächlich verhindern können, dass Dominik sich radikalisiert. Dann wäre er niemals in den Dschihad gezogen. Und Maria hätte sich niemals umgebracht …«
Als Kampel sich wieder zur Kommissarin drehte, nahm er kurz wahr, wie sie sich hastig eine Träne aus den Augen wischte.
»Warum weinen Sie?«, fragte Kampel überrascht.
»Es tut mir leid«, sagte Lisa hastig. »Es ist nur …« Sie überlegte, wie sie es in Worte fassen sollte. »Als Polizistin lernt man schnell, dass man sich von seinen Fällen nicht vereinnahmen lassen darf. Man muss immer eine professionelle Distanz wahren, egal wie schwer die Schicksale sind, die einem in diesem Job begegnen. Nur so kann man die Kraft aufbringen, sich von einem Fall zu lösen und sich der nächsten Aufgabe zu widmen. Man darf nicht darüber nachdenken, wie sich die Menschen hinter einem Fall fühlen, den man nicht lösen kann. Doch, wenn ich Sie nun über Ihre Ex-Frau reden höre …« Lisa atmete durch. »Ich habe das Gefühl, dass ich und meine Kollegen an dem Selbstmord Ihrer Ex-Frau mitschuldig sind. Wir haben niemals herausgefunden, was mit Dominik passiert ist. Dieses Unwissen muss sie völlig verzweifelt haben. Wenn sie klare Antworten von uns bekommen hätte, hätte sie sich wahrscheinlich nicht umgebracht.«
Kampel war von der Anteilnahme der Kommissarin ernstlich gerührt. »Bitte geben Sie sich keine Schuld«, sagte er. »Ich bin mir sicher, Sie haben alles Menschenmögliche getan, um Dominik zu finden.«
Lisa nickte. »Danke. Aber trotzdem …« Sie schlug mit der flachen Hand frustriert auf den Tisch. »Ich hasse es, wenn ich einen Fall ungelöst auf Eis legen muss! Und der Fall Ihres Sohnes war so einer. Wir haben alle erdenklichen Spuren nach ihm verfolgt, aber einfach nichts herausgefunden. Dominik Kampel ist wie vom Erdboden verschluckt!«
Kampel schauderte, als er diese Worte hörte. Er überging dieses Gefühl schnell. »Können Sie sich denn noch an Dominiks Fall erinnern?«, fragte er. »Ich meine, Sie haben doch sicher sehr viele Fälle von Dschihadisten auf dem Tisch liegen.«
»An den Fall Ihres Sohnes erinnere ich mich sogar noch sehr gut«, meinte Lisa. »Immerhin ist es nicht gerade alltäglich, dass der Sohn eines bekannten Religionswissenschaftlers in den Heiligen Krieg zieht.«
Kampel wurde still. Ihm brannte eine Frage auf der Zunge, doch er zögerte, sie zu stellen. Ein Teil von ihm wollte nicht tiefer in der Vergangenheit graben, denn das würde ihm nur Schmerzen bereiten. Doch der Wissenschaftler in ihm musste alle Fakten kennen. »Was genau haben Sie über Dominiks Verschwinden herausgefunden?«
Lisa winkte ab. »Nicht viel. Meine Kollegen haben Ihnen schon alles mitgeteilt, was wir in Erfahrung bringen konnten.«
»Ich will trotzdem alles noch einmal hören. Vielleicht gibt es irgendein Detail, das Ihre Kollegen uns verschwiegen haben. Wenn ich und Maria Nachfragen stellten, hieß es immer, dass die Behörden zur Terrorabwehr bestimmte Dinge geheim halten müssten.« Kampel beugte sich ein Stück nach vorne und schaute der Kommissarin tief in die Augen. »Also bitte erzählen Sie mir noch einmal, was Sie herausgefunden haben. Ich möchte es genau wissen. In allen Einzelheiten.«
Lisa zögerte einen Moment. Sie fragte sich, ob es klug war, Kampel die Details einer polizeilichen Ermittlung mitzuteilen. Dazu gab es im Protokoll streng festgehaltene Regeln. Doch als sie in Kampels Augen hinter der großen Brille blickte, warf sie alle Bedenken über Bord. Das Verschwinden seines Sohnes hatte ihn völlig zerstört. Er hatte ein Recht darauf, zu erfahren, was genau passiert war. Außerdem war sie ihm etwas schuldig. Ohne seine Hilfe hätte sie der Fitna niemals so weit folgen können. Und das Protokoll hatte sie an diesem Tag sowieso schon mehr als einmal verletzt.
Lisa nahm einen großen Schluck aus ihrer Tasse mit heißer Schokolade und begann zu erzählen: »Also gut. Zunächst einmal zu den harten Fakten: Im letzten Dezember verschwand Dominik Kampel von einem Tag auf den anderen. Das letzte Lebenszeichen von ihm war eine SMS, die er an seine Mutter schrieb. Wenn ich mich recht erinnere, schrieb er: ›Leb wohl, Mama. Möge Allah dich beschützen.‹« Lisa überlegte kurz. »Dominik hat Ihnen keine SMS geschickt, oder?«
Kampel schüttelte traurig den Kopf. »Nein. Und das wundert mich kaum. Dominik hat mich zu dieser Zeit völlig verachtet.«
Lisa nickte zum Verständnis. »Ihre Ex-Frau, Maria Wesig, berichtete uns, dass sie sich nach Dominiks SMS Sorgen machte. Die Nachricht klang, als würde er sich für immer von seiner Mutter verabschieden wollen. Maria Wesig versuchte mehrmals Dominik auf dem Handy anzurufen, aber sie kam nicht mal mit einem Klingelzeichen durch. Daraufhin fuhr sie zu Dominiks Wohnung, doch auch dort war er nicht anzutreffen. Seine Freunde und Bekannten schienen ebenfalls nicht zu wissen, wo er hingegangen war. Er war von einem Tag auf den anderen völlig verschwunden.«
Lisa machte eine kurze Pause. »Als Dominik zwei Tage später immer noch nicht wiederauftauchte, gab Ihre Ex-Frau eine Vermisstenanzeige auf. Die Polizeibehörden leiteten die gängigen Maßnahmen ein, um ihn zu finden und verschafften sich Zutritt zu seiner Wohnung.« Sie blickte Kampel an. »Ich glaube, Sie und Ihre Ex-Frau waren dabei, als die Polizei die Wohnung öffnete?«
Kampel nickte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er zusammen mit Maria und mehreren Polizisten Dominiks Ein-Zimmer-Wohnung in einem heruntergekommenen Plattenbau betreten hatte. Als er sich in dem kleinen, dunklen Raum umgesehen hatte, hatte er gar nicht glauben können, dass sein eigener Sohn dort wohnte. In dem Zimmer befanden sich lediglich ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch, auf dem ein Computer stand. Die Wohnung passte eher zu einem Einsiedler als zu einem jungen Erwachsenen. Die einzigen persönlichen Gegenstände waren Poster mit arabischen Kaligrafien an den Wänden, die in künstlerischer Schrift Wörter wie Mohammed, Gott oder kurze Koranverse zeigten.
Nachdem sich die Polizisten kurz umgesehen und nichts entdeckt hatten, hatte einer der Beamten Dominiks Computer hochgefahren und durchsucht. Das Gerät war ohne Passwortschutz versehen und gab schon nach wenigen Klicks erschreckende Dinge preis: Auf der Festplatte befanden sich zahlreiche elektronische Veröffentlichungen des Islamischen Staates, die in blumigen Worten zum Dschihad aufriefen und mit grausamen Hinrichtungsfotos bebildert waren. Dominik hatte die Artikel offenbar aufmerksam gelesen, denn er hatte alle Dokumente sorgfältig sortiert und besonders interessante Stellen elektronisch hervorgehoben und mit ergänzenden Kommentaren versehen.
Lisa fuhr fort: »Als Dominiks Wohnung geöffnet und sein Computer durchsucht wurde, bestand schnell der Verdacht, dass er sich dem Heiligen Krieg angeschlossen haben könnte. Deshalb wurde der Fall meiner Abteilung übergeben. Wir leiteten sofort unsere üblichen Ermittlungsmethoden ein, mit denen wir nach Dschihadisten fahnden, die möglicherweise ins Ausland gereist sind.
Zunächst ließen wir uns von Dominiks Handyprovider eine Liste seiner telefonischen Aktivitäten geben. Die SMS, die er an seine Mutter schrieb, wurde demnach per Roaming aus der Türkei gesendet. Das war das letzte Lebenszeichen von ihm. Kurz danach brach das Signal zu dem Gerät völlig ab. Vermutlich hat Dominik das Handy zerstört oder den Akku entfernt.
Dann haben wir Dominiks Kontobewegungen unter die Lupe genommen. Demnach hat er mit seiner Kreditkarte kurz vor seinem Verschwinden ein Ticket für einen Billigflug in die Türkei gekauft. Das Abflugdatum war der gleiche Tag, an dem er die Abschieds-SMS an seine Mutter sendete.
Der Betreiber der Fluglinie bestätigte uns, dass Dominik den Flug in die Türkei tatsächlich angetreten hat. Sein Name stand auf der Liste der eingecheckten Passagiere. Außerdem berichteten uns zahlreiche Mitarbeiter an dem türkischen Flughafen, dass sie Dominik dort gesehen haben: Sie alle sahen einen schlanken Mann von 1,85 Meter mit dunklen Haaren.«
Lisa machte eine zusammenfassende Geste. »Nach allem was wir wissen, besteht kein Zweifel daran, dass Ihr Sohn in die Türkei geflogen ist. Dort angekommen, hat er eine Abschieds-SMS an seine Mutter geschickt und das Handy zerstört. Was er danach gemacht hat, wissen wir leider nicht.«
Kampels Stimme klang traurig und abgekämpft: »Aber Sie haben eine Ahnung, was Dominik nach seinem Flug in die Türkei getan hat, nicht wahr?«
Die Kommissarin schaute Kampel mitfühlend an. Sie seufzte. »Ich glaube, Dominik ist von der Türkei nach Syrien weitergereist und hat sich dort dem Heiligen Krieg angeschlossen. Diese Reiseroute ist bei europäischen Dschihadisten sehr beliebt. Viele von ihnen fliegen mit einem Billigflug in die Türkei und reisen von dort mit dem Auto nach Syrien, Afghanistan, in den Irak oder den Iran, um einer Terrorgruppe beizutreten.«
Lisa wusste, dass der Fall von Dominik Kampel leider keine Seltenheit war. In den letzten Jahren waren mehr als 720 Dschihadisten aus Deutschland ins Ausland gereist, um sich dort dem Heiligen Krieg anzuschließen. Ein knappes Drittel von ihnen kehrte irgendwann wieder zurück. Mehr als 100 von ihnen waren inzwischen als tot bestätigt.[169] Lisa schluckte. Sie fragte sich, zu welcher Gruppe Dominik Kampel gehören würde.
Kampel schaute traurig seine Kaffeetasse an. Die Möglichkeit, dass sich sein eigener Sohn den Dschihadisten angeschlossen haben könnte, nagte offensichtlich an ihm.
Lisa beugte sich nach vorne. »Geben Sie die Hoffnung nicht auf«, tröstete sie Kampel. »Ich und meine Kollegen können nur vermuten, dass Dominik nach Syrien in den Heiligen Krieg gezogen ist. Wir haben dafür jedoch keine Beweise. Keiner unserer Kontakte in dem Umfeld der Dschihadisten in Syrien konnte oder wollte uns von Ihrem Sohn berichten. Vielleicht ist er also gar nicht nach Syrien gegangen, sondern befindet sich noch in der Türkei. Wir wissen es einfach nicht.«
Kampel starrte noch immer ins Leere. Er zitterte. Die Kaffeetasse in seiner Hand klirrte auf dem Untersetzer.
Lisa griff über den Tisch und hielt seine Hand fest. Das Klirren verstummte. »Es tut mir schrecklich leid«, sagte sie leise und schaute Kampel tief in die Augen. Sie hatte Mitleid mit ihm. Es war dem Religionswissenschaftler anzusehen, in was für ein Loch das Verschwinden seines Sohnes ihn gerissen hatte.
Lisas Berührung schien Kampel aus dem Strudel seiner düsteren Gedanken zu ziehen. »Danke«, sagte er leise. »Danke, dass sie mir von Dominik und Ihren Ermittlungen erzählt haben. Ich hatte das Meiste schon gehört, aber es tut gut, sich die ganzen Informationen noch einmal zu vergegenwärtigen.« Er überlegte kurz und sah Lisa dann eindringlich an. »Und machen Sie sich bitte keine Vorwürfe wegen Dominik. Ich bin mir sicher, dass Sie und Ihre Kollegen Ihr Möglichstes getan haben, um ihn zu finden.« Kampel seufzte. »Sie hätten Dominik sowieso nicht davon abhalten können, in den Heiligen Krieg zu ziehen. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann tat er es auch.«
Lisa verkniff sich eine Bemerkung, die Kampel nur unnötig beunruhigt hätte: Selbst wenn die deutschen Behörden gewusst hätten, dass Dominik in den Heiligen Krieg ziehen wollte, hätten sie ihn wahrscheinlich nicht davon abgehalten. Lisa erinnerte sich an ein Fernsehinterview aus dem Jahr 2014, in dem der Leiter des Bayrischen Landeskriminalamtes gesagt hatte, dass deutsche Behörden in den Jahren 2009 bis 2013 die Ausreise von Dschihadisten gebilligt und mit ausländerrechtlichen Maßnahmen teilweise sogar noch forciert hatten, um die Gefährder loszuwerden. Ein internes Papier hatte diese Strategie auch schriftlich festgehalten.[170] Dominik wäre es womöglich genauso ergangen. Bestimmt hätten ihn einige Behörden absichtlich in den Dschihad ziehen lassen.
Lisa behielt diesen Einwand jedoch für sich und folgte Kampels Blick nach draußen, wo noch immer Touristen den Checkpoint Charlie bewunderten.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte Kampel plötzlich.
»Was meinen Sie?«
»Sie wissen bereits, dass ich den Mann hinter der Fitna schnappen will, weil er meinen Sohn in den Dschihad geführt hat. Aber was ist mit Ihnen? Sie sagten heute in der U-Bahn, dass Sie ebenfalls jemanden wegen ihm verloren haben. Von wem haben Sie da geredet?«
Lisa machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch noch in der Bewegung hielt sie inne. Ihre Augen wurden feucht. Sie rang mit sich.
»Ich kann es Ihnen nicht sagen«, sagte sie schließlich. »Es schmerzt zu sehr, darüber zu sprechen. Ich kann diesen Schmerz im Moment nicht zulassen, wenn ich den Mann hinter der Fitna finden will.«
»Ich kann ihr Schweigen sehr gut nachvollziehen«, sagte Kampel mitfühlend. »Ich habe ebenfalls nie mit jemandem über Dominiks Verschwinden gesprochen. Stattdessen habe ich mich in meine Arbeit gestürzt. Ich habe alles so weit wie möglich verdrängt …« Er schaute kurz in die Ferne und schüttelte dann den Kopf. »Aber inzwischen glaube ich, das war ein Fehler. Es hat gutgetan, Ihnen von meinem Verlust zu erzählen. Vielleicht würde es Ihnen genauso guttun, darüber zu reden.«
Lisa überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. »Es tut mir leid, aber ich bin noch nicht so weit. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich den Mann hinter der Fitna einfach schnappen muss. Vielleicht finde ich dann endlich Ruhe.« Sie hielt inne und starrte aus dem Fenster ins Leere. »Wenn ich diesen Mann nicht erwische, würde ich mir mein ganzes Leben lang Schuldgefühle machen. Ich würde nie wieder in den Spiegel schauen können.«
Als Kampel die Worte der Kommissarin hörte, schnappte er überrascht nach Luft. Ihm war, als hätte plötzlich jemand eine Tür in seinem Kopf aufgestoßen.
In den Spiegel schauen. Aber natürlich!
»Sie haben nicht zufällig einen Taschenspiegel dabei, oder?«, fragte er.
Die Kommissarin war verwirrt. »Nein. Warum brauchen Sie …?«
Doch bevor sie ausreden konnte, war Kampel bereits aufgestanden und ging zu einer Gruppe junger Leute an einem Nebentisch. Kampel unterhielt sich kurz mit einer jungen Frau und kam dann mit einem kleinen Schminkspiegel eilig zurück zu Lisa.
»Ich glaube, ich weiß jetzt, was das vierte Fitna-Gedicht von uns will!«, sagte er aufgeregt, während er sich setzte. »Genau wie die anderen Gedichte, ist auch dieses mehrdeutig! Der entscheidende Hinweis lag die ganze Zeit vor uns. Wir haben ihn nur nicht gesehen.« Kampel rief das vierte Gedicht auf seinem Smartphone auf und deutete auf die beiden Zeilen in der Mitte.
Den Übertretern hat Allah das Herz und Ohr versiegelt,
es ist erlaubt, im Kriegsfall ihnen etwas vorzuspiegeln.
»Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass diese Verse die Taqīya beschreiben«, sagte Kampel. »Die Täuschung der Ungläubigen. Man kann diese Verse aber auch ganz wörtlich verstehen: Den Ungläubigen wird in diesem Gedicht etwas vorgespiegelt!«
Lisa verstand noch immer nicht, worauf Kampel hinauswollte.
Der Religionswissenschaftler betrachtete indessen noch einmal die scheinbar bedeutungslosen Zeichen unter dem Gedicht:

Dann nahm er den Schminkspiegel und setzte ihn senkrecht am Rand des Smartphones auf.
Als Lisa nun in den kleinen Spiegel schaute, begriff sie. In dem Spiegel ergaben die Zeichen ein völlig neues Bild:

»Spiegelschrift!«, stieß die Kommissarin hervor.
Kampel nickte. »Ich weiß, was diese Zeichen bedeuten«, sagte er. »Geben Sie mir eine Minute.«
Kampel zog das Handy zu sich und tippte eine Weile konzentriert auf dem Display herum. Nach einer halben Minute leuchteten seine Augen auf.
»Wir sollten unsere Getränke bezahlen«, sagte er zufrieden. »Unser Ziel ist ganz in der Nähe.«
Nur wenige Meter von Kampel und Lisa entfernt saß der Dschinn in einem Schnellrestaurant und starrte konzentriert auf sein Smartphone. Der rote Punkt auf dem Bildschirm hatte sich plötzlich bewegt. Der Religionswissenschaftler und die Polizistin verließen endlich das Café, in dem sie sich so lange versteckt hatten.
Der Dschinn spürte, wie sein Blut in Wallung geriet.
Diesmal werdet ihr mir nicht entkommen!
Kapitel 43
Der Murrabi machte es sich in seinem Fernsehsessel gemütlich. Er war froh, endlich wieder zu Hause zu sein.
Mit einem Druck auf die Fernbedienung schaltete er seinen großen Fernseher ein. Zufrieden registrierte er, dass der digitale Festplattenrekorder seinen Auftritt in der Talkshow wie vorhergesehen aufgezeichnet hatte – der Murrabi hatte sich das Gerät eigens zu diesem Zweck angeschafft. Er lächelte breit. In wenigen Augenblicken würde er seinen Talkshow-Auftritt in bester Bild- und Tonqualität erneut erleben können. Auf diesen Teil freute sich der Murrabi jedes Mal am meisten, wenn er im Fernsehen auftrat. Es war für ihn zu einem wohligen Ritual geworden, sich die Aufzeichnung nach einem erfolgreichen Auftritt anzusehen und seine eigene Wirkung genau zu studieren.
Der Murrabi lehnte sich entspannt zurück und drückte auf die Wiedergabe-Taste.
Auf dem Bildschirm erschien ein großes Fernsehstudio, dessen Bühnenbild in angenehme rote und gelbe Farben getaucht war. In der Mitte des Studios saßen fünf Personen nebeneinander in großen Sesseln, die in einem Halbkreis gruppiert waren. Der Name der Sendung wurde eingeblendet. Die Kamera fuhr mit einem schnellen Schwenk über das Publikum, das frenetisch applaudierte.
Der Murrabi musste beim Anblick des begeistert klatschenden Studiopublikums schmunzeln. Das Publikum hatte diese Art zu Klatschen vor Beginn der Sendung mit einem sogenannten »Warm-Upper« trainiert. Der Warm-Upper war ein gut gelaunter, durchtrainierter Mann gewesen, der die Ausstrahlung eines Animateurs in einem Strandhotel hatte. Der Mann hatte die Menge mit ein paar flotten Sprüchen immer weiter angeheizt, bis das Publikum für die Fernsehkameras ekstatisch genug wirkte. Danach hatte er ebenfalls Platz genommen und sich für die Menge gut sichtbar vorne in die erste Reihe gesetzt.
Die Kameraeinstellung wechselte zum Moderator, der in dem mittleren Sessel auf der Bühne saß. Der Mann war groß und athletisch gebaut und sah aus wie ein ehemaliger Profischwimmer. Er war Anfang 50, hatte aber noch immer volle dunkle Haare. Er trug einen hellgrauen Anzug, der ihm blendend saß und eine grüne Krawatte. Der Murrabi wusste, dass dieser Mann schon seit mehr als einem Jahrzehnt verschiedene politische Talkshow-Formate moderierte. Er war ein absoluter Profi in seinem Geschäft.
»Guten Abend«, sagte der Moderator mit einem breiten Lächeln wie aus einer Zahnpasta-Werbung. Das Publikum applaudierte immer noch. »Schön, dass Sie wieder eingeschaltet haben.«
Als der Warm-Upper in der ersten Reihe aufhörte zu klatschen, ebbte der Applaus des Publikums schnell ab.
»Guten Abend, liebe Zuschauer«, wiederholte der Moderator. »In unserer heutigen Sendung behandeln wir eine Frage, die derzeit so kontrovers diskutiert wird, wie kaum eine andere: ›Sind der Islam und die freiheitliche Gesellschaft miteinander vereinbar?‹ Wie immer haben wir vier Gäste eingeladen, mit denen wir dieses spannende Thema diskutieren möchten. Der erste Gast ist …«
Der Murrabi spulte die Aufnahme vor. Er interessierte sich nicht für die ersten Minuten der Sendung, denn sein Auftritt kam erst in der zweiten Hälfte.
Der Murrabi sah im Schnelldurchlauf, wie der Moderator seine Gäste vorstellte: einen muslimischen Schauspieler; eine muslimische Frau mit Kopftuch, die irgendein Programm »gegen Diskriminierung« leitete; eine Politikerin aus dem deutschen Bundestag und ein Bürgermeister einer deutschen Großstadt.
Der Murrabi war zu Beginn noch nicht vorgestellt worden, da er in dieser Sendung kein Teil der eigentlichen Gesprächsrunde war. Er würde erst später vorgestellt werden und ein kurzes Interview mit dem Moderator führen. Zu Beginn hatte er noch vorne im Publikum gesessen, ganz in der Nähe des Warm-Uppers.
Nachdem der Murrabi einige Minuten vorgespult hatte, ließ er die Aufzeichnung wieder in normaler Geschwindigkeit abspielen. Er glaubte, dass die Kamera ihn an dieser Stelle für einen kurzen Moment im Publikum eingefangen hatte. Diesen Augenblick wollte er sich nicht entgehen lassen.
Auf dem Bildschirm versuchte der Bürgermeister gerade etwas zu sagen, doch immer wieder fielen ihm die anderen Diskussionsteilnehmer wütend ins Wort. Sogar der Moderator unterbrach ihn regelmäßig. Der Bürgermeister war der einzige Gast, der Bedenken über die Vereinbarkeit von Islam und freiheitlicher Gesellschaft geäußert hatte.
Der Bürgermeister nutzte einen kurzen Augenblick, in dem die anderen Gäste Luft holen mussten, um zu Wort zu kommen: »Ich habe das Gefühl, dass sich viele muslimische Mitbürger in meiner Stadt von dem Rest der Gesellschaft abkapseln. Und das kann durchaus etwas mit dem Islam zu tun haben! Im Koran heißt es an vielen Stellen beispielsweise, dass Muslime sich nicht mit den sogenannten ›Ungläubigen‹ anfreunden sollten.« Der alte Mann zitierte daraufhin einen Koranvers, den er scheinbar auswendig gelernt hatte:
[5:51] Ihr Gläubigen! Nehmt euch nicht die Juden und die Christen zu Freunden! Sie sind untereinander Freunde aber nicht mit euch. Wenn einer von euch sich ihnen anschließt, gehört er zu ihnen und nicht mehr zu der Gemeinschaft der Gläubigen. Gott leitet das Volk der Frevler nicht recht.
Der Murrabi lächelte in seinem Fernsehsessel breit, als er diese wunderbaren Worte Gottes aus dem Mund des Ungläubigen hörte.
Die anderen Diskussionsteilnehmer waren von diesem Koranzitat jedoch weit weniger begeistert. Sie begannen, den Bürgermeister streng zurechtzuweisen. Dabei tat sich vor allem der muslimische Schauspieler hervor, der wahrscheinlich nur einem kleinen Teil des Publikums aus seinen seichten Fernsehfilmen bekannt war.
Der Schauspieler empörte sich: »Also bitte! Dieser Vers steht zwar im Koran, aber das heißt doch noch lange nicht, dass sich die Muslime auch tatsächlich daran halten müssen!«
Bei diesem Satz hatte sich der Murrabi beherrschen müssen, um nicht aus dem Publikum aufzuspringen. Wie konnte sich dieser drittklassige Schauspieler selbst als Muslim – als sich Unterwerfender – bezeichnen und gleichzeitig behaupten, dass die von Gott gesandten Gesetze nicht angewendet werden müssten? Zum Glück hatte der Murrabi die ganze Sendung über ein genaues Auge auf die Kameras gehabt und rechtzeitig gemerkt, dass er in diesem Moment gefilmt wurde. Obwohl die Worte des Schauspielers ihn erzürnt hatten, hatte er gelächelt und genickt. Dabei hatte er an einen Ausspruch von Mohammeds Gefährten Abu Darda gedacht: »Wir lächeln einige Leute an, obwohl unsere Herzen sie verfluchen.«[171] Der Murrabi hatte sich an diese weisen Worte gehalten. Er wusste, dass er ein freundliches Gesicht aufsetzen musste, wenn er in dieser Sendung dem Dschihad dienen wollte.
Der Murrabi spulte die Aufnahme zu der Stelle vor, an der er seinen großen Auftritt hatte.
Der Moderator sprach mit seinem Zahnpasta-Lächeln in die Kamera: »Liebe Zuschauer, ich möchte Ihnen nun einen Mann vorstellen, der ganz besonders für die Symbiose zwischen Religion und Wissenschaft, zwischen dem Islam und unserer freiheitlichen Gesellschaft steht.« Der Moderator warf einen schnellen Blick auf die Karte in seiner Hand, um den bürgerlichen Namen des Murrabi richtig auszusprechen. »Mohammed al-Wadi ist Lehrer für die Fächer Chemie und islamische Religion an einer Schule in Berlin-Neukölln. Er ist damit ein perfektes Beispiel dafür, wie sich Muslime in Deutschland integrieren. Bevor ich mit Herrn al-Wadi spreche, möchte ich Ihnen einen kurzen Film über seine Arbeit zeigen. Film ab!«
Es folgte ein Einspieler, den der Murrabi vor einigen Tagen mit einem Kamerateam in seiner Schule aufgenommen hatte. Der Film begann mit einer Szene, in der der Murrabi vor einer Klasse stand und chemische Formeln an die Tafel malte. Währenddessen erzählte eine angenehme Stimme aus dem Off von seiner Arbeit als Lehrer. Danach wechselte die Szene auf eine Außenansicht vom Schulgebäude und dem Schulhof. Die Off-Stimme erklärte, dass die Schule des Murrabi als eine »Problemschule« bekannt war und der Ausländeranteil hier weit über 90 Prozent betrug. Der Bericht thematisierte besonders den geringen Bildungsstand und die mangelnden Deutschkenntnisse vieler Migranten, die in dem Stadtteil Berlin-Neukölln lebten.
Die Szene wechselte wieder zum Murrabi, der seinen Schülern ein chemisches Experiment vorführte. Die Stimme aus dem Off erklärte, dass der Murrabi wegen seinem islamischen Glauben einen guten Zugang zu den vielen muslimischen Schülern fand. Die nächste Szene zeigte den Murrabi im Religionsunterricht, wie er gerade die fünf Säulen des Islam erklärte.
Es folgte der Ausschnitt eines Interviews, das der Murrabi in einem leeren Klassenzimmer mit dem Kamerateam geführt hatte. »Mein Glaube ist mir sehr wichtig«, sagte der Murrabi in die Kamera. »Der Islam hat mir schon aus vielen Krisen geholfen und gibt mir jeden Tag Kraft. Das will ich meinen Schülern mitgeben: dass sie mit dem Glauben alles überwinden können.«
Es folgten kurze Interviews mit einigen seiner Schüler. »Der Murrabi ist mein Lieblingslehrer«, sagte ein 14-jähriger, arabisch aussehender Junge.
»Wer ist der Murrabi?«, fragte eine Reporterin hinter der Kamera.
»Herr al-Wadi. Wir nennen ihn alle den Murrabi.«
Die Szene ging zurück zum Interview mit dem Murrabi. Die Reporterin sagte: »Ein Schüler hat uns erzählt, Ihr Spitzname wäre Murrabi. Was bedeutet das?«
Der Murrabi auf dem Bildschirm lachte. »Murrabi ist einfach nur das arabische Wort für Erzieher. Einer meiner Schüler, der das deutsche Wort für Lehrer nicht kannte, hatte mich so genannt und irgendwann ist das zu meinem Spitznamen geworden. Ich trage ihn mit Stolz.«
Der Einspieler endete und das Fernsehstudio wurde wieder eingeblendet. Der Moderator stand zusammen mit dem Murrabi an einem Stehtisch, der am Rand der Bühne unmittelbar vor den Zuschauern aufgebaut war.
»Das ist er, meine Damen und Herren«, verkündete der Moderator. »Mohammed al-Wadi!«
Da der Warm-Upper in der ersten Reihe begonnen hatte, heftig zu klatschen, begrüßte auch das restliche Publikum den Murrabi mit donnerndem Applaus. Er lächelte bescheiden.
»Herr al-Wadi, darf ich Sie auch Murrabi nennen?«, scherzte der Moderator.
»Sehr gerne«, sagte der Murrabi lächelnd und setzte gut gelaunt hinzu: »Aber Sie wollen nicht zu mir in den Chemieunterricht, oder?«
Das Publikum lachte erheitert. Der Murrabi vor dem Fernseher lächelte zufrieden. Er hatte die Ungläubigen von Anfang an auf seiner Seite.
»Okay, Herr Murrabi …«, begann der Moderator.
»Nur Murrabi. Ohne Herr.« Das Publikum lachte erneut.
»Murrabi, wie wir in dem Film gerade gesehen haben, sind Sie islamischer Religionslehrer. Wie gut kennen Sie den Koran?«
»Recht gut«, sagte der Murrabi bescheiden. »Ich bin ein sogenannter Hāfiz. Ich kann den Koran auswendig rezitieren.«
Der Moderator wirkte beeindruckt. »Dann können Sie uns mit Sicherheit weiterhelfen. Meine Studiogäste haben gerade ausgiebig darüber diskutiert, wie sich das Zusammenleben zwischen Muslimen und den Angehörigen anderer Religionen gestaltet oder dem Islam zufolge gestalten soll. Was sagt der Koran dazu?«
Der Murrabi hatte mit dieser Frage fest gerechnet und sich seine Antwort schon lange vor der Sendung zurechtgelegt. »Der Koran sagt ganz deutlich, dass wir Muslime andere Religionen anerkennen müssen. In Sure 2, Vers 256 heißt es beispielsweise: ›In der Religion gibt es keinen Zwang.‹«
Der Murrabi lachte in seinem Fernsehsessel, als er das Publikum applaudieren sah. Gott hatte den Ungläubigen wahrlich das Herz und die Ohren versiegelt. Sie hätten nur in den Koran schauen müssen, um zu erkennen, dass er ihnen einen wichtigen Teil des Verses vorenthalten hatte. Der Vers besagte in voller Länge zwar, dass es keinen Zwang in der Religion gibt, aber stellte gleichzeitig klar, dass der Islam die einzig wahre Religion ist:
[2:256] In der Religion gibt es keinen Zwang. Der rechte Weg des Glaubens ist durch die Verkündigung des Islam klar geworden sodass er sich vor der Verirrung des heidnischen Unglaubens deutlich abhebt. […]
Und Gott hieß die anderen Religionen ganz bestimmt nicht gut, wie die Ungläubigen womöglich dachten. Im Koran machte schon der darauffolgende Vers deutlich, dass Nicht-Muslime in die Hölle kommen.[172]
Der Murrabi auf dem Fernsehbildschirm legte inzwischen nach: »Der Islam ist eine Bruderreligion des Judentums und des Christentums. All diese drei Religionen sind abrahamitische Religionen, die an die Abstammung von Abraham glauben. Der Islam lehrt uns Muslime deshalb, dass wir Juden und Christen respektieren und anerkennen müssen.«
Wieder applaudierte die Menge.
Der Murrabi lächelte vor seinem Fernseher in sich hinein. Die Ungläubigen glaubten ihm seine wohlklingenden Phrasen aufs Wort. Das Judentum und das Christentum anerkennen – so ein Unsinn! Der Murrabi wusste nur zu gut, welche Botschaft der Prophet – Friede sei mit ihm – gegen Ende seines Lebens von Gott empfangen hatte:
[9:30] Die Juden sagen: »Esra ist der Sohn Gottes.« Und die Christen sagen: »Christus ist der Sohn Gottes.« […] Diese gottverfluchten Leute, Gott bekämpfe sie! […]
Die Ungläubigen sollten nicht respektiert, sondern selbstverständlich getötet werden:
[4:89] Sie [die Ungläubigen] möchten gern, ihr wäret ungläubig, so wie sie selber ungläubig sind, damit ihr alle gleich wäret. Nehmt euch daher niemand von ihnen zu Freunden, solange sie nicht um Gottes willen auswandern! Und wenn sie sich abwenden und eurer Aufforderung zum Glauben kein Gehör schenken, dann greift sie und tötet sie, wo immer ihr sie findet, und nehmt euch niemand von ihnen zum Freund oder Helfer!
Der Moderator ging zu einem anderen Aspekt über: »In den westlichen Gesellschaften ist die Religionsfreiheit gesetzlich festgelegt. Das heißt, jeder kann seine Religion frei wählen, zu einer anderen wechseln oder aus einer Religion austreten. Gibt es solche Regelungen auch im Islam?«
Der Murrabi nickte. »Der Islam steht für Religionsfreiheit, ganz so, wie Sie es gerade beschrieben haben. Es ist jedem Muslim erlaubt, die Religion zu verlassen oder zu einer anderen überzutreten.«
In seinem Fernsehsessel registrierte der Murrabi zufrieden, dass die Studiogäste auch diese Behauptung ohne Vorbehalte zu glauben schienen. Ganz offensichtlich wussten sie nicht, dass der Abfall vom Glauben, die Apostasie, im Islam als eine der schlimmsten Taten überhaupt galt und ausschließlich in islamischen Ländern mit dem Tode bestraft wurde.[173] Der Prophet – Friede sei mit ihm – hatte in mehreren authentischen Hadithen immer wieder befohlen, dass Muslime, die sich vom Islam abwendeten, getötet werden sollten.[174] Der Murrabi musste dabei vor allem an zwei Aussprüche des Propheten denken:
[…] »Wer auch immer seine islamische Religion wechselt, tötet ihn.«[175]
»Das Blut eines Muslims […] darf nur in drei Fällen vergossen werden: Als Blutrache für einen Mord, wenn eine verheiratete Person verbotenen Geschlechtsverkehr hat und wenn jemand sich vom Islam abwendet und die Muslime verlässt.«[176]
Erst vor Kurzem hatte der Murrabi gelesen, dass der islamische Umgang mit Apostaten ein Grund dafür war, warum es in Deutschland niemals eine Moscheesteuer geben würde: Wenn Moscheen über eine Steuer finanziert werden würden, müssten sie als Körperschaften öffentlichen Rechts gelten und ihren Mitgliedern den Austritt ermöglichen. Ein Austritt war im Islam jedoch nicht vorhergesehen.[177]
Auf dem Fernsehbildschirm fuhr der Murrabi inzwischen fort: »Gott ermahnt die Muslime im Koran immer wieder dazu, sich gerecht zu verhalten.« Mit feierlicher Stimme zitierte er einen Vers:
[5:8] Ihr Gläubigen! Steht Gott gegenüber als Zeugen für die Gerechtigkeit ein! Und der Hass, den ihr gegen gewisse Leute hegt, soll euch ja nicht dazu bringen, dass ihr nicht gerecht seid. Seid gerecht! Das entspricht eher der Gottesfurcht. […]
»Das hört sich wirklich schön an«, sagte der Moderator fast gerührt.
Der Murrabi lächelte zurück. Für ihn hatte das Wort Gerechtigkeit, von dem der Koran sprach, eine andere Bedeutung als für die Ungläubigen. Für den Murrabi bedeutete Gerechtigkeit, sein Leben nach den Worten Gottes auszurichten. Und Gott schrieb vor, den Ungläubigen die Köpfe abzuschlagen und ihnen die Arme und Beine abzuhacken.[178] Dieser Kampf sollte solange geführt werden, bis es keine Ungläubigen mehr gibt …
[8:39] Und kämpft gegen sie, bis niemand mehr versucht, Gläubige zum Abfall vom Islam zu verführen, und bis nur noch Gott verehrt wird! […]
Passend zu den Gedanken des Murrabi lenkte der Moderator das Gespräch auf den Heiligen Krieg: »Das sind wirklich schöne Dinge, die Sie uns da über den Islam erzählen. Wie wir alle wissen, gibt es jedoch zahlreiche Terroristen, die unschuldige Menschen umbringen und sich bei ihren grausamen Taten auf den Islam berufen. Was sagen Sie dazu, Murrabi?«
Auf dem Fernsehbildschirm verzog der Murrabi ärgerlich sein Gesicht, wie er es zuvor einstudiert hatte. »Diese Terroristen haben den Koran überhaupt nicht verstanden und wahrscheinlich nie richtig gelesen«, sagte er abschätzig. »Der Koran verbietet das Töten von anderen Menschen. So heißt es beispielsweise: ›Und tötet euch nicht selbst gegenseitig!‹«[179]
Wieder lachte der Murrabi in seinem Fernsehsessel schelmisch. Er hatte an dieser Stelle extra eine Koranübersetzung zitiert, die diesen Vers möglichst unverfänglich übersetzte. Hätte der Murrabi für sein Zitat eine andere Koranübersetzung gewählt, wäre dem Moderator klar geworden, dass der Koran in dieser Passage nicht das Töten generell verbot, sondern nur das Töten anderer Muslime. In wortgetreueren Koranübersetzungen hieß es in diesem Vers nämlich nicht »Und tötet euch nicht selbst gegenseitig«, sondern:
[4:29] […] Und bringt nicht eure eigenen Glaubensgenossen um! […]
Der Murrabi beobachtete zufrieden, wie er im Fernsehen einen kurzen Ausschnitt aus einem ähnlichen Vers zitierte:
[5:32] […] wenn einer jemanden tötet […] [soll es so sein], als ob er die Menschen alle getötet hätte. […]
Diese Ungläubigen, dachte der Murrabi lachend, als er das Studiopublikum wieder applaudieren sah. Immer wieder fallen sie auf die gleichen Tricks herein. Sie hätten nur den Koran lesen müssen, um zu erkennen, dass der Murrabi diesen Vers beim Zitieren um entscheidende Stellen gekürzt hatte. Der Vers verbot zwar das Töten, aber nur das Töten von Muslimen, nicht von Ungläubigen.[180]
Der Murrabi legte bei seinem Auftritt nach: »Der Koran ruft die Muslime dazu auf, mitfühlend und barmherzig zu sein.«
[48:29] Mohammed ist der Gesandte Gottes. Und diejenigen, die mit ihm sind, sind […] mitfühlend. […]
Der Murrabi im Fernsehsessel hielt sich seinen dicken Bauch vor Lachen. Es war schon fast zu einfach, die Ungläubigen zu täuschen. Er hatte schon wieder einen Teil des Verses beim Zitieren ausgelassen. In Gänze besagte dieser Vers, dass Muslime nur untereinander barmherzig sein sollten, den Ungläubigen gegenüber jedoch hart:
[48:29] Mohammed ist der Gesandte Gottes. Und diejenigen, die mit ihm sind, sind den Ungläubigen gegenüber heftig, unter sich aber mitfühlend. […]
Der Fernsehmoderator schien die Worte des Murrabi für einen Moment in sich aufzunehmen und nickte dann mit einem breiten Lächeln. »Danke sehr, Murrabi. Ich glaube, das war für uns alle eine äußerst lehrreiche Schulstunde über die wahre Natur des Islam.« Er wandte sich an das Publikum: »Einen Applaus für Mohammed al-Wadi, meine Damen und Herren!«
Das Publikum klatschte diesmal besonders laut. Der Murrabi machte eine angedeutete Verbeugung.
Mit einem Tastendruck unterbrach der Murrabi die Aufnahme. Zufrieden lehnte er sich in seinem Sessel zurück. Dieser Talkshow-Auftritt war ein weiterer großer Sieg für den Dschihad. Er hatte die Ungläubigen getäuscht. Damit hatte er sich Zeit verschafft, um weiter an seiner eigentlichen Mission zu arbeiten, die ihm in diesem Heiligen Krieg einen großen Sieg bringen und ihm eine der höchsten Stufen des Paradieses versichern würde …
Er schaute auf seine Uhr. Der Anwärter, dem er die Fitna übermittelt hatte, hatte noch bis zum morgigen Sonnenaufgang Zeit, um die ihm gestellten Aufgaben zu lösen. Wenn er es bis dahin nicht schaffte, würde der Murrabi alle in der Stadt verteilten Hinweise vernichten. Doch er war zuversichtlich, dass diese Maßnahme nicht nötig sein würde. Bestimmt würde er schon bald einen neuen Schüler begrüßen können. Er musste jetzt nur noch auf den Anruf des neuen Rekruten warten …
Der Murrabi betrachtete das Standbild auf dem Bildschirm. Im Fernsehen verbeugte er sich unter dem Applaus der Menge.
Bis er den Anruf seines neuen Anwärters erhalten würde, könnten noch ein paar Stunden vergehen. Genug Zeit, um sich noch einmal seinen glorreichen Auftritt anzusehen.
Der Murrabi lehnte sich zurück und startete die Aufnahme von vorn.
Kapitel 44
Lisa hatte Mühe, mit Kampels großen Schritten mitzuhalten. Vor wenigen Minuten hatten sie eine ruhige Nebenstraße unweit des Checkpoint Charlie betreten und gingen nun zurück nach Norden ins historische Stadtzentrum Berlins. Lisa wusste nicht, wohin Kampel sie führte. Er hatte nur gesagt, dass ihr nächstes Ziel ganz in der Nähe wäre.
»Sie haben mir noch immer nicht erklärt, was die gespiegelten Zeichen unter dem Gedicht bedeuten«, sagte sie. »Was heißt 1288 AH?«
»Das ist eine Jahreszahl«, erwiderte Kampel, ohne sein Schritttempo zu verringern. »Die Bezeichnung 1288 AH steht für das Jahr 1288 nach islamischer Zeitrechnung.«
Lisa war überrascht. »Ich wusste gar nicht, dass der Islam eine eigene Zeitrechnung hat.«
»Doch, doch. Immerhin wäre es für Muslime reichlich merkwürdig, die Jahre seit der Geburt Christi zu zählen. Die islamische Zeitrechnung basiert auf einem anderen religiösen Ereignis: Die Muslime zählen die Jahre seit der Hidschra, also seit Mohammeds Auswanderung von Mekka nach Medina. Die islamischen Jahresangaben werden mit der Abkürzung AH angegeben, für Anno Hegirae – das ist Latein für das Jahr der Hidschra. Die Zeichen 1288 AH unter dem Gedicht bezeichnen also das Jahr 1288 der Hidschra. Das ist 1288 Jahre nach Mohammeds Auswanderung im Jahr 622 nach Christi Geburt.«
Lisa rechnete die Zahlen im Kopf zusammen. »Also ist das Jahr 1288 der Hidschra das Jahr 1910 nach Christi Geburt.«
Kampel schüttelte den Kopf. »So einfach lässt sich das leider nicht berechnen. Sie müssen bedenken, dass die Jahre im islamischen Kalender etwas kürzer sind als in unserem westlichen Kalender.«
Kampel merkte an dem Blick der Kommissarin, dass er für seine Erklärung weiter ausholen musste. »Unser westlicher Kalender richtet sich nach dem Ablauf der Sonne. Für uns vergeht ein Jahr, wenn die Erde die Sonne einmal umrundet. Das dauert etwas mehr als 365 Tage. Der islamische Kalender richtet sich jedoch nicht nach der Sonne, sondern nach dem Mond: Jedes Mal, wenn der Mond alle Mondphasen durchläuft – Vollmond, Halbmond, zunehmender Mond und so weiter – vergeht ein Monat. Das dauert durchschnittlich 29 Tage und einen halben. Bis alle zwölf Monate des islamischen Mondkalenders vergehen, dauert es 354 Tage. Das islamische Mondjahr ist mit seinen 354 Tagen also um etwa 11 Tage kürzer als unser Sonnenjahr mit seinen 365 Tagen. Deshalb verschieben sich die islamischen Feiertage des Mondkalenders in unserem Sonnenkalender jedes Jahr um ungefähr elf Tage: Im Jahr 2010 begann der Ramadan am 11. August, im Jahr 2011 am 1. August, im Jahr 2012 am 20. Juli, im Jahr 2013 am 9. Juli und so weiter.«
»Ich verstehe«, sagte Lisa. »Da das islamische Jahr kürzer ist als unseres, vergehen die Jahre in der islamischen Zeitrechnung also ein wenig schneller.«
»Richtig!«, rief Kampel. Er war froh über die schnelle Auffassungsgabe der Kommissarin. »Die Verschiebung macht sich vor allem bei großen Zeitspannen bemerkbar. Wenn 1000 christliche Jahre vergangen sind, sind schon 1030 islamische Jahre vergangen. Das Jahr 1288 der Hidschra wurde deshalb nicht erst im Jahr 1910 erreicht, sondern schon im Jahr 1871.« Kampels Augen begannen zu funkeln. »Das Denkmal, zu dem wir gehen, wurde im Jahr 1871 fertiggestellt. Es ist das einzige Berliner Denkmal aus diesem Jahr, das mehrere unverhüllte Frauen zeigt.«
Kampel und Lisa bogen um eine Häuserecke. Rechts vor ihnen öffnete sich die Straße zu einem Platz, auf dem eine der schönsten Kirchen Berlins majestätisch in den Nachthimmel ragte: der Deutsche Dom. Die helle Fassade der barocken Kirche war relativ schlicht gehalten und lenkte die Aufmerksamkeit des Betrachters umso stärker auf das Dach, auf dem ein gewaltiger Turm mit einer großen Kuppel an der Spitze prangte. Lisa fand immer, dass der Deutsche Dom mit seiner hellen, weißen Fassade und dem hohen Kuppelturm wie eine kleine Version des Kapitols in Washington, D.C. aussah. Dass diese Ähnlichkeit kein Zufall war, hatte sie vor einigen Jahren bei einem Urlaub in Rom herausgefunden: Sowohl der Deutsche Dom als auch das Kapitol waren von dem Petersdom im Vatikan inspiriert worden. Auch viele andere Gebäude auf der ganzen Welt hatten sich an die von Michelangelo entworfene Kuppel des Petersdoms angelehnt, darunter die St.-Pauls-Cathedral in London und das Panthéon in Paris.
Im Gegensatz zu Lisa interessierte sich Kampel nicht für den Deutschen Dom, sondern für den Platz an dessen Vorderseite: den Gendarmenmarkt. Kampel zeigte auf eine Menschentraube, die auf ein großes Zelt am Rand des Platzes zuströmte. »Auf dem Gendarmenmarkt ist um diese Jahreszeit immer ein Weihnachtsmarkt«, sagte er zu Lisa. »Da müssen wir rein. Unser Ziel ist genau in der Mitte des Platzes.«
Kapitel 45
Der Weihnachtsmarkt auf dem Gendarmenmarkt war rappelvoll, sodass Kampel und Lisa hintereinander gehen mussten, um durch die Menschenmassen zwischen den Marktständen zu gelangen. Kampel ging voraus und zog die Kommissarin an der Hand hinter sich her.
Während er sich durch die Menge schob, sog er die gemütliche Atmosphäre ein, die um ihn herum herrschte. Überall standen Gruppen von lachenden Menschen, die ihre Hände an dampfenden Glühweintassen wärmten und an den zahlreichen kleinen Buden Schlange standen, um eine der angebotenen Leckereien zu ergattern. Die eigentliche Attraktion war für Kampel jedoch nicht der Weihnachtsmarkt selbst, sondern der Platz, auf dem er sich befand.
Der Gendarmenmarkt war für Kampel ohne Zweifel der schönste Ort Berlins. Der große, langgezogene Platz wurde von gleich drei beeindruckenden Gebäuden eingeschlossen. An den beiden kürzeren Seiten des Gendarmenmarkts befanden sich jeweils der Deutsche Dom – an dem sie gerade vorbeigelaufen waren – und auf der gegenüberliegenden Seite der Französische Dom. Der Französische Dom war ebenfalls eine helle Barockkirche mit einem hohen Kuppelturm und sah dem Deutschen Dom auf den ersten Blick zum Verwechseln ähnlich. Die Namen der beiden Gebäude stammten von den Gemeinden, für die die Kirchen errichtet worden waren: Der Deutsche Dom galt der deutsch-reformierten Gemeinde Berlins, der Französische Dom hingegen der Gemeinde der Hugenotten, die wegen ihres Glaubens an das reformierte Christentum aus Frankreich geflohen waren.
An der Längsseite des Gendarmenmarkts erstreckte sich zwischen den beiden Domen das Berliner Schauspielhaus. Wie viele andere klassizistische Bauwerke auch, war das Schauspielhaus wie ein antiker griechischer Tempel geformt. An der breiten Treppe des Haupteingangs standen mehrere große Säulen, die einen dreieckigen Überbau stützen. An der gesamten Fassade des Schauspielhauses waren zahlreiche Reliefs eingearbeitet. Auf den Dächern zeigten verschiedene Bronzeskulpturen Figuren aus der griechischen Mythologie, die die Bühnenkünste symbolisierten.
Um diese Uhrzeit waren der Deutsche Dom, der Französische Dom und das Schauspielhaus in ein warmes, gelbes Licht getaucht, was das Gebäudeensemble noch beeindruckender wirken ließ. Zusammen mit den vielen bunten Lichtern des Weihnachtsmarkts und dem großen, strahlenden Weihnachtsbaum am Ende des Platzes entstand eine märchenhafte Atmosphäre. Kampel fühlte sich beinahe so, als wäre er über 100 Jahre in die Vergangenheit gereist.
Nachdem sich Kampel und Lisa eine gefühlte Ewigkeit durch die Menschenmassen gedrängt hatten, erreichten sie ein Denkmal aus hellem Stein in der Mitte des Gendarmenmarkts.
»Das Gedicht führt uns hierher«, sagte Kampel und deutete auf das Monument. »Zum Schiller-Denkmal.«
Das Denkmal zeigte eine überlebensgroße Statue von Friedrich Schiller, der auf einem Sockel stand und in die Ferne blickte. Der berühmte deutsche Dichter war in ein langes Gewand gehüllt, das er mit einer Hand festhielt, in der anderen Hand hielt er eine Schriftrolle. Auf seinem Kopf trug er einen Lorbeerkranz als Ehrung für seine literarischen Verdienste. Zusammen mit Goethe gilt Schiller als der wichtigste deutsche Dichter aller Zeiten und wird von Literatur-Fans auf der ganzen Welt als Genie verehrt.
Lisa interessierte sich weniger für die Darstellung Schillers, als vielmehr für die Figuren zu seinen Füßen. An den Ecken des Sockels, auf dem der Dichter stand, saßen vier Frauen in langen, antiken Roben. Bis auf eine Figur trugen die Frauen ihr Haar allesamt offen. »An einem Denkmal, da ist alles schamlos unverhüllt«, dachte Lisa aufgeregt. Hier müssen wir richtig sein.
»Das Schiller-Denkmal wurde im Jahr 1871 enthüllt«, sagte Kampel neben ihr. »Das ist das Jahr 1288 der Hidschra.«
Als Kampel diese Worte ausgesprochen hatte, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf.
Das Schiller-Denkmal wurde im Jahr 1871 enthüllt.
Enthüllt. Unverhüllt. Ohne Hülle. Ohne Hidschāb.
Der Autor der Fitna hatte ihnen schon wieder einen mehrdeutigen Hinweis hinterlassen: Der Begriff unverhüllt in dem Gedicht beschrieb nicht nur die vier unverschleierten Frauen zu Schillers Füßen, sondern wies gleichzeitig auf die Enthüllung des Denkmals hin, die sich in der Jahresangabe versteckt hatte. Kampel staunte einmal mehr über den Einfallsreichtum des Mannes, den er und die Kommissarin verfolgten.
»Haben Sie irgendeine Idee, wo wir nach der anderen Hälfte des QR-Codes suchen müssen?«, fragte Lisa.
»Nein«, gab Kampel zurück. »Wir müssen einfach die Augen offen halten.«
Sie einigten sich darauf, in entgegengesetzten Richtungen um das Schiller-Denkmal herumzugehen.
Während Kampel um das Denkmal schritt, suchte er mit den Augen den hellen Stein aufmerksam nach einer möglichen Manipulation ab. Im Gehen wanderte sein Blick zu den Frauen, die Schiller buchstäblich zu Füßen lagen. Hatte der Mann hinter der Fitna vielleicht auf eine bestimmte Frau hinweisen wollen, die hier so »schamlos unverhüllt« dargestellt war? Kampel hatte vor vielen Jahren einmal zusammen mit Maria an einer Touristenführung über den Gendarmenmarkt teilgenommen. Wenn er sich recht erinnerte, symbolisierten die vier Frauen am Schiller-Denkmal die vier Bereiche, in denen sich der Dichter besonders hervorgetan hatte. Die Frau links vor Schiller trug eine Harfe – sie symbolisierte die Lyrik. Kampel ging weiter um das Denkmal herum. Die nächste Frau hatte zu ihren Füßen eine Maske – sie stand für die Dramatik. Die danach folgende Frauenfigur symbolisierte die Geschichte. Sie las gerade eine Geschichtstafel, auf der die Namen weiterer berühmter deutscher Schriftsteller standen: Lessing, Kant und Goethe. Kampel vollendete seine Runde um das Denkmal und gelangte zu der vierten Frau, die rechts vor Schiller saß und die Philosophie symbolisierte. Sie blickte nachdenklich in die Ferne und hielt eine Schriftrolle mit der Aufschrift: »Erkenne dich selbst.«
Auch Lisa hatte inzwischen ihre Runde um das Denkmal beendet und trat zu Kampel. Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gefunden. Kein QR-Code, kein Hinweis, nichts.«
»Ich war auch erfolglos«, sagte Kampel und starrte gedankenverloren zu der Darstellung der Philosophie vor ihm. »Erkenne dich selbst.« Sollte dieser Satz ihnen etwas sagen?
Als Lisa dem Blick des Religionswissenschaftlers folgte, hatte sie eine Idee. »Vielleicht hat das Gedicht etwas mit ihr zu tun.« Sie zeigte auf die Symbolfigur der Philosophie. »Sie ist von den vier Frauen hier die einzige, die einen Hidschāb trägt.«
Kampel betrachtete die Frau genauer. Tatsächlich hatte sie sich ein langes Gewand um den Kopf geschlungen, das als ein Hidschāb interpretiert werden könnte. Kampel verwarf diese Idee jedoch schnell wieder, als er die restliche Kleidung der Philosophie betrachtete. »Sie hat sich zwar die Haare bedeckt, aber ihre Oberarme und sogar ihre Knöchel sind entblößt«, sagte er kopfschüttelnd. »Damit gilt sie für einen Muslim genauso unverhüllt wie die anderen drei Frauenfiguren.«
Kampel ging das Gedicht noch einmal im Kopf durch. Hatten sie irgendetwas übersehen? Er ließ seinen Blick über den Platz und die fröhlichen Menschen schweifen, die im Takt der weihnachtlichen Jazzmusik wippten und dabei ihren Glühwein tranken. Je länger Kampel die Atmosphäre des Gendarmenmarkts in sich aufnahm, desto sicherer war er, dass das vierte Gedicht sie genau hierher führte. Das Gedicht hatte die vierte Säule des Islam – den Fastenmonat Ramadan – als Aufhänger für die islamische Maxime »Gutes gebieten und Schlechtes verwehren« benutzt und betont, wie frevelhaft sich die Ungläubigen verhielten, wenn es nach dem Mann hinter der Fitna ging. Und welchen besseren Ort konnte es als Beispiel dafür geben als den Gendarmenmarkt? Es war kaum verwunderlich, dass der Platz einem Dschihadisten als ein Hort des Unglaubens erschien: Der Gendarmenmarkt befand sich zwischen zwei Kirchen, beherbergte einen riesigen Weihnachtsmarkt und huldigte in der Mitte einem Dichter, der von vier unverschleierten Frauen umgeben war – eine von ihnen enthüllte sogar die nackte Brust.
»›An einem Denkmal, da ist alles schamlos unverhüllt‹«, murmelte Lisa vor sich hin. »Ich glaube, die Lösung hat irgendetwas mit den Frauen zu tun. Vielleicht sagt der Islam etwas über Frauen, das wir noch nicht bedacht haben.« Sie überlegte eine Weile. »An diesem Denkmal sind vier Frauen dargestellt. Das ist genau die Anzahl Frauen, die ein Muslim heiraten darf, richtig?«
Kampel war beeindruckt, dass die Kommissarin diese Festlegung kannte. »Sie haben recht, ein muslimischer Mann darf vier Frauen heiraten, solange er sie ›gerecht behandeln‹ kann, wie der Koran sagt.« Kampel blätterte kurz in dem Koran in seiner Hand und las dann einen Vers vor:
[4:3] Und wenn ihr fürchtet, in Sachen der eurer Obhut anvertrauten weiblichen Waisen nicht recht zu tun, dann heiratet, was euch an Frauen gut ansteht, ein jeder zwei, drei oder vier. Wenn ihr aber fürchtet, so viele nicht gerecht zu behandeln, dann nur eine, oder was ihr an Sklavinnen besitzt! So könnt ihr am ehesten vermeiden, unrecht zu tun.
Lisa überlegte. »Vielleicht verweist das Gedicht auf eine historische Frauenfigur. Wie hießen Mohammeds vier Frauen?«
Kampel lachte. »Mohammed hatte weit mehr als nur vier Frauen.«
»Aber Sie sagten doch, ein Muslim dürfe nur vier Frauen haben.«
»Das stimmt, aber solche Regeln galten natürlich nicht für den Propheten. Mohammed verkündete den Muslimen, dass Gott für ihn eine Ausnahme gemacht habe, was die Zahl seiner Frauen angeht.« Kampel blätterte in seinem Koran und las vor:
[33:50] Prophet! Wir haben dir zur Ehe erlaubt: deine bisherigen Gattinnen […]; was du an Sklavinnen besitzt […]; die Töchter deines Onkels und deiner Tanten väterlicherseits und deines Onkels und deiner Tanten mütterlicherseits, die mit dir ausgewandert sind; weiter eine jede gläubige Frau, wenn sie sich dem Propheten schenkt und er sie heiraten will. Das gilt in Sonderheit für dich im Gegensatz zu den anderen Gläubigen. Wir wissen wohl, was wir ihnen hinsichtlich ihrer Gattinnen und ihres Besitzes an Sklavinnen zur Pflicht gemacht haben. Die obige Verordnung ist eine Sonderregelung für dich damit du dich nicht bedrückt zu fühlen brauchst, wenn du zusätzliche Rechte in Anspruch nimmst. […]
Lisa hatte bei dem Begriff Sonderregelung lächeln müssen. In Berlin hätte man eine solche Regelung als »Extrawurst« bezeichnet.
»Wie viele Frauen hatte Mohammed denn dann?«, fragte sie.
»Das ist schwer zu sagen. Als Mohammeds erste Frau Chadischa noch lebte, war er nur mit ihr verheiratet, aber danach folgten viele weitere.« Kampel fing an, die Frauen des Propheten an den Fingern abzuzählen. »Schon wenige Monate nach Chadischas Tod heiratete Mohammed die über siebzigjährige Sauda und die sechsjährige Aischa. Dann kamen noch …«
»Moment!«, unterbrach Lisa ihn schockiert. »Mohammed hat eine Sechsjährige geheiratet? Hat er mit ihr …« Sie suchte nach einem möglichst unverfänglichen Begriff. »Hat er die Ehe mit ihr vollzogen?«
»Ja, aber erst als sie neun Jahre alte war. Das erzählen sowohl die Gefährten des Propheten als auch Aischa höchstpersönlich in zahlreichen als authentisch eingestuften Hadithen.«[181]
Kampel ging in Gedanken die restlichen Frauen Mohammeds durch und zählte sie schnell an seinen Fingern ab. Nach einer Weile sagte er: »Wenn ich richtig gezählt habe, heiratete Mohammed nach Chadischas Tod insgesamt elf Frauen. Neun davon lebten gleichzeitig in seinem Haus. Dann kamen noch vierzehn Frauen, die er zwar heiratete, aber mit denen er die Ehe nicht ›vollzog‹, wie Sie sagten. Mit etwa zwei Dutzend weiteren Frauen hatte Mohammed sich zwar verlobt, aber sie dann doch nicht geheiratet, weil etwas dazwischen kam. Und dann hatte Mohammed selbstverständlich noch zahlreiche Sklavinnen, mit denen er sich vor allem auf seinen Kriegszügen versorgen ließ.[182] Eine dieser Sklavinnen – Safīya, die Tochter eines jüdischen Stammesführers – heiratete er, nachdem er ihren Vater, Ehemann, ihre Brüder, Onkel und Cousins töten ließ.«
Lisa schauderte. »Okay, vergessen Sie die Idee mit Mohammeds Frauen. Wie es scheint, hatte er zu viele, als dass es um eine Bestimmte gehen könnte.« Sie überlegte kurz. »Aber vielleicht sagt der Islam etwas über Frauen im Allgemeinen, das wir bei diesem Rätsel noch nicht berücksichtigt haben?«
Kampel überlegte eine Weile. »Es gibt im Islam selbstverständlich sehr viele Regelungen über Frauen, aber letztendlich läuft alles immer wieder darauf hinaus, dass der Mann der Frau überlegen ist. Der Koran drückt es folgendermaßen aus …« Kampel blätterte in seinem Koran und las dann vor:
[2:228] […] Und die Männer stehen eine Stufe über ihnen [den Frauen]. […]
Kampel wollte zu einem weiteren Vers blättern, doch dann hielt er inne. Er schüttelte resigniert mit dem Kopf. »Das bringt uns nicht weiter. Ich glaube nicht, dass uns der Koran dabei hilft, den vierten QR-Code zu finden. Ich schlage vor, wir werfen noch einmal einen Blick auf das Denkmal. Vielleicht haben wir irgendetwas übersehen.«
Als Kampel erneut um das Denkmal herumgehen wollte, hielt Lisa ihn zurück. Ihre blauen Augen hatten bei seinen Worten überrascht aufgeleuchtet. »Einen Blick werfen! Das ist es! Erinnern Sie sich an die letzten beiden Gedichtverse? ›An einem Denkmal, da ist alles schamlos unverhüllt, dort findest du mit einem Blick auch schon das nächste Bild.‹ Wir finden den nächsten QR-Code mit einem Blick, verstehen Sie? Ich glaube, wir müssen der Blickrichtung des Denkmals folgen!«
Kampel verstand, worauf die Polizistin hinauswollte. Es sähe dem Autor der Fitna ähnlich, ihnen mit dem Vers über den Blick einen weiteren Hinweis zu liefern.
»Aber welchem Blick sollen wir folgen?«, fragte Kampel. »An dem Denkmal hier sind fünf Figuren, die alle in eine andere Richtung schauen.«
Die Kommissarin lachte. »Wir folgen natürlich dem Blick des Mannes. Sie haben selbst gesagt, dass der Mann laut Koran eine Stufe über der Frau steht.«
Lisa deutete nach oben auf das Schiller-Denkmal, wo der Dichter konzentriert in die Ferne schaute. Sie fuhr seinen Blick mit dem Finger nach. Schiller sah auf ein dreistöckiges, altmodisches Gebäude auf der anderen Straßenseite, gegenüber vom Weihnachtsmarkt.
»Dort muss der QR-Code sein!«, sagte Lisa. Sie nahm Kampel an der Hand und zog ihn durch die Menschenmenge zum Ausgang des Weihnachtsmarkts.
Als sie den Weihnachtsmarkt verließen, liefen sie über die Straße und auf das Gebäude zu, das die Schiller-Statue anzuschauen schien. Sie gingen ein paar Schritte an der Hauswand entlang, bis sie die Mitte des langgezogenen Gebäudes erreichten.
»Schillers Blick endet genau hier«, sagte Lisa und deutete auf die Hauswand vor ihnen. »Hier irgendwo muss der QR-Code sein.«
Kampel betrachtete die Hauswand mit einer gewissen Skepsis. Das dazugehörige Gebäude war drei Stockwerke hoch und passte mit seiner hellen Fassade und der altmodischen Bauweise wunderbar zur restlichen Architektur des Gendarmenmarkts. Kampel glaubte nicht, dass der Fitna-Autor es wagen würde, mit Graffiti einen QR-Code an ein solch prächtiges Gebäude zu sprühen. Das hätte ihm vermutlich großen Ärger eingehandelt.
Lisa Albers schien das Gleiche zu denken, denn sie fuhr die Fassade eilig mit den Augen ab. Ihr Blick wanderte zu einem Regenrohr an der rechten Seite des Gebäudes. Sie ging mit großen Schritten auf das Rohr zu.
»Ich hab’s!«, rief sie nach einigen Momenten aufgeregt in Kampels Richtung.
Kampel trat eilig neben die Polizistin und betrachtete das Regenrohr. Tatsächlich war dort mit grauer Farbe ein QR-Code aufgesprüht.
Beim Anblick des Codes zitterte Kampel leicht. Dieses unscheinbare Symbol würde ihn zum fünften und letzten Gedicht führen. Damit konnte er endlich den Mann finden, der seinen Sohn in den Dschihad geführt hatte.
Kapitel 46
Der Dschinn lehnte an einer Hauswand und warf einen Blick um die Ecke des Gebäudes. Er blickte geradewegs auf den Weihnachtsmarkt, der sich zwischen den beiden Kirchen auf dem Gendarmenmarkt erstreckte.
Er lenkte seinen Blick zurück zu seinem Smartphone, wie so viele andere junge Menschen in Berlin. Doch der Dschinn spielte auf dem Gerät keine albernen Spiele oder scrollte durch eine Sammlung von Selfies. Er verfolgte das GPS-Signal der beiden Ungläubigen.
Der Dschinn hatte vor wenigen Minuten aufmerksam beobachtet, wie der Religionswissenschaftler und die Polizistin den Weihnachtsmarkt betreten hatten. Für einen kurzen Augenblick war er versucht gewesen, ihnen dorthin zu folgen. Er hätte sie im Schutz der Menschenmenge erledigen, ihnen die Fitna abnehmen und verschwinden können, bevor jemand realisiert hätte, was passiert war. Doch Menschenmengen bedeuteten unweigerlich Zeugen. Außerdem standen an den Eingängen des Weihnachtsmarkts zahlreiche Sicherheitsleute. Offenbar hatte der Weihnachtsmarkt seine Sicherheitsvorkehrungen verstärkt, um eine Terrorattacke wie auf dem Breitscheidplatz im Jahr 2016 zu verhindern. Davon zeugten auch die großen Betonpoller, die seit ein paar Jahren vor jeder Großveranstaltung aufgebaut wurden und die Besucher davor schützen sollten, von einem entführten Lastwagen überfahren zu werden.
Statt sich in den Weihnachtsmarkt hineinzuwagen, hatte der Dschinn ein Stück außerhalb gewartet und das GPS-Signal der beiden Ungläubigen beobachtet. Dem Sender zufolge waren sie in die Mitte des Platzes gegangen und dort eine Weile stehen geblieben.
Als der rote Punkt auf dem Bildschirm sich nun wieder bewegte, konnte der Dschinn sein Glück kaum fassen. Die Ungläubigen steuerten auf den Ausgang des Weihnachtsmarkts zu. Sie kamen genau in seine Richtung.
Schnell presste er sich noch ein Stück enger an die Hauswand. Vorsichtig warf er einen Blick um die Ecke des Gebäudes.
Da sind sie!
Die beiden Ungläubigen überquerten gerade die Straße und gingen zu dem Gebäude gegenüber vom Gendarmenmarkt – dasselbe Gebäude, hinter dessen südlicher Ecke der Dschinn stand. Sie schienen die Hauswand abzusuchen. Nach einigen Augenblicken rief die Polizistin aufgeregt nach dem Religionswissenschaftler. Beide holten ihre Handys heraus und schienen etwas an der Fassade zu fotografieren. Was sie entdeckt hatten, konnte der Dschinn nicht erkennen.
Doch das war jetzt nicht weiter wichtig. Er würde diese Jagd hier und jetzt beenden. Er brauchte nur noch eine gute Schussposition.
Die Ungläubigen wandten ihm den Rücken zu und starrten fasziniert auf die Handys in ihrer Hand. Dabei bemerkten sie nicht, wie der Dschinn seine Position an der Hausecke verließ und hinter einen Kleintransporter trat, der an dem Bordstein geparkt war.
Der Dschinn lugte um die Ecke des Wagens. Er hatte perfekte Sicht auf sein Ziel. Die beiden Ungläubigen waren etwa 50 Meter entfernt. Für eine Pistole war das eine recht große Distanz, aber der Dschinn war ein guter Schütze. Außerdem bewegten sich die beiden nicht. Er würde sie mit zwei raschen Schüssen töten, zu ihren Leichnamen rennen, die Fitna an sich nehmen und dann davonrennen. Ehe jemand die beiden Toten bemerken würde, wäre er schon längst verschwunden – genau wie es die Mission verlangte.
Der Dschinn schaute sich noch einmal auf der Straße um. Niemand war zu sehen. Es war der perfekte Augenblick. Er dankte Gott für diese Gelegenheit.
Der Dschinn zog die Pistole mit dem großen Schalldämpfer aus seiner Jacke. Er streckte seine rechte Hand mit der Pistole um die rechte Ecke des Wagens. Auf diese Weise war sein restlicher Körper hinter dem großen Fahrzeug kaum sichtbar und er konnte seine Schusshand an dem Wagen abstützen, um eine möglichst stabile Schusshaltung zu erreichen.
Dann nahm er die beiden Ungläubigen ins Visier.
In zwei Schüssen ist alles vorbei.
Kapitel 47
Als Kampel den QR-Code einscannte, öffnete sich eine weitere Webseite, die er sofort an Lisas Handy weiterleitete. Beide starrten gebannt auf ihre Geräte und lasen das fünfte Gedicht der Fitna:
Du hast es fast geschafft, es ist nur noch ein kurzes Stück,
und schon ganz bald gehst du den wahren Weg des Mudschahid.
Was zählt ist nur das heil’ge Buch, vernicht’ den ganzen Rest,
es ist tatsächlich alles, was du brauchst für diesen Test.
Nun geh zum größten Ort des Feuers, hier in dieser Stadt,
und heb ein Klein’s, wo man zwei Märtyrer begraben hat.
Unter dem Gedicht stand eine Zahlenfolge:
0-6-5-5-1-8
Lisa versuchte weiter nach unten zu scrollen, doch das Ende der Webseite war bereits erreicht. »Das war’s? Hier ist gar kein QR-Code, wie unter den anderen Gedichten. Nur diese merkwürdigen Zahlen. 0,6,5,5,1,8 …« Sie wandte sich an Kampel: »Sagt Ihnen diese Zahlenfolge etwas?«
Der Religionswissenschaftler schüttelte den Kopf. »Nein, das scheint mir reichlich wahllos.« Seine Augen funkelten. »Aber das ist egal. Ich weiß, wo uns die Fitna als Nächstes hinschickt.«
»Das haben Sie so schnell herausbekommen?«
»Die Anweisungen sind diesmal ziemlich eindeutig.« Kampel las das Gedicht noch einmal durch, um sicherzugehen.
»Dann verlieren wir besser keine Zeit«, sagte die Kommissarin. »Wir sollten weg von …«
Sie hielt mitten im Satz inne. Die Zeit schien für sie plötzlich stehen geblieben zu sein. Während sie mit Kampel sprach, sah sie, wie jemand hinter ihm einen Arm um einen Kleintransporter herum ausstreckte. Der Arm hielt eine Pistole mit einem großen Schalldämpfer fest.
Und die Waffe zielte genau auf Kampel.
Dann passierte alles blitzschnell.
»Runter!«, schrie Lisa.
Sie packte Kampel mit beiden Armen an seiner Jacke und riss ihn hinter einen roten Sportwagen, der neben ihnen am Bordstein geparkt war. Lisa hatte gerade rechtzeitig gehandelt. Dort, wo Kampel soeben noch gestanden hatte, sauste eine Kugel durch die Luft, die geräuschvoll in der Hauswand einschlug.
Lisa und Kampel krachten mit voller Wucht gegen den Sportwagen, den sie als Deckung missbrauchten. Sofort sprang die Alarmanlage des Wagens mit einem ohrenbetäubenden Schrillen an. Die Lichter an dem Fahrzeug blinkten wild.
Im Sprung hatte Kampel sein Handy fallen lassen. Das Gerät war klappernd zu Boden gegangen und unter das Auto gerutscht. Bevor er auch nur versuchen konnte, nach dem Telefon zu greifen, riss Lisa ihn weg.
»Da lang!«, schrie sie und zeigte in die entgegengesetzte Richtung des Schützen.
Kampel und Lisa rannten über den Bordstein. Eine weitere Kugel zischte wenige Zentimeter an ihnen vorbei und schlug neben ihnen in einem geparkten Auto ein. Das Rücklicht des Wagens explodierte.
Sie rannten über eine Kreuzung. Auf der anderen Straßenseite stand ein langer Reisebus, der gerade eine aufgeregte Touristengruppe einlud, die offenbar den Weihnachtsmarkt besucht hatte. Lisa hätte sich keine bessere Tarnung wünschen können. Sie rannte mit Kampel um den Reisebus herum. Das lange Fahrzeug bot ihnen perfekte Deckung.
Bevor Lisa hinter dem Bus verschwand, wagte sie es, einen kurzen Blick über ihre Schulter zu werfen. Neben dem roten Sportwagen, den sie und Kampel als Deckung genutzt hatten, stand der schlanke Araber. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Augenblick. Sogar aus der Distanz konnte sie sehen, dass die Augen des Angreifers glühten. Zu Lisas Überraschung folgte er ihnen jedoch nicht, sondern bückte sich rasch neben das Auto und streckte seinen Arm unter dem Wagen aus. Er schien nach etwas zu fischen.
Plötzlich begriff Lisa. Er will Kampels Handy, weil Kampel damit den QR-Code eingescannt hat. Dieser Kerl will alle Spuren der Fitna vernichten!
Als Kampel und Lisa auf der anderen Seite des Reisebusses auf den Bürgersteig traten, rannten zwei Sicherheitsleute des Weihnachtsmarkts an ihnen vorbei durch die Touristenmenge. Den Wachleuten folgte ein Mann in einem maßgeschneiderten Anzug, der seine Autoschlüssel in die Höhe hielt und schrie: »Mein Wagen!«
Lisa schöpfte neue Hoffnung. Die Sicherheitsleute würden den Araber womöglich abschrecken oder seine Verfolgung verzögern können. Sie und Kampel würden so wertvolle Sekunden Vorsprung gewinnen.
Sie rannten weiter den Bürgersteig entlang. Sie passierten den Französischen Dom zu ihrer Linken und erreichten die nächste Kreuzung. »Hier lang!«, keuchte Kampel abgekämpft und deutete nach rechts in die Französische Straße. Sie wechselten die Straßenseite und rannten hinter den am Straßenrand geparkten Autos entlang. Wenn der Attentäter an der Kreuzung hinter ihnen auftauchen würde, würden ihnen die Fahrzeuge wertvolle Deckung bieten.
Nach 100 Metern bog Kampel nach links in eine schmale Gasse. Bevor Lisa ihm folgte, warf sie einen letzten Blick zurück: Der Araber war nicht zu sehen. Scheinbar hatten sie ihn abgehängt.
Kampel rannte so schnell er konnte durch die Gasse. Am Ende der Gasse stand die St.-Hedwigs-Kathedrale, eine kreisrunde Kirche – der Grundriss war dem Pantheon in Rom nachempfunden – mit einer gigantischen runden Kuppel und einem schlichten Kreuz darauf. Als Kampel die Kirche sah, atmete er erleichtert auf. Er wusste jetzt, dass sie sich in der Hedwigskirchgasse befinden mussten. Wenn sie dieser Gasse folgten, würden sie den Ort erreichen, zu dem das fünfte Gedicht sie schickte.
Während Kampel weiterrannte, ließ er sich die entscheidenden Hinweise des fünften Gedichts durch den Kopf gehen. Sein Herz schien in seiner Brust zwar zu explodieren, doch sein Verstand arbeitete noch so klar wie eh und je.
Kampel musste an die mittleren Verse des Gedichts denken:
Was zählt ist nur das heil’ge Buch, vernicht’ den ganzen Rest,
es ist tatsächlich alles, was du brauchst für diesen Test.
Dieser Vers war unmissverständlich. Der Autor der Fitna mahnte dazu, nur die heilige Schrift des Islam – den Koran – zu lesen und alle anderen Bücher zu vernichten. Als Kampel die darauffolgende Gedichtzeile gelesen hatte, hatte er sofort gewusst, wo die Fitna enden würde.
Nun geh zum größten Ort des Feuers, hier in dieser Stadt.
Sie mussten zu einem Ort in Berlin, an dem Bücher in einem großen Feuer vernichtet worden waren.
Kampel und Lisa rannten an der St.-Hedwigs-Kathedrale vorbei. Vor ihnen öffnete sich die Gasse zu einem Platz von der Größe eines Fußballfeldes.
Der Bebelplatz war ähnlich wie der Gendarmenmarkt von klassisch geformten, hellen Bauten umgeben. Auf der linken Seite des Platzes stand die »Alte Bibliothek«. Das in barockem Stil gebaute Gebäude hatte eine nach innen gewölbte, geschwungene Fassade, an deren Front antik anmutende Säulen standen. Auf dem Dach prangten zahlreiche Statuen, die auf den Platz herunterschauten. Gegenüber der Alten Bibliothek, auf der rechten Seite des Bebelplatzes, befand sich die Staatsoper Unter den Linden.
Viel interessanter als diese schönen Gebäude war für Kampel jedoch der mit Pflastersteinen gespickte Platz selbst, der sich zwischen ihnen erstreckte. Hier auf dem Bebelplatz hatte am 10. Mai 1933, kurz nach der Machtergreifung Adolf Hitlers, ein schauriges Spektakel stattgefunden. 70.000 Menschen hatten sich versammelt und beobachtet, wie auf einem großen Scheiterhaufen in der Mitte des Platzes etwa 20.000 Bücher verbrannt worden waren. Die verbrannten Bücher galten dem NS-Regime als »wider den deutschen Geist« und umfassten Werke von Größen wie Franz Kafka, Kurt Tucholsky, Sigmund Freud, Thomas Mann, Erich Kästner, Arthur Schnitzler … Die lange Liste der Autoren las sich aus heutiger Sicht wie eine Aufstellung der bedeutendsten deutschen Intelektuellen ihrer Zeit. Ähnliche Bücherverbrennungen wie auf dem Bebelplatz hatten am gleichen Tag in 21 weiteren deutschen Universitätsstädten stattgefunden. Die Verbrennungen waren eine zentral geplante Aktion der Deutschen Studentenschaft gewesen, eines Zusammenschlusses verschiedener Studentenvertretungen.
Kampel schauderte bei dem Gedanken daran, wie gebildete Studenten ideologisch derart verblendet sein konnten, dass sie andere Meinungen nicht aushielten und vernichten wollten. Innerlich seufzte er auf. Leider gab es auch heute noch zahlreiche junge Leute, die gewaltsam durch die Straßen zogen und andere Menschen verprügelten, ihre Autos zerstörten, Brandanschläge verübten, sie einschüchterten oder ihre wirtschaftliche Existenz vernichteten, bloß weil sie eine andere Meinung hatten. Genau wie damals sahen sich diese Menschen bei all ihren Taten auch noch im Recht. Manche Dinge werden sich wohl nie ändern.
In der Mitte des Bebelplatzes hatte sich eine große Gruppe von Touristen um ein Licht versammelt, das aus dem Inneren der Erde zu kommen schien.
»Dort muss der letzte Hinweis sein!«, rief Kampel.
Er rannte zu der Menschenmenge und drängte sich in das Innere der Gruppe, die noch immer andächtig in das Licht zu ihren Füßen schaute. Als Kampel sich zwischen die vielen Leute drängelte, wagte er ebenfalls einen Blick nach unten.
In den Boden war eine viereckige Glasplatte eingelassen, durch die er in einen hell ausgeleuchteten Raum sehen konnte, der sich direkt unter ihm befand. Am Rand des unterirdischen Raums standen leere Bücherregale. Wenn die Regale vollgestellt gewesen wären, hätten sie Platz für 20.000 Bücher geboten – für all jene Bücher, die an genau diesem Fleck im Jahr 1933 auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden waren.
Das Mahnmal für die Bücherverbrennung, dachte Kampel aufgeregt. Die Fitna schickt uns genau hierher. Kampel trat auf die Glasplatte und suchte den Raum unter ihm nach einem möglichen Hinweis ab. Nichts. Der Raum war klinisch weiß und völlig unberührt, genau wie er sein sollte. Als Nächstes konzentrierte sich Kampel auf die Glasplatte zu seinen Füßen. Er schritt mehrmals über das Glas und ignorierte dabei die empörten Laute der umstehenden Touristen. Auch auf der Glasplatte konnte er nichts entdecken.
Kampel ließ sich den letzten Vers des Gedichts noch einmal durch den Kopf gehen.
Nun geh zum größten Ort des Feuers, hier in dieser Stadt,
und heb ein Klein’s, wo man zwei Märtyrer begraben hat.
Die erste Anweisung hatte er erfüllt: Er war an den »größten Ort des Feuers« gegangen, den Schauplatz der Bücherverbrennung. Aber was hatte es mit den beiden Märtyrern auf sich, die hier begraben sein sollten?
Kampel sah sich um. Ein paar Meter weiter machte eine junge Frau gerade ein Foto von einer Gedenktafel, die neben der Glasplatte in den Boden eingelassen war. Vielleicht gab es dort einen Hinweis auf die zwei Märtyrer?
Während Kampel die Umgebung absuchte, warf Lisa einen nervösen Blick zurück zur Hedwigskirchgasse, durch die sie zum Bebelplatz gelangt waren. Sie wusste, dass der Araber sie und Kampel nicht in die Gasse hatte biegen sehen, doch aus irgendeinem Grund erwartete sie dennoch, seine glühenden Augen dort zu erblicken. Wenn Kampel recht hatte und der Bebelplatz tatsächlich die letzte Station der Fitna war, würde der Araber bestimmt jeden Moment hierherkommen. Dieser Kerl war ihnen bisher an jeder einzelnen Station der Fitna begegnet. Zuerst war er am Denkmal für die ermordeten Juden Europas aufgetaucht, dann an der Weltzeituhr und jetzt am Gendarmenmarkt.
Lisa schnappte nach Luft. Ihr fiel auf, dass etwas an ihren Überlegungen nicht stimme. Der Araber war nicht an jeder Station der Fitna aufgetaucht. An der KD Bank war er ihnen nicht begegnet.
Etwas in dem Muster passte nicht zusammen. Die Gedanken rasten durch Lisas Kopf. Sie fühlte sich, als würde sie kurz davor stehen, einen entscheidenden Hinweis in einem Kriminalfall neu einzuordnen.
Lisa sortierte die Fakten. Der Attentäter war ihnen an jeder Station der Fitna begegnet, außer an der KD Bank. Warum hatte er dort nicht auf sie gelauert? Lisa ließ sich noch einmal alle Begegnungen mit dem Araber durch den Kopf gehen. Gerade eben hatte der Attentäter hinter einem Auto in der Nähe des vierten QR-Codes auf sie gewartet. Ähnlich war es im Denkmal für die ermordeten Juden Europas gewesen: Der Araber hatte sich in der Nähe des Steinblocks, an dem der erste QR-Code angebracht war, aufgehalten und dann zugeschlagen, als sich Lisa von Kampel entfernt hatte. An der Weltzeituhr war es jedoch anders gewesen. Der Attentäter hatte nicht in der Nähe der Weltzeituhr auf sie gewartet. Er war stattdessen in weiter Ferne in einer Menschenmesse aufgetaucht, als Kampel und Lisa den QR-Code bereits entdeckt hatten. Der Araber war aus der Richtung des Neptunbrunnens gekommen, wo sie vorher fälschlicherweise gesucht hatten.
In Lisas Kopf machte es plötzlich Klick. Der Attentäter hatte nicht gewusst, dass das zweite Gedicht zur Weltzeituhr geführt hatte. Er kannte die Position der einzelnen QR-Codes überhaupt nicht! Er hatte an den einzelnen Stationen der Fitna nicht auf sie gewartet, sondern sie immer nur bis dorthin verfolgt. Deshalb war der Araber an der Weltzeituhr aus Richtung des Neptunbrunnens gekommen. Er musste irgendwie gewusst haben, dass sie zunächst dort gesucht hatten.
Er verfolgt uns! Aber wie? Lisa hatte sich in den letzten Stunden immer aufmerksam umgesehen, aber den Killer nie entdeckt. Als ausgebildete Polizistin hätte sie sofort gemerkt, wenn er sie beschattet hätte. Er war niemals in ihrer Nähe gewesen und hatte doch immer gewusst, wo sie waren. Es war, als hätte er aus der Distanz jederzeit ihren Aufenthaltsort gekannt …
Lisa schnappte überrascht nach Luft. Der Araber musste ihre Position mittels eines Peilsenders geortet haben! Plötzlich ergaben die einzelnen Puzzleteile einen Sinn. Die einzige Fitna-Station, an der der Attentäter nicht aufgetaucht war, war die KD Bank. Der Grund dafür war ganz einfach: Der Araber hatte ihr und Kampel nicht dorthin folgen können, weil sie mit der U-Bahn gefahren waren. Unter der Erdoberfläche hatte der Peilsender kein GPS-Signal zum Araber senden und so ihre Position nicht verraten können.
Lisa tastete ihre Jacke und ihre Jeans ab. Sie wusste durch ihre Arbeit bei der Polizei, dass moderne Peilsender äußerst klein waren und den Zielpersonen meistens in Taschen gesteckt wurden, die sie selten benutzten. Sie ging durch ihre komplette Kleidung, doch sie fand nichts.
Plötzlich tauchte ein neues Bild vor ihrem inneren Auge auf. Sie und Kampel rennen durch das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Sie folgen einem schmalen Gang in einem Meer aus immer gleichen Steinblöcken. Plötzlich schnellt eine Hand hinter einem Stein hervor und greift nach Kampel. Es ist der Araber. Er packt Kampel am Ärmel seiner Jacke …
Lisa sprang zu Kampel, der noch immer das Denkmal absuchte.
»Haben Sie etwas herausgefunden?«, fragte der Religionswissenschaftler, ohne seinen Blick von dem Denkmal unter ihm zu lösen.
»Das kann man so sagen.« Lisa tastete mit der flachen Hand über Kampels Arme.
»Hey, was machen Sie …?«
»Halten Sie still!«, unterbrach Lisa ihn. Sie fühlte etwas Hartes in einer der Ärmeltaschen an seiner Jacke. Sie griff in die Tasche und zog einen kleinen, flachen Gegenstand hervor, der kaum größer als ein Knopf war.
»Das ist ein GPS-Peilsender«, sagte sie. »Der Araber hat uns die ganze Zeit über verfolgt!«
Lisa schaute sich eilig um. Sie musste den Peilsender loswerden. Sie hätte ihn einfach wegwerfen können, doch vielleicht konnte sie noch ein bisschen Zeit gewinnen.
Unweit der Touristengruppe um sie herum entdeckte Lisa einen jungen Mann, der gerade die Alte Bibliothek mit einer großen Kamera fotografierte. An seiner Seite baumelte eine Tasche für seinen Fotoapparat. Der junge Mann konzentrierte sich so sehr auf das Fotografieren, dass er gar nicht bemerkte, wie Lisa den Peilsender in seiner Tasche fallen ließ.
Sie entfernte sich rasch von dem Fotografen und warf einen Blick zurück in die Hedwigskirchgasse. Es war genau, wie sie befürchtet hatte: Ein schlanker Mann rannte durch die Gasse. Seine Augen schienen selbst im Dunkeln vor Zorn zu leuchten.
»Wir müssen hier weg!«, rief Lisa und zog Kampel aus der Menge.
»Aber ich habe die Fitna noch nicht …«
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit!«
Sie rannte mit Kampel im Schlepptau zu der breiten Prachtstraße Unter den Linden, die am Bebelplatz vorbei zum Brandenburger Tor führte. An der Straße parkte ein Taxi, in das gerade zwei elegant gekleidete Operngäste einsteigen wollten. Lisa zog ihren Dienstausweis aus ihrer Jacke und streckte ihn wie eine Waffe vor sich aus. »Polizei!«, schrie sie der Menge entgegen und stürzte mit Kampel in das Fahrzeug.
»Fahren Sie los!«, herrschte sie den Taxifahrer an, während Kampel die Tür hinter sich schloss.
Der Fahrer wirkte perplex. »Wo– Wohin wollen Sie denn?«
»Irgendwohin! Nun machen Sie schon!«
Der Taxi-Fahrer zögerte kurz. Als er den erhitzten Blick der blonden Frau in seinem Rückspiegel sah, trat er aufs Gas. Das Taxi schoss in den dichten Berliner Verkehr davon.
Kapitel 48
Der Dschinn rannte über den Bebelplatz. Im Rennen kontrollierte er das Ortungsprogramm auf seinem Smartphone. Das GPS-Signal der beiden Ungläubigen befand sich inzwischen an der Straße Unter den Linden, am Ende des Platzes.
Der Dschinn verfluchte sich dafür, dass er am Gendarmenmarkt aufgehalten worden war. Als er das Handy aufgesammelt hatte, das der Religionswissenschaftler fallen gelassen hatte und das unter den Sportwagen mit der laut dröhnenden Alarmanlage gerutscht war, waren ihm zwei Sicherheitsleute des Weihnachtsmarkts entgegengekommen. Sie hatten ihn offenbar für einen Autodieb gehalten und er hatte keine andere Wahl gehabt, als in entgegengesetzter Richtung zu fliehen. Zum Glück hatte er die beiden korpulenten Wachmänner schon nach einem kurzen Sprint um den Block abhängen können. Doch die Ungläubigen hatten dadurch wertvolle Minuten Vorsprung bekommen.
Der Dschinn erreichte die Straße Unter den Linden. Auf seinem Smartphone blinkte das GPS-Signal ganz in seiner Nähe. Dem Ortungsprogramm zufolge war er nur zehn Meter von den Ungläubigen entfernt. Er schaute sich in alle Richtungen um. Sie waren nirgends zu sehen. Der einzige Mensch in der Nähe war ein junger Mann, der gerade eine Statue in der Mitte der Straße fotografierte.
Der Dschinn schluckte. Ihm kam ein furchtbarer Verdacht.
Er ging in Richtung des Fotografen und blickte auf sein Handy. Sieben Meter. Er ging weiter auf den Fotografen zu. Fünf Meter. Drei Meter.
Flammender Zorn überflutete den Dschinn. Die Ungläubigen hatten ihn ausgetrickst. Sie mussten den Peilsender entdeckt und dem Fotografen unterschoben haben. Dann waren sie geflohen.
Er schlug mit der Faust wütend in die Luft. Die Ungläubigen konnten überall sein. Ohne den Peilsender hatte er keine Chance mehr, ihnen zu folgen. Und mit ihnen war auch die Fitna verschwunden.
Die Mission war gescheitert.
Der Dschinn schüttelte mit dem Kopf. Er durfte sich keinen Moment der Schwäche erlauben. Er war ein Dschinn, ein Diener Gottes – und so musste er auch handeln. Er würde seinen Herrn nicht enttäuschen.
Denk nach. Es muss doch eine Möglichkeit geben, ihnen zu folgen … Schon nach wenigen Augenblicken schlug er sich mit der flachen Hand gegen den Kopf. Das Handy des Religionswissenschaftlers!
Der Dschinn zog Kampels Handy aus der Tasche und rief das Aktivitätenprotokoll auf. Der Religionswissenschaftler hatte zuletzt eine Textnachricht versendet – an Lisa Albers, die Polizistin. Der Dschinn öffnete die Nachricht. Es handelte sich lediglich um einen Link zu einer Webseite. Der Dschinn klickte den Link an. Der Bildschirm wurde weiß, dann baute sich ein schlichter, schwarzer Text auf. Als der Dschinn den Text las, lächelte er. Er hatte einen Teil der Fitna gefunden. Das bedeutete, dass die Ungläubigen die Glaubensprüfung noch nicht beendet hatten. Er hatte also immer noch eine Chance, ihnen zu folgen.
Der Dschinn wählte auf seinem eigenen Telefon Raschids Nummer und begab sich außer Hörweite des jungen Fotografen. Wenn er und Raschid das Rätsel rechtzeitig lösen könnten, könnten sie die beiden Ungläubigen rechtzeitig erwischen.
Sie konnten ihre Mission noch immer erfüllen.
Kapitel 49
»Wohin möchten Sie?«, fragte der Fahrer, als das Taxi an einer Ampel zum Stehen kam.
Kampel und Lisa schauten sich auf dem Rücksitz mit fragenden Blicken an.
»Das überlegen wir uns noch«, sagte Lisa. »Fahren Sie fürs Erste immer gerade aus. Wenn wir uns entschieden haben, geben wir Ihnen Bescheid.«
Der Taxi-Fahrer schien von dieser Ortsangabe zwar verwirrt, aber er nickte knapp. Er hatte offensichtlich keine Lust, mit einer Polizistin zu diskutieren.
»Also, Herr Kampel«, flüsterte Lisa, damit der Taxi-Fahrer möglichst wenig von ihrem Gespräch mitbekam. »Wohin müssen wir?«
Kampel seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich bin fest davon ausgegangen, dass uns das fünfte Gedicht zum Bebelplatz führen würde, aber dort habe ich nichts gefunden – weder einen QR-Code noch sonst irgendetwas.«
»Warum dachten Sie, wir müssten dorthin?«
»Ich dachte, das fünfte Gedicht würde auf die Bücherverbrennung anspielen, die 1933 auf dem Bebelplatz stattfand. Denn in zwei Versen hieß es: ›Was zählt ist nur das heil’ge Buch, vernicht’ den ganzen Rest‹ und ›Nun geh zum größten Ort des Feuers, hier in dieser Stadt.‹«
»›Nun geh zum größten Ort des Feuers, hier in dieser Stadt‹ …«, murmelte Lisa vor sich hin. »Möglicherweise müssen wir zu einem Ort in Berlin, an dem sich auch heute noch ein großes Feuer befindet. Vielleicht finden wir im Internet etwas darüber …« Sie zog ihr Smartphone aus der Hosentasche und öffnete den Webbrowser.
»Ich kann Ihnen bei der Internetsuche leider nicht helfen«, meinte Kampel. »Ich habe mein Handy am Gendarmenmarkt fallen gelassen, als wir geflohen sind.«
»Ich weiß. Der Araber hat es eingesteckt.«
Kampels Augen hinter der großen Brille weiteten sich erschrocken. Dieser Kerl hat mein Handy? Für einen kurzen Moment geriet er in Panik. Er fragte sich, ob der Araber mit dem Gerät irgendwelche privaten Informationen über ihn herausbekommen könnte. Schließlich zwang Kampel sich zur Ruhe. Er hatte auf dem Gerät keinerlei private Dateien gespeichert, denn er benutzte es fast ausschließlich zum Telefonieren und zum SMS-Schreiben. Für ihn waren Smartphones reine Telefone, keine Spielzeuge.
Plötzlich fiel Kampel etwas anderes ein. »Auf dem Handy habe ich Ihre Nummer gespeichert«, sagte er zu Lisa. »Kann der Kerl uns damit orten? So wie er es mit diesem GPS-Sender gemacht hat?«
Die Kommissarin schüttelte den Kopf. »Meine Abteilung hat schon häufig die Handys von Dschihadisten geortet. Das ist wesentlich komplizierter, als viele Laien denken. Um ein Handy zu orten, muss man die Seriennummer des Geräts kennen oder sich zumindest in die Software hacken. Dafür benötigen selbst unsere Spezialisten mehrere Tage.« Lisa war froh, dass ihre Erklärung Kampel zu beruhigen schien.
Sie wandte sich wieder ihrem Smartphone zu und suchte im Internet nach Berliner Orten, die im Zusammenhang mit den Wörtern Feuer oder Flamme standen. Sie las Kampel die vielversprechendsten Suchergebnisse vor: »Im Berliner Olympiastadion gibt es eine große Feuerschale, in der das erste olympische Feuer entzündet wurde. Vielleicht müssen wir dorthin?« Sie las weitere Ergebnisse vor: »Dann gibt es noch das Mahnmal ›Ewige Flamme‹ auf dem Theodor-Heuss-Platz in Berlin.« Sie scrollte weiter. »Hier steht etwas vom Berliner ›Feuerland‹. Das scheint im 19. Jahrhundert ein Fabrikgelände gewesen zu sein.« Wieder scrollte sie. »Danach kommen verschiedene Einträge über die Berliner Feuerwehr …«
»Das ergibt alles keinen Sinn«, sagte Kampel frustriert. »Keines dieser Feuer hängt mit der fünften Säule des Islam zusammen.«
»Die fünfte Säule ist die Pilgerfahrt nach Mekka, nicht wahr?«
Kampel nickte. »Jeder volljährige Muslim, der frei ist und es sich leisten kann, muss einmal in seinem Leben nach Mekka pilgern. Im Arabischen wird die Pilgerfahrt als Haddsch bezeichnet, das bedeutet so viel wie eine Reise antreten wollen. Die Pflicht zur Haddsch leitet sich aus einem Koranvers ab, den Mohammed im Jahr 632 kurz vor seinem Tod verkündete.«[183]
Lisa überlegte. »Wie läuft die Pilgerreise genau ab? Vielleicht müssen wir ein bestimmtes Pilgerritual vollziehen, um die Fitna zu lösen?«
Kampel ließ sich die einzelnen Phasen des Haddsch durch den Kopf gehen. »Die Pilgerreise folgt einem streng festgelegten Ablauf, bei dem die heilige Zahl Sieben übrigens eine wichtige Rolle spielt. Wenn die pilgernden Muslime in Mekka ankommen, gehen sie siebenmal gegen den Uhrzeigersinn um die Kaaba – nach islamischer Vorstellung ist die Kaaba das Haus Gottes. Danach trinken die Pilger von dem heiligem Brunnen Zamzam. Im Anschluss ziehen sie siebenmal zwischen den Hügeln Safa und Marwa umher und begeben sich zur Ebene ʿArafāt, wo sie um Vergebung bitten. Dann steinigen sie symbolisch den Teufel, indem sie sieben Steine gegen eine große Säule werfen. Danach rasieren sich die männlichen Pilger den Kopf, die Frauen schneiden sich eine Haarsträhne ab. Im Anschluss begehen die Muslime den höchsten islamischen Feiertag, das Opferfest, und bringen Tieropfer. Die Pilgerfahrt führt daraufhin wieder nach Mekka, wo die Muslime erneut siebenmal um die Kaaba gehen. Danach steinigen sie zweimal jeweils drei Säulen. Am Ende der Reise sollten die Pilger also sieben Säulen mit jeweils sieben Steinen gesteinigt haben.«
»Können Muslime sich jederzeit auf die Pilgerfahrt nach Mekka begeben?«
Kampel schüttelte den Kopf. »Nein, die Pilgerfahrt nach Mekka muss während der fünf Tage um das islamische Opferfest herum vollführt werden. Muslime können zwar auch außerhalb dieser Zeit nach Mekka reisen, aber das entbindet sie nicht davon, die Pilgerfahrt einmal im Leben zur vorgeschriebenen Zeit zu vollziehen.«
»Also gehen alle Muslime gleichzeitig nach Mekka? Dann muss es dort wahnsinnig voll sein.«
Kampel nickte. »Der Haddsch ist die weltweit größte jährliche Versammlung von Menschen. Im Jahr 2012 pilgerten über drei Millionen Muslime gleichzeitig nach Mekka.«
Lisa ließ sich Kampels Ausführungen über die Pilgerfahrt durch den Kopf gehen. Nach einer Weile atmete sie kopfschüttelnd aus. »Das ist alles sehr interessant, aber ich sehe darin keine Verbindung zu dem Gedicht.«
Kampel seufzte. »Sie haben recht. Das bringt uns alles keinen Schritt weiter. Wir wissen immer noch nicht, wohin uns die Fitna führt.«
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Beide dachten angestrengt über das Gedicht nach.
Lisa beobachtete eine Weile die grauen Straßen Berlins, die hinter dem Fenster des Taxis an ihnen vorbeizogen. Sie überlegte laut vor sich hin: »Ich finde es merkwürdig, dass uns das Gedicht ausgerechnet zu einem Feuer schickt. Wenn ich der Autor der Fitna wäre, hätte ich meinen Rekruten eine symbolische Reise nach Mekka machen lassen. Ich hätte ihn zu einem Ort in Berlin geschickt, der als islamisches Zentrum gilt. Zum Beispiel zu einer Moschee.«
Als Kampel das Wort Moschee hörte, weiteten sich seine Augen hinter der Brille überrascht. Er hatte einen Geistesblitz. Noch einmal ließ er sich die entscheidende Zeile des Gedichts durch den Kopf gehen: »Nun geh zum größten Ort des Feuers hier in dieser Stadt.« Plötzlich verstand er, was der Autor der Fitna von ihnen verlangte.
»Sie haben recht!«, lachte er auf. »Wir müssen zu einer Moschee! Das Gedicht will, dass wir einen Ort des Feuers in Berlin suchen. Das ist wörtlich gemeint! Ort des Feuers ist die deutsche Übersetzung für das arabische Manāra – so werden Leuchttürme bezeichnet.«
Lisa setzte einen fragenden Blick auf. »Wir suchen also einen Leuchtturm?«
Kampel lachte. »Nicht ganz. In den ersten Jahrhunderten der islamischen Expansion errichteten die Muslime Leuchttürme in Gebieten, die sie neu eroberten. Das Feuer in den Leuchttürmen diente vorbeiziehenden Karawanen als ein Signal in der Dunkelheit. Außerdem wurden die Leuchttürme als Wachtürme benutzt, um das neu eroberte Gebiet im Auge zu behalten. Ein Turm mit solch einer Funktion ist zum Beispiel neben der Umayyaden-Moschee in Damaskus zu finden, einer der ältesten Moscheen der Welt.«
»Ich kann Ihnen immer noch nicht folgen.«
Kampels Augen leuchteten. »Solche Leuchttürme wurden neben Moscheen errichtet. Der Ort des Feuers und das arabische Wort Manāra – beides sind Bezeichnungen für das Minarett einer Moschee. Wir müssen zu der Moschee in Berlin mit dem größten Minarett – dem größten Ort des Feuers!«
Lisa begriff. »Sie sind genial!«, sagte sie strahlend zu Kampel. Sofort tippte sie auf ihrem Handy herum. »Jetzt müssen wir nur noch im Internet suchen, welche Berliner Moschee das größte Minarett hat.«
Kampel lächelte. »Machen Sie sich keine Mühe, das weiß ich auch ganz ohne Internet.« Er beugte sich nach vorn und gab dem Taxi-Fahrer das Ziel durch.
Der Fahrer nickte zum Verständnis und tippte die Adresse in das Navigationssystem des Wagens ein. Ein Bildschirm am Armaturenbrett zeigte die Fahrtroute auf einer Karte.
Als Kampel die Karte betrachtete, wurde er ein weiteres Mal überrascht. Ihr Ziel befand sich südöstlich vom Gendarmenmarkt, wo sie das letzte Gedicht entdeckt hatten.
Sie fuhren in Richtung Mekka.
Kapitel 50
Kampel und Lisa standen auf dem Bürgersteig an einer breiten, einsamen Straße. Die Straße wirkte für Berliner Verhältnisse geradezu dörflich, denn sie war zu beiden Seiten von ausgedehnten Waldstücken umgeben. Das einzige Fahrzeug in Sichtweite war das Taxi, das sich rasch entfernte, nachdem der Fahrer von Lisa ein großzügiges Trinkgeld bekommen hatte.
Vor Kampel und Lisa begrenzte eine mannshohe Mauer den Bürgersteig. Dahinter erhob sich ein imposantes Bauwerk, dessen exotische Umrisse sogar im diffusen Licht der Straßenlaternen deutlich auffielen.
»Das ist sie«, verkündete Kampel. »Die Şehitlik-Moschee.«
Die Şehitlik-Moschee war auch bei Nacht ein völlig ungewöhnlicher Anblick für Berlin. Die Moschee machte sich gar nicht erst die Mühe, sich an das deutsche Stadtbild anzupassen, sondern hätte genauso gut in der Türkei stehen können. Der prunkvolle Bau war ganz offensichtlich den berühmtesten Moscheen Istanbuls nachempfunden und weckte Erinnerungen an die Hagia Sophia, die Blaue Moschee und die Süleymaniye-Moschee. Genau wie ihre berühmten Vorbilder bestand die Şehitlik-Moschee aus einem kastenförmigen, hellen Grundbau, auf dem eine flache, graue Kuppel saß. Auf der Kuppel thronte eine goldene Stange mit einer Mondsichel an der Spitze. Die Mondsichel, im arabischen Hilal genannt, war ein wichtiges Symbol für den Islam und fand sich auf den Flaggen vieler islamischer Länder wieder, etwa auf der Flagge der Türkei.
Am interessantesten waren für Kampel jedoch die beiden langen, runden Türme an den Seiten der Moschee – die Minarette, von denen der Muezzin fünfmal täglich zum islamischen Gebet rief. Mit ihren 37,1 Metern Höhe waren diese Minarette die höchsten Berlins.
»Nun geh zum größten Ort des Feuers hier in dieser Stadt«, dachte Kampel aufgeregt.
Kampel wusste, dass die Şehitlik-Moschee im Inneren genauso beeindruckend war wie von außen. Vor einigen Jahren hatte er an einer Führung durch die Moschee teilgenommen und dabei ausgiebig den großen Innenraum bewundert, der auf 365 Quadratmetern Platz für 1500 Gläubige bot. Das Innere war mit einem türkisen Teppich, einem prunkvollen Kronleuchter, vielen orientalischen Verzierungen an den Wänden und schönen Buntglasfenstern äußerst ansprechend gestaltet.
Kampel erinnerte sich, dass die Führung an einem Tag der Offenen Moscheen stattgefunden hatte. An diesem Tag luden zahlreiche Moscheen in ganz Deutschland dazu ein, ihre Räumlichkeiten zu betreten. Kampel begrüßte diese Geste des Zentralrats der Muslime in Deutschland, aber das gewählte Datum gab ihm immer ein mulmiges Gefühl: Von allen 365 Tagen im Jahr fand der Tag der Offenen Moscheen ausgerechnet am dritten Oktober statt, dem deutschen Nationalfeiertag. Kritische Stimmen meinten, dass der Zentralrat der Muslime mit diesem Datum einen Herrschaftsanspruch über Deutschland verkündete.
Lisa pfiff beim Anblick der Şehitlik-Moschee anerkennend durch die Zähne. »Das sind wirklich große Minarette. Wohin müssen wir jetzt?«
Kampel zitierte den letzten Vers des Gedichts: »›Nun geh zum größten Ort des Feuers, hier in dieser Stadt, und heb ein Klein’s, wo man zwei Märtyrer begraben hat.‹ Wenn ich das richtig verstehe, müssen wir auf den Friedhof und dort die Gräber zweier Märtyrer suchen. Dort muss etwas ›Klein’s‹ sein, das wir bergen sollen.«
Lisa war verblüfft. »Die Moschee hat einen Friedhof?«
»Aber natürlich. Das Wort Şehitlik-Moschee heißt übersetzt so viel wie Friedhofsmoschee. Diese Moschee ist berühmt für den islamischen Friedhof, der rundherum angelegt ist. Irgendwo dort müssen zwei Märtyrer begraben sein.«
Als Kampel diese Worte aussprach, hatte er eine Eingebung. Er musste anerkennend lächeln, als ihm aufging, mit welchem Symbolismus der Autor der Fitna das Gedicht erneut aufgeladen hatte. »Das türkische Wort für Friedhof – Şehitlik – leitet sich von Şehit ab, dem türkischen Wort für Märtyrer. Kein Wunder, dass wir hier nach Märtyrern suchen müssen!« Kampel hatte das Wort Şehit wie »Schehiet« ausgesprochen. »Auf Arabisch heißt der Märtyrer übrigens Schahid, was von dem islamischen Glaubensbekenntnis Schahāda abgeleitet wird. Ein Märtyrer ist also jemand, der sich zum islamischen Glauben bekennt und dafür in den Tod geht.«
»Der Kreis schließt sich hier«, sagte Lisa. »Das Gedicht zur fünften Säule des Islam verweist wieder auf die erste Säule, die Schahāda.«
Kampels Gedanken rasten zu einem weiteren arabischen Begriff, der sehr ähnlich klang.
Schahid. Schahāda. Dschihad.
Alles schien ihn zum Heiligen Krieg zurückzuführen. Der Krieg, in den Dominik gezogen war …
Während Kampel darüber nachdachte, ob die Ähnlichkeit zwischen diesen arabischen Begriffen nur zufällig war oder auf eine Wortverwandtschaft hinwies, widmete sich Lisa den praktischen Dingen. Um das Grundstück der Şehitlik-Moschee verlief eine mannshohe Mauer, auf der ein Gitter angebracht war. Die Kommissarin schaute sich kurz auf der Straße um. Sie und Kampel waren alleine. Mit einem kurzen Anlauf sprang sie an der Mauer hoch, ergriff das Gitter und zog sich nach oben.
»Was machen Sie da?«, fragte Kampel erschrocken.
»Über die Mauer klettern«, gab sie unaufgeregt zurück. »Sie sagten doch, wir müssten auf den Friedhof.« Trotz ihrer geringen Größe kletterte die Polizistin geschickt über das Gitter und ließ sich auf der anderen Seite fallen. »Nun kommen sie schon«, sagte sie leise über die Mauer hinweg. »Hier ist niemand.«
Kampel zögerte. Ihm war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, nachts in einen Friedhof einzubrechen. Doch wahrscheinlich war es unvermeidlich. Irgendwo auf dem Gelände musste der letzte Hinweis der Fitna sein, der ihn endlich zu dem Mann führen würde, der Dominik in den Heiligen Krieg geführt hatte. Bei dem Gedanken an seinen Sohn fielen alle Zweifel von ihm ab.
Wie Kommissarin Albers vorgemacht hatte, sprang Kampel zu dem Eisengitter hoch und zog sich auf die Mauer nach oben. Bei ihr hat das viel leichter ausgesehen, dachte Kampel mürrisch, während er all seine Kraft zusammennahm. Auf der Mauer angekommen schwang er sich über das Gitter und ließ sich auf der anderen Seite fallen.
Kampel landete neben Lisa auf einem Gehweg aus Steinplatten, der rund um den islamischen Friedhof verlief. Es war dunkel und still. Das Licht der Straßenlaternen kam nur schwach über die Mauer und die fernen Verkehrsgeräusche wirkten gedämpft, so als hätten sie eine andere Welt betreten. Kampel schaute sich um. Der Gehweg, auf dem sie sich befanden, führte nach vorne bis zur Şehitlik-Moschee, die sich majestätisch in den Nachthimmel erhob. Auf einer kleinen Wiese zwischen ihnen und der Moschee standen etliche regelmäßig angeordnete Grabsteine in der Dunkelheit. Kampel schauderte. Er war noch nie bei Nacht auf einem Friedhof gewesen und schon gar nicht auf einem islamischen Friedhof.
»Streng genommen brechen wir gerade in türkisches Staatsgebiet ein«, flüsterte Lisa. »Die Şehitlik-Moschee gehört der DİTİB, der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religionen. DİTİB untersteht direkt dem türkischen Ministerium für religiöse Angelegenheiten. Dieses Grundstück gehört dem türkischen Verteidigungsministerium.«[184]
Lisa war bei ihrer Arbeit im Polizeilichen Staatsschutz schon häufig der DİTİB begegnet. Der DİTİB-Dachverband betreute insgesamt 900 türkisch-islamische Vereine und Moscheegemeinden in Deutschland. Die Organisation stand dem türkischen Präsidenten Erdoğan nahe und engagierte sich zuweilen als dessen Wahlhelfer.[185] Außerdem war DİTİB immer wieder in den Dschihadismus verstrickt. So hatten sich verschiedene Dschihadistengruppen wie die »Lohberger Brigade« und die »Wolfsburger Gruppe« regelmäßig in Moscheen und Räumlichkeiten der DİTİB getroffen.[186] Noch brisanter für den Polizeilichen Staatsschutz waren die ausufernden Spionage-Aktivitäten des Vereins. DİTİB arbeitete eng mit dem türkischen Geheimdienst MİT zusammen und hatte die Aufgabe, auf deutschem Boden für den türkischen Staat zu spionieren. Ende 2016 wurde bekannt, dass die türkischen Imame, die DİTİB in deutsche Moscheen sandte, dem türkischen Geheimdienst Informationen über Erdoğan-Kritiker liefern sollten. Die Imame führten genaue Berichte, die dann von der DİTİB zusammengetragen wurden.[187]
Auch Kampel verknüpfte unangenehme Assoziationen mit der DİTİB. Er hatte erst kürzlich bei einem Vortrag herausgestellt, dass die Moschee-Bauten der DİTİB auffällig oft nach islamischen Kriegsherren benannt waren, die sich gegen die christliche Welt gewandt hatten. So gab es im Jahr 2017 beispielsweise in mindestens 52 deutschen Städten sogenannte Fātiḥ-Moscheen. Fātiḥ war das arabische Wort für Eroberer und der Beiname von Sultan Mehmed II., der das damals noch christliche Konstantinopel erobert hatte – heute war es die türkische Hauptstadt Istanbul.
Kampels Blick glitt über die unzähligen Grabsteine auf dem Friedhof. Er kannte die Şehitlik-Moschee schon lange als prachtvollste Moschee Berlins, aber bisher hatte er sie nie in Verbindung mit der DİTİB gebracht. Irgendwo hier müssen zwei Märtyrer begraben sein, dachte er. Aber um wen handelt es sich dabei? Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Er befand sich auf einem Friedhof der DİTİB! Er wusste, welche beiden Personen hier als Märtyrer verehrt wurden.
»Ich glaube, ich weiß, welche Märtyrer wir suchen!«, sagte Kampel und schritt den Gehweg entlang auf die Moschee zu. »Wenn ich mich recht entsinne, müssten ihre Gräber ganz vorne sein, direkt vor dem Eingang der Moschee.«
Lisa folgte ihm. »Wer sind diese Märtyrer?«
Der Religionswissenschaftler merkte, dass er mit seiner Erklärung etwas ausholen musste. »Während des Ersten Weltkriegs kam es im Osmanischen Reich zum Völkermord an den Armeniern. Es gab zahlreiche Massaker und Todesmärsche, bei denen zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Menschen umkamen. Der Völkermord richtete sich neben den Armeniern auch gegen die Griechen. Beide Gruppen waren im damaligen Osmanischen Reich die beiden größten christlichen Minderheiten.« Kampel machte eine kurze Pause. »An dem Völkermord waren zwei Männer maßgeblich beteiligt: Der eine war Cemal Azmi Bey – besser bekannt als ›der Schlächter von Trabzon‹. Als Gouverneur der Provinz Trabzon war er für Deportationen und viele schreckliche Massaker an den Armeniern verantwortlich. Unter anderem ließ er seine Truppen tausende armenische Frauen und Kinder im Schwarzen Meer ertränken. Der andere Mann hieß Bahattin Şakir. Er gilt als ›Architekt‹ des Völkermords an den Armeniern. Er hatte unter anderem die sogenannten ›Todesschwadronen‹ befehligt. Beide Männer wurden 1919 von einem osmanischen Kriegsgericht für ihre Verbrechen zum Tode verurteilt. Sie konnten jedoch nach Berlin fliehen und lebten hier einige Jahre, bis sie im Jahr 1922 von armenischen Attentätern aus Rache für den Völkermord erschossen wurden.«
Lisa blickte Kampel schockiert an. »Heißt das etwa …?«
Kampel nickte. »Cemal Azmi Bey und Bahattin Şakir sind auf diesem Friedhof begraben. Da sie für den türkischen Staat und für die DİTİB als Märtyrer gelten, haben sie hier Ehrengräber bekommen. Ich glaube, es sind die beiden Märtyrer, die wir suchen.«
Kapitel 51
Das Taxi setzte den Dschinn direkt vor der Şehitlik-Moschee ab. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, um seinen eigenen Wagen zu nehmen. Jetzt musste alles schnell gehen.
Der Dschinn ging geradewegs auf die Moschee zu. Womöglich kam er bereits zu spät. Er und Raschid hatten lange gebraucht, um das rätselhafte Gedicht zu entschlüsseln, das sie auf Kampels Handy entdeckt hatten. Sie beide hatten in ihrem Leben bereits selbst Fitnas lösen müssen, doch diese Glaubensprüfung erwies sich als weitaus komplexer als ihre eigenen Initiationstests. Ihre eigenen Fitnas hatten aus praktischen Aufgaben bestanden, mit denen sie ihren Mut und ihren Glauben an die Sache Gottes beweisen mussten. Diese Fitna hingegen war ihnen zunächst völlig rätselhaft erschienen. Auf der verzweifelten Suche nach einer Lösung hatte Raschid den Gedichttext durch zahlreiche Computerprogramme gejagt, bis ihm ein Übersetzungsalgorithmus verriet, dass der Begriff Ort des Feuers auf ein Minarett verwies. Als der Dschinn diese Lösung gehört hatte, hätte er sich am liebsten selbst geohrfeigt. Als arabischer Muttersprachler hätte er viel eher darauf kommen müssen.
Der Dschinn erreichte die Mauer, die das Grundstück der Şehitlik-Moschee begrenzte. Er hörte etwas. Über die Mauer hinweg drangen Stimmen zu ihm, die sich leise, aber aufgeregt unterhielten. Es waren die beiden Ungläubigen.
Der Dschinn grinste. Er kannte den Friedhof der Şehitlik-Moschee. Das Gelände war nachts abgeschlossen und zu allen Seiten von Mauern und Zäunen umgeben. Die Ungläubigen saßen in der Falle. Diesmal würden sie ihm nicht entkommen. Hier würde es ein für alle Mal enden.
Der Dschinn kontrolliere routinemäßig seine Bewaffnung. Seine schallgedämpfte Pistole war durchgeladen und sein Kampfmesser saß griffbereit unter der Jacke.
Er schloss einen Moment lang die Augen und bat Gott in Gedanken um Vergebung dafür, dass er gleich ein göttliches Gesetz würde brechen müssen. Der Koran verbot es ausdrücklich, an einer Moschee gegen Ungläubige zu kämpfen:
[2:191] Und tötet sie [die Ungläubigen], wo immer ihr sie zu fassen bekommt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben! […] Jedoch kämpft nicht bei der heiligen Kultstätte gegen sie, solange sie nicht ihrerseits dort gegen euch kämpfen! […]
Der Dschinn musste dieses Gesetz nun brechen, doch er wusste, dass Gott ihm dafür vergeben würde. Wenn der Dschinn diese beiden Ungläubigen erledigte hatte, konnte er endlich seine Mission vollenden. Dann würde er dem Heiligen Krieg einen größeren Dienst erweisen als je ein Mudschahid zuvor.
Der Dschinn sprang an der Mauer nach oben und griff nach dem Gitter, das darauf angebracht war. Er zog sich hoch und kletterte über die Mauer zum Friedhof der Moschee.
Kapitel 52
Das Grab, vor dem Kampel und Lisa standen, hob sich sogar in der Dunkelheit von den restlichen Grabstätten des Friedhofs ab. Das Grab hatte einen Ehrenplatz unmittelbar vor dem Eingang der Şehitlik-Moschee und bestand aus einem quadratischen Stück Erde, das von einer kunstvollen Begrenzung aus hellem Marmor umrahmt wurde. Die beiden schmalen Grabsteine waren ebenfalls aus strahlend weißem Marmor. Oben auf den Steinen prangte in Gold der Halbmond samt Stern, das Hoheitszeichen der Türkei. Darunter standen in goldener Schrift die Namen der hier Beerdigten: Dr. Bahattin Şakir und Cemal Azmi Bey.
Kampel schauderte bei dem Gedanken, dass die beiden Männer, die hier als Märtyrer begraben waren, eine so wichtige Rolle im Völkermord an den Armeniern gespielt hatten. Er wusste jedoch, dass die DİTİB den Völkermord genauso leugnete wie der türkische Staat selbst. Im Jahr 2016 hatte der deutsche Bundespräsident an einer Feier zum Fastenbrechen in der Şehitlik-Moschee teilnehmen wollen, war aber wieder ausgeladen worden, weil der Deutsche Bundestag kurz zuvor beschlossen hatte, den Völkermord an den Armeniern offiziell als Genozid und geschichtliche Tatsache anzuerkennen. Die DİTİB organisierte daraufhin zahlreiche Gegenveranstaltungen in ganz Deutschland, bei denen der deutsche Beschluss als eine »Genozidlüge« bezeichnet wurde.[188]
Kampel war sich sicher, dass die Fitna sie genau zu diesem Grab führte. Aber was nun? Er rief sich noch einmal die letzten Zeilen des Gedichts in den Kopf.
Nun geh zum größten Ort des Feuers, hier in dieser Stadt,
und heb ein Klein’s, wo man zwei Märtyrer begraben hat.
Scheinbar sollten sie etwas Kleines heben. Was sollte das sein?
Kampels Blick wanderte über das Grab. Zwischen den beiden Grabsteinen brannte ein kleines Teelicht in einer Laterne.
»Nun geh zum größten Ort des Feuers« … »Und heb ein Klein’s« …
Plötzlich verstand Kampel. »Ein kleines Feuer!«, stieß er hervor. »Wir sollen ein kleines Feuer anheben! Die Laterne!«
Kampel trat einen Schritt nach vorne und hockte sich an das Grab. Er streckte seinen Arm aus und angelte nach der Laterne zwischen den beiden Grabsteinen. Danach stand er auf und untersuchte die Lampe zusammen mit Lisa von allen Seiten.
»Da!«, rief die Kommissarin.
Auf der Unterseite der Laterne war mit einem schwarzen Edding eine Zahlenfolge aufgemalt:
-1-5-5-6-4-
»Solche Zahlen standen auch unter dem Gedicht«, sagte Kampel.
Lisa nickte. Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und öffnete auf dem Gerät das fünfte Gedicht der Fitna. Sie betrachtete eingehend die Zahlen unter dem Gedicht:
0-6-5-5-1-8
»Das sind unterschiedliche Zahlen«, murmelte Kampel. »Was sollen sie uns sagen?«
Lisas Blick wanderte zwischen der Zahlenfolge auf ihrem Smartphone und der unter der Laterne hin und her. Sie schnappte überrascht nach Luft. »Ich glaube, wir müssen diese Zahlenfolgen zusammensetzen! Diese Zahlen gehören alle zur selben Reihe. Die Striche in der einen Zahlenfolge sind die Lücken in der jeweils anderen.«
Als Kampel die Zahlenfolgen nebeneinander betrachtete, begriff er, worauf Lisa hinauswollte.
0-6-5-5-1-8
-1-5-5-6-4-
Kampel schluckte. Die Symbolkraft der beiden Zahlenfolgen erschlug ihn förmlich. Die beiden Zeilen bildeten einen perfekten Dualismus. Jede Zeile für sich genommen war lückenhaft, doch zusammen ergaben sie ein vollständiges Bild. Es war ein außergewöhnlich eleganter Ausdruck für das Nebeneinander von Gegensätzen im Islam.
Lisa setzte die beiden Zahlenfolgen im Kopf zusammen. »0165 555 6148. Das ist eine Telefonnummer!«
Kampel begann plötzlich zu zittern. Er war sich sicher, dass diese Telefonnummer ihn zu dem Autor der Fitna führen wurde. Zu dem Mann, der seinen Sohn zu einem Dschihadisten gemacht hatte …
Plötzlich wurde er von der Kommissarin zu Boden gerissen. »Runter!«, zischte sie.
In Lisas Gesicht stand die blanke Panik. Sie wagte es nicht, noch etwas zu sagen. Stattdessen zeigte sie zu der Mauer, die den Friedhof begrenzte. Kampel folgte ihrem Fingerzeig.
Über den Zaun kletterte eine große, schlanke Gestalt mit zornerfüllten, glühenden Augen.
Der Araber hatte sie gefunden.
Kapitel 53
Kampel und Lisa pressten sich an die Grabsteine der beiden völkermordenden Märtyrer. Kampel wagte einen kurzen Blick in Richtung der Friedhofsmauer. Der Araber war inzwischen auf dem Gehweg des Friedhofs gelandet. In seiner Hand hielt er eine Pistole mit einem großen Schalldämpfer.
Kampels Herz schien mehrere Schläge auszusetzen. Panik stieg in ihm auf. Er musste sich selbst beherrschen, um keinen verräterischen Ton von sich zu geben.
Ein heller Lichtstrahl flammte in der Dunkelheit auf. Der Araber hatte offensichtlich eine Taschenlampe eingeschaltet. Das Licht wanderte wie ein Suchscheinwerfer über den Eingang der Moschee und zu den Gräbern. Für einen Moment glaubte Kampel, der Killer hätte sie entdeckt, doch dann wanderte das Licht weiter.
»Es ist vorbei«, sagte der Araber. Seine grausame Stimme barst durch die Stille wie ein Feuersturm. »Ich weiß, dass ihr hier seid. Zeigt euch, und ich bereite euch ein schnelles Ende.«
Kampel hörte vorsichtige Schrittgeräusche. Dann wanderte der Lichtstrahl in gerader Linie über ein paar Gräber hinweg. Wieder Schritte. Wieder ein Lichtstrahl. Offenbar ging der Attentäter den Seitenweg des Friedhofs entlang und durchleuchtete nacheinander methodisch jede Grabreihe.
Die Panik drohte Kampel zu übermannen. Der Araber würde in wenigen Augenblicken die vorderste Reihe erreicht haben und ihn und Lisa hinter den Grabsteinen entdecken. Er würde sie ohne zu zögern erschießen.
Kampel sah sich hektisch um. Er wusste, dass sich der islamische Friedhof hinter der Şehitlik-Moschee noch weiter ausdehnte, doch dieser Bereich war um diese Uhrzeit hinter einer Mauer samt Tor abgeschlossen. Auch an allen anderen Seiten des Friedhofs verliefen Mauern und Zäune. Sie konnten nirgendwo hin. Sie saßen in der Falle.
Die Schritte kamen näher.
Lisa zog ihr Smartphone aus der Hosentasche und tippte auf dem Gerät herum. Dabei presste sie das Telefon ganz nah an ihren Körper, sodass das Licht des Bildschirms sie nicht in der Dunkelheit verriet. Dann drückte sie Kampel das Handy in die Hand und blickte ihm fest in die Augen. In einer stummen Geste drückte sie auf ein weiteres imaginäres Smartphone in ihrer Hand und warf das Gerät in hohem Bogen davon. Danach bedeutete sie ihm, dass er warten sollte. Sie legte sich flach auf den Boden und robbte langsam zwischen den Grabsteinen in Richtung des Arabers.
Was zum Teufel macht sie da?, dachte Kampel panikerfüllt.
Mit einem Tastendruck erhellte er das Handy, das Lisa ihm in die Hand gedrückt hatte. Als er den Bildschirm betrachtete, begriff er, was sie vorhatte. Sie hatte auf dem Gerät das Menü geöffnet, in dem die Klingeltöne eingestellt werden konnten. Kampel sollte offensichtlich in einem bestimmten Moment einen Klingelton abspielen lassen und das Handy dann in hohem Bogen von sich werfen, um den Araber abzulenken.
Kampel fand diesen Plan alles andere als vielversprechend. Der Begriff lebensmüde schien ihm für dieses Vorhaben wesentlich passender. Aber leider hatte er keine bessere Idee.
Kampel wagte einen weiteren Blick um den Grabstein herum. Der Araber war inzwischen ein paar Meter vorgerückt. Er leuchtete den Friedhof weiterhin methodisch aus. Lisa war in der Zwischenzeit bis zum Gehweg gerobbt und kauerte hinter einem Grabstein. Sie war nur noch drei Reihen von dem Attentäter entfernt.
Der Araber ging eine weitere Grabreihe nach vorne. Nur noch zwei Reihen lagen zwischen ihm und der Kommissarin. Kampel machte sich darauf gefasst, um sein Leben zu kämpfen. In wenigen Augenblicken würde sich entscheiden, ob er überleben oder sich zu den Toten auf dem Friedhof gesellen würde.
Noch ein kleines Stück, dachte Kampel. Der Kerl muss noch näher herankommen. Wir haben nur im Nahkampf eine Chance gegen ihn.
Der Araber machte einen weiteren Schritt nach vorne.
Jetzt.
Kampel tippte auf das Handy und warf das Gerät in hohem Bogen von sich zur Rückseite des Friedhofs. Das Smartphone prallte gegen einen Grabstein und landete im Gras. Ein lauter Klingelton ertönte und hallte wie ein Donnerschlag durch die Stille des Friedhofs.
Dann ging alles ganz schnell.
Der Araber hatte sich instinktiv in Richtung des Handys umgedreht. Gleichzeitig sprang Lisa hinter ihrem Grabstein hervor und stürzte sich von hinten auf den Attentäter. Der Araber bemerkte den Angriff zu spät: Er konnte sich zwar noch umdrehen und einen Schuss abgeben, doch Lisa hatte ihn bereits erreicht und drückte die schallgedämpfte Pistole nach oben. Der Schuss surrte durch die Luft.
Lisa und der Killer rangen um die Waffe. Der Araber versuchte die Pistole nach unten zu drücken und auf die Kommissarin zu richten. Er drückte auf den Abzug, doch Lisa beugte ihren Kopf im richtigen Moment zur Seite. Die Kugel verfehlte sie um Haaresbreite.
Kampel erhob sich und rannte auf den Araber zu, der ihm gerade die Seite zuwandte. Kampel setzte zu einem Schlag in sein Gesicht an, doch der Killer musste mit dieser Attacke gerechnet haben: Noch während er mit Lisa um die Waffe rang, rammte er seinen Ellbogen in Kampels Gesicht. Sofort schoss ein warmer Schwall Blut aus Kampels Nase. Er ging zu Boden.
Als Kampel auf dem harten Stein aufprallte, hörte er ein klapperndes Geräusch. Wenige Zentimeter von ihm entfernt war eine Pistole auf den Friedhofsweg gefallen. Es war die Dienstwaffe der Kommissarin, die der Araber ihr im Holocaust-Mahnmal abgenommen hatte. Die Waffe musste dem Attentäter aus der Jacke gefallen sein, als er zur Attacke gegen Kampel ausgeholt hatte.
Lisa und der Araber rangen weiter um die schallgedämpfte Pistole. Der Angreifer schoss erneut. Der Schuss ging wieder ins Leere.
Kampel hechtete zu der fallengelassenen Dienstwaffe und klaubte sie vom Boden auf. Er rollte sich auf den Rücken und richtete die Pistole im Liegen auf den Araber. Er hatte noch nie eine Waffe in der Hand gehabt, doch plötzlich erschien ihm alles ganz simpel. Er drückte auf den Abzug.
Der Schuss knallte so laut wie eine Explosion durch die Nacht. Der Araber zuckte einen Moment. Dann brach er auf dem Gehweg zusammen.
Lisa entriss dem Killer die schallgedämpfte Pistole.
»Ist … Ist er tot?«, keuchte Kampel.
Die Kommissarin beugte sich zu dem Araber herunter. Der Schuss hatte ihn mitten im Bauch getroffen. Es sah übel aus. »Noch nicht«, schnaufte sie zwischen angestrengten Atemzügen. »Aber das wird nicht mehr lange dauern.«
Lisa tastete seine Jacke ab. Nach einigen Augenblicken fand sie, was sie suchte.
»Ihr Handy«, sagte sie und reichte Kampel das Gerät. Er nahm es mit zitternden Händen entgegen.
Die Polizistin erhob sich und lief zu ihrem Smartphone, dessen Klingelton noch immer über den Friedhof schallte. Als sie das Gerät abschaltete, wurde es mit einem Mal gespenstisch still.
»Was machen wir mit ihm?«, fragte Kampel. Er hatte sich erhoben und blickte auf den Araber herunter, der sich inzwischen nicht mehr rührte.
»Wir lassen ihn hier liegen«, sagte Lisa. »In ein paar Minuten wird die Polizei eintreffen und sich um ihn kümmern. Wenn es so weit ist, werden wir den Behörden erklären, was hier passiert ist. Aber zuerst müssen wir beenden, weswegen wir gekommen sind. Wir müssen den Mann hinter der Fitna schnappen.« Sie deutete auf Kampels Handy in seiner Hand. »Rufen Sie die Nummer an, die wir an dem Grab zusammengesetzt haben. Ich wette, sie führt uns direkt zu dem Mann, den wir suchen.«
Kampel starrte fast ehrfürchtig auf das Handy in seiner Hand. Er hatte schon lange gehofft, endlich den Mann zu finden, der aus seinem Sohn einen Dschihadisten gemacht hatte, aber er hatte nie geglaubt, es wirklich zu schaffen. Und nun war der Moment gekommen …
Mit zitternden Händen tippte Kampel die Nummer ins Handy, die sie mithilfe des letzten Gedichts und den Zahlen am Märtyrergrab zusammengesetzt hatten.
Er atmete noch einmal tief durch. Dann drückte er auf die Wählen-Taste.
Kapitel 54
Der Murrabi lächelte zufrieden, als das Publikum auf dem Bildschirm applaudierte. Er sah sich seinen Talkshow-Auftritt nun schon zum dritten Mal an und war noch immer begeistert.
Er spulte gerade eine besonders schöne Szene zurück, als das Handy auf dem Beistelltisch neben ihm klingelte. Vor Schreck ließ er die Fernbedienung fallen.
Bei dem klingelnden Handy handelte es sich nicht um sein gewöhnliches Telefon. Er hatte dieses Gerät nur für einen einzigen Anruf angeschafft. Für seinen neuesten Mudschahid.
Das Telefon auf dem Beistelltisch vibrierte aufgeregt, so als hätte sich die Aufregung, die der Murrabi empfand, auf das Gerät übertragen. Er zwang sich selbst zur Ruhe. Er hob die Fernbedienung vom Boden auf und stellte den Ton am Fernseher stumm. Dann nahm er das Gespräch entgegen.
»As-salāmu ʿalaikum«, begrüßte der Murrabi den Anrufer. Für gewöhnlich begann er Anrufe von unbekannten Nummern nicht mit diesem Gruß, denn er wollte nicht versehentlich einen Ungläubigen grüßen. Der Prophet – Gott bewahre ihn in Ehren – hatte in den Hadithen festgelegt, dass Muslime die Juden und Christen nicht zuerst begrüßen sollten.[189] Der Murrabi war sich jedoch sicher, dass es sich bei dem Anrufer um einen Muslim handeln musste. Wie sonst sollte er an diese Nummer gelangt sein? Nur ein Muslim könnte die Prüfungen lösen, die zu dieser Nummer führten.
»Wa-ʿalaikum us-salām«, antwortete der Anrufer. Und auf euch der Frieden.
Der Murrabi lächelte. Die arabische Aussprache des Anrufers war tadellos. Der junge Mann klang schon jetzt äußerst vielversprechend. Doch bevor der Murrabi ihn auf den Weg Gottes führen würde, musste er sichergehen, ob es seinem neuesten Mudschahid wirklich ernst war.
Der Murrabi stellte eine einzige Frage, die er sich schon lange vorher zurechtgelegt hatte. Die Antwort auf diese Frage würde alles entscheiden. »Wie viele Säulen des Islam gibt es?«
Der Anrufer am anderen Ende der Leitung schwieg eine Weile.
Die Aufregung des Murrabi stieg. Wenn er die richtige Antwort hören würde, würde er einen neuen Mudschahid in seinen Reihen begrüßen können. Wäre die Antwort falsch, würde er das Telefon und alle Spuren der Fitna sofort vernichten.
Schließlich antwortete der Anrufer mit ruhiger Stimme: »Sechs. Es gibt sechs Säulen des Islam.«
Der Murrabi atmete zutiefst erleichtert aus. Unwillkürlich lachte er. »Deine Antwort ist wunderbar«, sagte er. »Du hast die Fitna wahrlich bestanden. Komm sofort in die Dār-as-Salām-Moschee. Ich werde dort auf dich warten.« Der Murrabi verabschiedete sich, bevor er auflegte: »Maʿ al-salāmah.« Mit Friede.
Er legte das Handy zurück auf den Tisch und atmete tief durch. Er dankte Gott dafür, dass er ihm einen neuen Krieger geschenkt hatte. Und dieser Schüler klang höchst interessant. Sein Arabisch war ebenso tadellos gewesen wie sein Deutsch. Der Murrabi würde diesen Mudschahid für wahrlich Großes einsetzen können.
Er steckte das Handy in seine Tasche und schaltete den Fernseher aus. Von einem Regal nahm er die Schlüssel zur Dār-as-Salām-Moschee, die er sich von einem befreundeten Imam hatte geben lassen. Jener Imam hatte dafür gesorgt, dass die Moschee »wegen Bauarbeiten« abgesperrt wurde, sodass der Murrabi darin in Ruhe seinen neuen Schüler begrüßen konnte. Beim Gedanken an die Dār-as-Salām-Moschee lächelte der Murrabi. So sehr er seine eigene kleine Moschee auch liebte, wollte er seinen neuen Schüler doch in einem gewissen Ambiente begrüßen, das ihm nur die Dār-as-Salām-Moschee bieten konnte. Die Moschee hatte eine ganz besondere Symbolkraft, die er seinem neuen Schüler mit Freuden nahebringen würde.
Der Murrabi nahm seine Jacke vom Haken, kontrollierte noch einmal, ob er alles dabeihatte, und trat dann aus seiner Wohnung. Die Dār-as-Salām-Moschee war nur wenige Laufminuten von ihm entfernt. Schon bald begegne ich meinem neuen Schüler, dachte er zufrieden.
Bebend vor Aufregung schloss er die Tür hinter sich und machte sich auf den Weg.
Kapitel 55
Kampel vergrub die Hände tiefer in seiner Jacke und schaute sich nervös um. Gemeinsam mit Lisa folgte er einem kaum beleuchteten Waldweg durch den Volkspark Hasenheide, der gegenüber der Şehitlik-Moschee begann. Der Park war Kampel etwas unheimlich, denn nachts war er rege von Drogendealern bevölkert. Dafür bot ihnen der dichte Wald jedoch einen idealen Sichtschutz vor der Polizei. Als Kampel seinen Anruf mit dem Mann hinter der Fitna beendet hatte, hatten sie aus der Ferne eine Sirene gehört. Sie hatten die Leiche des Arabers auf dem Friedhof liegen gelassen und waren sofort in den Volkspark geflüchtet, denn sie durften der Polizei nicht in die Arme laufen. Kampel wusste, dass Kommissarin Albers recht hatte: Sie mussten ihre Aufgabe alleine zu Ende bringen. Sie mussten den Mann hinter der Fitna ohne Unterstützung durch die Polizei stellen.
Kampel schauderte, als er an die Stimme am Telefon zurückdachte. Der Mann hatte überraschend freundlich geklungen und perfektes Deutsch gesprochen. War er wirklich der Mann, der Dominik in den Dschihad geführt hatte? Kampel würde es bald herausfinden.
Im Gehen dachte Lisa laut über das Telefongespräch nach, das sie mitgehört hatte: »Warum haben Sie dem Mann am Telefon gesagt, dass es sechs Säulen des Islam geben würde? Ich dachte, es gibt bloß fünf.«
»Die meisten Muslime gehen tatsächlich von fünf Säulen des Islam aus«, antwortete Kampel. »Wie ich Ihnen erklärte, stellen diese fünf Säulen die Pflichten dar, die jeder Muslim erfüllen muss: Ein Muslim muss das islamische Glaubensbekenntnis ablegen, fünfmal täglich beten, einen Teil seines Vermögens spenden, während des heiligen Monats Ramadan fasten und einmal in seinem Leben nach Mekka pilgern.«
Lisa nickte. »Jedes Fitna-Gedicht hat sich mit einer dieser fünf Säulen beschäftigt.«
»Einige islamische Gelehrte vertreten jedoch die These, dass es noch eine sechste Säule des Islam gibt: den Dschihad. Der Koran und die Hadithe verkünden an verschiedenen Stellen, dass der Heilige Krieg eine noch höhere Pflicht darstellt als das tägliche Gebet – und das ist eine der fünf Säulen des Islam.[190] Manche Gelehrte argumentieren deshalb, dass der Dschihad ebenfalls eine Säule sein müsse.« Kampel machte eine Pause. »Als mich der Autor der Fitna am Telefon nach den Säulen fragte, wollte er mich testen. Er wollte herausfinden, wie ernst es mir mit dem Dschihad ist. Er wollte, dass sich sein neuer Rekrut zum Heiligen Krieg als einer eigenen Säule des Islam bekennt.«
Lisa ließ sich Kampels Worte durch den Kopf gehen. »Deshalb waren die Gedichte Sechszeiler«, murmelte sie erstaunt vor sich hin.
Kampel konnte ihr nicht folgen. »Was meinen Sie?«
»Die Fitna-Gedichte waren allesamt bewusst in einer bestimmten Form geschrieben: Wir haben fünf Gedichte bekommen – für die fünf Säulen des Islam, die es nach allgemeiner Auffassung gibt. Die Gedichte waren Septenare mit jeweils sieben Versfüßen – für die heilige Zahl Sieben im Islam. Die einzelnen Septenare bestanden wiederum aus Jamben, also aus abwechselnd unbetonten und betonten Silben. Das verdeutlichte die starken Gegensätze im Islam, oder auch den ›Dualismus‹, wie Sie sich ausdrücken.« Lisas Stimme wurde aufgeregt. »Das einzige, was mir an den Gedichten formal unlogisch erschien, war die Anzahl der Verse. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum die Gedichte nicht aus fünf oder sieben Zeilen bestanden. Das wäre ein für den Islam sinnvolles Symbol gewesen. Jetzt weiß ich, dass die Gedichte absichtlich sechs Zeilen hatten. Ich wette, der Autor der Fitna wollte damit seine Auffassung verdeutlichen, dass es sechs Säulen des Islam gibt und nicht bloß fünf.«
Kampel hatte Lisas Erklärungen verblüfft zugehört. Er war wieder einmal fasziniert von der komplexen Symbolik, die der Mann hinter der Fitna benutzte. Wer auch immer er war, er wusste genau, was er tat.
Kampel und Lisa gingen eine Weile schweigend weiter. Nach ein paar Minuten sahen sie am Ende des dunklen Waldwegs eine von Laternen matt ausgeleuchtete Straße. Dort endete der Park.
Lisa hielt Kampel davon ab, weiterzugehen. »Warten Sie«, sagte sie leise. »Es gibt noch etwas, das ich mit Ihnen besprechen möchte.«
Kampel merkte, dass etwas auf ihrer Seele lastete. »Was ist?«
Die Kommissarin holte tief Luft. Sie suchte nach den richtigen Worten. »Was wollen Sie tun, wenn wir den Mann hinter der Fitna finden?«
Kampel stockte. Er hatte sich diese Frage schon häufig selbst gestellt. Was würde er tun, wenn er dem Mann begegnen würde, der aus Dominik einen Dschihadisten gemacht hatte? Bisher war diese Frage stets ein reines Gedankenexperiment gewesen. Doch in wenigen Minuten würde er eine ernsthafte Antwort auf diese Frage finden müssen.
Er zögerte. »Ich weiß nicht …«
»Hören Sie zu«, sagte Lisa eindringlich. »Wie Sie wissen, bin ich von diesem Fall abgezogen worden. Ich habe auf eigene Faust ermittelt und den Rekruten, der die Fitna ursprünglich bekommen sollte, aus Notwehr getötet, als ich ihm den Anhänger abnahm. Damit habe ich gegen alle Berufsregeln verstoßen. Wenn ich meine Karriere noch retten will, muss ich den Mann hinter der Fitna an die Behörden ausliefern. Er wird uns Informationen darüber liefern können, wie der Islamische Staat in Deutschland organisiert ist.« Lisas Stimme wurde bitter. »Aber vorher wird der Kerl wahrscheinlich jahrelang vor Gericht stehen. Wir bieten ihm damit die ideale Bühne, auf der er der ganzen Welt den Krieg gegen die Ungläubigen predigen kann. Und wenn er dann ins Gefängnis kommt, wird er vermutlich irgendwann wegen guter Führung frühzeitig entlassen. Dann wird er sein Leben genauso weiterleben wie bisher.« Sie atmete tief durch. »Das ist der offizielle Ablauf. Wenn ich ehrlich bin, finde ich das nicht fair.«
Lisa blickte Kampel fest in die Augen. »Ich kenne Sie erst seit einigen Stunden, aber mir ist schon in dieser kurzen Zeit klar geworden, dass der Autor der Fitna Ihr ganzes Leben zerstört hat. Er hat Ihren Sohn dazu ermutigt, in den Heiligen Krieg nach Syrien zu gehen. Ihre Frau hat sich danach umgebracht. Sie haben wegen diesem Mann alles verloren, Herr Kampel.« Die Kommissarin atmete noch einmal tief durch. »Deshalb finde ich, Sie sollten entscheiden was mit dem Kerl passiert …«
Lisa öffnete ihre Jacke und holte ihre Dienstwaffe hervor. Sie hielt die Pistole Kampel hin. »Nehmen Sie die«, sagte sie. »Sie entscheiden, ob wir den Autor der Fitna vor ein Gericht stellen und einsperren, oder ob wir es ein für alle Mal beenden.« Sie machte eine kurze Pause. »Wenn Sie ihn töten wollen, dann tun Sie’s. Ich werde der Polizei dann berichten, dass ich ihn aus Notwehr erschossen hätte. Ich habe bereits einen Dschihadisten auf dem Gewissen. Auf einen mehr oder weniger kommt es nicht mehr an.« Sie schwieg. »Aber ich will, dass Sie entscheiden können, was passiert.«
Kampel war sprachlos. Er starrte auf die Pistole in Lisas Händen. Mit diesem Stück Metall würde er alles beenden können … Vielleicht würde ihn das endlich von seinen schrecklichen Albträumen erlösen …
»Nehmen Sie die Waffe«, flüsterte Lisa ruhig. »Es ist Ihre Entscheidung.«
Kampels Blick wanderte zu Lisas hellblauen Augen. Sie waren voller Mitgefühl. Er holte tief Luft. Er kannte diese Frau erst seit wenigen Stunden, aber nach ihren gemeinsamen Erlebnissen hatte er das Gefühl, sie schon seit Jahren zu kennen. Es berührte ihn zutiefst, dass sie ihm die Entscheidung überlassen wollte, was passieren würde. Ob der Mann hinter der Fitna leben oder sterben würde …
Mit zitterenden Händen nahm Kampel die Pistole entgegen und steckte sie in seine Jacke. Vielleicht würde er sie tatsächlich benutzen. Vielleicht auch nicht. Es war nun seine Entscheidung, genau wie die Kommissarin gesagt hatte.
»Danke«, flüsterte er.
Lisa nickte ernst.
Den Rest des Weges legten sie andächtig schweigend zurück. Nach einigen Metern traten sie aus dem dunklen Wald heraus auf eine graue Straße, wie sie zuhauf in Berlin zu finden waren.
Kampel atmete durch. Sie befanden sich nun in Berlin-Neukölln, dem islamischsten Stadtteil Berlins. Im Jahr 2016 hatten hier mehr als 8 Prozent aller Einwohner einen Migrationshintergrund aus einem islamischen Land.[191] Ethnische Deutsche waren im Norden Neuköllns bereits in der Minderheit, dort hatten 53 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund, bei den Minderjährigen waren es sogar 80 Prozent.[192]
Hier würde Kampel dem Mann begegnen, der seinen Sohn in den Heiligen Krieg geschickt hatte. Hier würde ihre Reise zu Ende gehen. Noch einmal tastete er nach der Waffe in seiner Jacke. Er dachte an Lisas Worte: »Es ist Ihre Entscheidung.«
Nachdem sie ein paar Minuten durch die grauen Straßen Neuköllns gegangen waren, erreichten sie ihr Ziel.
Die Dār-as-Salām-Moschee war ein äußerst schlichtes Gebäude aus hellbraunen Ziegelsteinen und mit einem Spitzdach. Damit sah das Bauwerk von außen überhaupt nicht nach einer Moschee aus. Nur das große, grüne Logo mit dem weißen Schriftzug über dem Eingang verriet den Zweck des Gebäudes: »Moschee & Kulturzentrum.« Vor dem Grundstück der Moschee stand ein grün gestrichenes Tor, das an den Bürgersteig grenzte.
Ein grünes Logo und ein grünes Tor, dachte Kampel. Die Farbe des Islam.
Neben dem Tor stand ein Schild: »Wegen Bauarbeiten vorübergehend geschlossen.« Kampel legte eine Hand an die Klinke des Tores und drückte nach unten. Es schwang leise auf. Offenbar werden wir erwartet.
Kampel blickte zu Lisa. Sie nickte aufmunternd.
Sie gingen durch das Tor auf die Tür der Moschee zu.
Kampel tastete ein letztes Mal nach der Waffe in seiner Jacke. Hier würde es enden.
Kapitel 56
Wie bei den meisten Moscheen bestand das Innere der Dār-as-Salām-Moschee aus einem einzigen großen, fast völlig leeren Raum. Über den gesamten Boden erstreckte sich ein cremefarbener Teppich mit auffälligem Muster. In den Teppich waren nebeneinander breite, weinrote Pfeile eingelassen, die ein wenig an die spitz zulaufenden Fenster einer Kirche erinnerten. Die weinroten Pfeile waren nicht exakt zur Rückwand der Moschee ausgerichtet, sondern zeigten deutlich schräg nach links. Dieser Effekt war beabsichtigt, denn die Felder zeigten nach Mekka und wiesen den Muslimen damit die Gebetsrichtung.
An der Decke hing ein imposanter goldener Kronleuchter aus unzähligen kleinen Glaskristallen. Mehrere Meter über dem Boden verlief um den ganzen Raum herum eine Art Tribüne, die mit arabischen Schriftzeichen versehen war: die sogenannte Frauenempore. In der Regel beteten die Männer unten auf dem Teppichboden und die Frauen oben auf der Empore. Fast alle Moscheen in Deutschland verfügten über derartig getrennte Bereiche für Männer und Frauen.
Am Ende des Raumes stand das Minbar – die Kanzel der Moschee. Das Minbar war eine Art Hochstand aus hellem Holz, der über eine kleine Wendeltreppe an der Seite bestiegen werden konnte. Beim Freitagsgebet hielt der Imam seine Predigt auf der Kanzel. Unmittelbar unter der Kanzel befand sich eine breite Lücke im Holz, in der ein grünes Licht leuchtete. Es handelte sich dabei um die Gebetsnische, den Mihrāb. Genau wie die Kanzel und das Muster im Teppichboden war der Mihrāb im Raum schräg nach links ausgerichtet und zeigte den Muslimen damit die Gebetsrichtung nach Mekka an.
Am Ende des großen Gebetsraums, vor dem Minbar, kniete ein korpulenter Mann in muslimischer Gebetsstellung auf dem Teppich. Er hatte die Stirn auf den Boden gelegt und seine Hände neben seinem Kopf platziert. Seine Knie und Füße berührten ebenfalls den Boden. Der Mann trug eine Jeans und einen Rollkragenpullover, am Hals schaute der Kragen eines darunter getragenen Hemdes hervor.
Kampel fühlte sich von der Kleidung des Mannes an einen Schullehrer erinnert. War dieser Mann tatsächlich der Kopf einer islamischen Terrororganisation? Hatte er Dominik in den Heiligen Krieg geführt?
Kampel und Lisa gingen langsam auf den korpulenten Mann zu. Ihre Schritte wurden auf dem Gebetsteppich gedämpft. Der Mann drehte sich nicht um. Als sie nur noch ein paar Meter von ihm entfernt waren, blieben sie stehen.
Kampel richtete die Pistole in seiner Hand auf den Hinterkopf des Mannes. Seine Hände zitterten. Ihm war eiskalt. Sein Griff festigte sich ein wenig, als Kommissarin Albers ihm aufmunternd zunickte.
»Polizei!«, rief Lisa durch die Moschee. »Heben Sie die Hände hoch und stehen Sie langsam auf! Drehen Sie sich nicht um! Wir haben eine Waffe auf Sie gerichtet.«
Der Mann auf dem Teppich fuhr bei diesen Worten überrascht zusammen. Er hielt einen Moment inne. Wie Lisa ihm befohlen hatte, hob er seine Hände und richtete sich langsam auf, ohne sich umzudrehen.
Die Kommissarin trat an den Mann heran und tastete ihn ab. Kampel umklammerte die Pistole in seinen Händen. Er war bereit, sofort zu schießen, falls der Kerl Albers angreifen sollte. Doch der Mann ließ die Prozedur wortlos über sich ergehen.
Nachdem Lisa ihn abgetastet hatte und keine Waffen bei ihm fand, trat sie wieder neben Kampel. »Hände runternehmen!«, befahl sie dem Mann. »Und jetzt umdrehen!«
Der Mann drehte sich langsam um. Er hatte ein kugelrundes Gesicht, eine dicke Nase und einen gepflegten, schwarzen Bart. Seine Mimik verriet keine Regung. Er wirkte völlig gelassen.
Kampel schnappte überrascht nach Luft. »Ich kenne Sie!«, stieß er hervor. »Sie sind dieser Lehrer, der durch die Talkshows zieht. Sie nennen sich selbst Murrabi, richtig?«
Der Mann nickte. »Mein Name ist Mohammed al-Wadi. Aber Sie können mich gerne Murrabi nennen, wenn Ihnen das lieber ist.« Gelassen fragte er: »Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
Lisa antwortete: »Ich bin Kommissarin Lisa Albers. Ich arbeite beim Bundeskriminalamt in der Abteilung für politisch motivierte Kriminalität.« Sie zeigte auf Kampel. »Und das ist Paul Kampel, ein Religionswissenschaftler. Er hat mir dabei geholfen, Ihrer Fitna zu folgen.«
Bei diesen Worten weiteten sich die Augen des Murrabi für einen winzigen Augenblick, doch er fing sich schnell wieder. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte er kühl.
»Machen Sie uns nichts vor!«, sagte Kampel über die Waffe hinweg. »Wir haben Sie vor wenigen Minuten angerufen, nachdem wir das letzte Gedicht Ihrer Fitna gelöst haben. Sie haben uns persönlich hierherbestellt.«
Lisa zog ihr Handy hervor und wählte die Telefonnummer des Murrabi. Augenblicklich klingelte der Apparat in der Hosentasche des Mannes.
Dem Murrabi entglitten die Gesichtszüge und seine zur Schau gestellte Gelassenheit fiel von ihm ab. Nun stierte er Kampel und Lisa unverhohlen feindselig an. »Diese Fitna war nicht für Sie bestimmt!«, brüllte er. »Sie haben sie gestohlen!«
Lisa nickte. »Ich habe sie Ihrem Anwärter abgenommen.«
»Sie …! Sie …!« Der Murrabi zitterte einen Moment lang vor Wut. Dann zwang er sich selbst zur Ruhe. Er schloss die Augen und atmete tief ein.
Als er die Augen wieder aufschlug, blickte er Kampel fest an. Seine Stimme war nun leise und ruhig. »Sie haben also meine Fitna gelöst, Herr Kampel. Das haben Sie wirklich gut gemacht …« Ein grausames Lächeln umspielte seine Lippen. »Oh ja, ich kenne Sie, Herr Kampel. Oder sagen wir es so, ich kannte Ihren Sohn. Dominik hat meine Rätsel ebenfalls in Rekordzeit gelöst …«
Kampel fing an zu zittern. Er war es wirklich. Dieser Mann hatte Dominik in den Dschihad geführt.
Der Murrabi fuhr fort: »Dominik wusste mehr über den Islam als Sie, Herr Kampel. Anders als Sie, der sich selbst als Religionswissenschaftler bezeichnet, hat Dominik die Worte Gottes wirklich in sein Herz gelassen.« Der Murrabi seufzte gespielt. »Zu schade, was mit ihm passiert ist. Er war mein vielversprechendster Schüler.«
Kampels Griff um die Waffe wurde fester. »Wagen Sie es nicht, Dominiks Namen auszusprechen!«, schrie er. »Sie kannten ihn nicht!«
»Oh doch! Ich kannte ihn sogar sehr gut. Wahrscheinlich besser, als Sie es jemals taten. Dominik hat mir oft erzählt, was für ein schrecklicher Vater Sie ihm waren. Wie wenig Sie ihn und seine Mutter beachteten.«
»Seien Sie still!«, rief Kampel.
»Dominik und ich waren nicht nur Glaubensbrüder«, zischte der Murrabi. »Ich war sein Lehrer. Ich war ihm der Vater, den er niemals hatte.«
Kampel trat einen Schritt auf ihn zu. Er zitterte am ganzen Körper. »Noch ein Wort und ich bringe Sie um!«
Der Murrabi wirkte völlig gelassen. Sein grausamer Blick bohrte sich in Kampels Augen. »Dominik war mein bester Schüler. Was für eine Schande, dass Sie ihn an der Erfüllung seiner letzten Prüfung gehindert haben.«
Lisa mischte sich in das Gespräch. Sie war verwirrt. »Wovon reden Sie da? Dominik Kampel hat genau das getan, was Sie von ihm verlangt haben! Er hat das Land verlassen und sich dem Islamischen Staat in Syrien angeschlossen.«
In das Gesicht des Murrabi trat ein überraschter Blick. Dann lachte er. »Ich soll Dominik nach Syrien geschickt haben? Meinen besten Schüler?« Er prustete. »Jeder dahergelaufene Mudschahid kann in den Nahen Osten fliegen und sich einer Terrorgruppe im Kampf gegen die Ungläubigen anschließen. Verstehen Sie mich nicht falsch, das ist sehr ehrenhaft. Aber für Dominik hatte ich weit Größeres im Sinn …« Die Augen des Murrabi funkelten. »Dominik war ein deutscher Konvertit. Ein Ungläubiger, der gläubig wurde. Ein Stück Kohle, das zu einem Diamanten geschliffen wurde. Er war ein Mudschahid von solcher Überzeugung und Klugheit, wie ich ihn selten antreffe.« Der Murrabi blickte andächtig in die Ferne. »Ich hatte Großes mit Dominik Kampel vor. Aber zuerst wollte ich ihn noch ein letztes Mal testen. Er sollte eine letzte Prüfung ablegen, um mir seinen Glauben zu beweisen.« Die Augen des Murrabi leuchteten. »Er sollte ein Exempel statuieren …«
Kampels Gesicht war inzwischen rot vor Zorn geworden. Er trat noch einen Schritt näher an den Murrabi heran und richtete die Waffe genau auf seinen Kopf. »Halten Sie den Mund!«, schrie er, außer sich vor Wut. »Noch ein Wort und ich bringe Sie um!«
Lisa trat zwischen die beiden und hielt Kampel mit erhobener Hand zurück. Sie wandte sich an den Murrabi. »Wovon sprechen Sie? Was sollte Dominik für Sie machen?«
Der Murrabi blickte über den Lauf der Pistole in Kampels Augen. »Soll ich es ihr erzählen, Herr Kampel?«, fragte er gehässig. »Oder wollen Sie es nicht lieber selbst tun?«
Eine Träne der Wut lief über Kampels Wange. »Sie mieses Schwein!«, schluchzte er.
»Warten Sie, Herr Kampel!«, mahnte Lisa mit sanfter Stimme. »Beruhigen Sie sich! Bevor Sie irgendetwas Falsches tun, muss ich unbedingt wissen, was mit Ihrem Sohn passiert ist. Wenn er nicht nach Syrien ging, wohin dann?«
Kampel zitterte inzwischen am ganzen Körper so stark, als wäre ein Erdbeben zu Gange. Seine Augen waren voll mit Tränen. Sein Blick wanderte zwischen den bösartig funkelnden Augen des Murrabi und Lisa Albers’ gütigen blauen Augen hin und her.
»Dieses Schwein hat recht«, sagte er mit Blick auf den Murrabi. »Dominik ist nicht nach Syrien gegangen …« Er stockte. Mit einem Mal bestürmte ihn jene grausame Erinnerung, die ihn Tag und Nacht heimsuchte. Kampel sammelte alle ihm mögliche Kraft, um die schmerzliche Wahrheit laut auszusprechen: »Ich habe Dominik getötet.«
Kapitel 57
Als Kampel von dem Tag erzählte, an dem er Dominik getötet hatte, geriet er in einen tranceartigen Zustand. Die Bilder liefen wie ein Film vor seinem inneren Auge ab. Jede Nacht war er in seinen Träumen dazu verdammt, diese Erinnerung wieder und wieder zu durchleben … Es war vor fast einem Jahr gewesen, an einem kalten Tag im Januar …
Kampel rührte noch einmal in dem Topf mit der pikanten Soße und fuhr die Hitze der Herdplatten ein wenig herunter. Zufrieden beobachtete er, wie das Fleisch in der Pfanne brutzelte.
Bei dem Gedanken daran, dass Dominik jeden Moment zu Besuch kommen würde, wäre Kampel am liebsten vor Freude aufgesprungen. Seit ihrem Streit auf dem Potsdamer Platz vor ein paar Wochen hatte er nichts mehr von Dominik gesehen oder gehört. Dominik hatte Kampels Nachrichten und Anrufe allesamt ignoriert und sich völlig von ihm abgekapselt. Kampel hatte bereits gedacht, dass er seinen Sohn für immer verloren hätte, doch gestern hatte er überraschend angerufen und vorgeschlagen, zum Abendessen vorbeizukommen. Kampel war außer sich vor Glück. Dominik will sich mit mir versöhnen. Er wird erwachsen.
Noch einmal kontrollierte Kampel die brutzelnden und blubbernden Töpfe und Pfannen auf dem Herd. Heute würde es Couscous mit Kalbsfleisch geben – ein Gericht, das in zahlreichen islamischen Ländern serviert wurde. Kampel hatte lange recherchiert, bis er ein wirklich authentisches Rezept entdeckt hatte. Er wollte Dominik heute auf keinen Fall mit Dingen reizen, die er als »unislamisch« empfinden könnte. Kampel wollte sich bei ihm noch einmal dafür entschuldigen, dass er seine religiösen Gefühle verletzt hatte und ihren dummen Streit vergessen.
Kampel musste an einen Satz denken, den sein eigener Vater ihm immer wieder gesagt hatte: »Du hältst es mit deinem Glauben und ich mit meinem.« Kampels Vater war ein äußerst frommer Katholik gewesen, aber er hatte seinem Sohn nie einen Vorwurf daraus gemacht, dass er nicht den gleichen Zugang zum Christentum gefunden hatte und sich für die Religion nur aus rein wissenschaftlicher Perspektive interessierte. So wollte Kampel es auch mit Dominik halten. So befremdlich es ihm als Religionswissenschaftler auch schien, dass sein eigener Sohn ein Muslim war: Dominik sollte glauben, woran immer er wollte, solange er damit glücklich war. Kampel würde ihn trotzdem immer lieben. Das hatte er ihm viel zu selten gesagt und das wollte er heute nachholen.
Kampel gab gerade die Soße in die Pfanne mit dem Kalbsfleisch, als er hörte, wie sich die Haustür öffnete. Dominik hatte noch immer den Schlüssel zu seinem Elternhaus.
»Du bist etwas früh dran, Dominik«, rief Kampel fröhlich über die Schulter in den Flur. »Ich koche noch unser Abendessen. Aber du kannst mir gerne helfen.«
Kampel hörte, wie Dominik die Tür schloss und in Richtung Küche kam. Kampel nahm unterdessen die Pfanne mit dem Fleisch und der Soße vom Herd und trug sie zu dem Esstisch am anderen Ende der Wohnküche. Seinen Blick hatte er ganz auf die Pfanne gerichtet, um nichts zu verschütten.
»Es gibt heute Couscous mit Kalbsfleisch, nach einem original orientalischen Rezept«, verkündete Kampel. »Das Fleisch ist schon fertig. Nur der Couscous braucht noch ein wenig, bis …«
Kampel stockte, als sein Blick von der Pfanne in Richtung Flur wanderte. Als er Dominik sah, ließ er die Pfanne in seiner Hand vor Schock fallen. Das Eisen schlug donnernd auf dem Boden auf. Das Essen spritzte in alle Richtungen.
Dominik trug heute keinen Thawb, wie bei ihrer letzten Begegnung, sondern eine simple Jeans und eine dicke Winterjacke. Seine Kleidung war jedoch nicht der Grund für Kampels Schock. Dominiks Hände umklammerten eine Pistole, die er genau auf Kampels Kopf richtete. Er starrte Kampel mit wütendem, aber wild entschlossenem Blick an.
»Um Gottes willen!«, stieß Kampel entsetzt hervor. »Was soll das, Dominik?«
»Um Gottes willen«, erwiderte Dominik kalt. »Du hast es erfasst. Du spuckst auf den Islam in aller Öffentlichkeit und behauptest, der Koran enthalte Lügen und nicht das Wort Gottes! Dafür bekommst du nun deine gerechte Strafe!«
Der Ausdruck in Dominiks Gesicht machte Kampel Angst. Er hatte ihn noch nie so gesehen. Sein Sohn war voller Wut und schien wild entschlossen.
»Dominik, nimm bitte die Waffe runter«, sagte Kampel ruhig. »Wer hat dir das in den Kopf gesetzt?«
»Schon wieder diese Zweifel!«, schrie Dominik. »Niemand hat mir das in den Kopf gesetzt! Es ist Gottes Befehl! Du willst die Leute vom Islam abbringen und dafür musst du sterben!«
Dominik zitierte eine Koranpassage, die er scheinbar auswendig gelernt hatte:
[4:89] Sie [die Ungläubigen] möchten gern, ihr wäret ungläubig, so wie sie selber ungläubig sind, damit ihr alle gleich wäret. Nehmt euch daher niemand von ihnen zu Freunden, solange sie nicht um Gottes willen auswandern! Und wenn sie sich abwenden und eurer Aufforderung zum Glauben kein Gehör schenken, dann greift sie und tötet sie, wo immer ihr sie findet, und nehmt euch niemand von ihnen zum Freund oder Helfer!
Kampel versuchte noch einmal zu seinem Sohn durchzudringen. »Ich flehe dich an, Dominik, bitte nimm die Waffe runter. Ich weiß, dass du mich für einen schlechten Vater hältst. Und das war ich wahrscheinlich auch. Aber ich will nicht, dass du dir das ganze Leben verbaust, indem du etwas Unbedachtes machst. Bitte lass uns einfach reden.«
»Mir das Leben verbauen!«, höhnte Dominik. »Ich folge dem Weg Gottes! Was immer mir in diesem Leben passiert, ich werde im Nächsten reich belohnt werden.«
Wieder zitierte er eine Koranpassage:
[3:169] Und du darfst ja nicht meinen, dass diejenigen, die um Gottes willen getötet worden sind, wirklich tot sind. Nein, sie sind lebendig im Jenseits, und ihnen wird bei ihrem Herrn himmlische Speise beschert.
Kampel war entsetzt, als er Dominik so hörte. Er wirkte völlig besessen.
In Kampels Kopf ratterte es. Er musste seinen Sohn irgendwie dazu bringen, diese verdammte Pistole niederzulegen. Wenn er ihn schon nicht mit dem gemeinen Menschenverstand überzeugen konnte, dann vielleicht mit dem Wort Gottes.
Kampel trat vorsichtig einen Schritt in Dominiks Richtung. »Denk nach«, sagte er ruhig. »Du weißt genau so gut wie ich, dass der Koran dazu aufruft, seine Eltern gütig zu behandeln.« Kampel zitierte einen Koranvers, den er sich vorher zurechtgelegt hatte, um mit Dominik über ihre unterschiedlichen religiösen Ansichten zu diskutieren:
[2:83] […] Ihr sollt nur dem alleinigen Gott dienen. Und zu den Eltern sollt ihr gut sein, und ebenso zu den Verwandten, den Waisen und den Armen. […]
Kampel merkte, wie für einen kurzen Moment ein leiser Zweifel in Dominiks Augen trat. Er schien innerlich zu schwanken. Doch dann schrie er Kampel an: »Wage es nicht, die Worte Gottes gegen mich zu verwenden! Du Heuchler! Du glaubst doch gar nicht daran!«
Kampel ging einen weiteren vorsichtigen Schritt auf Dominik zu. Er versuchte, sich nicht von der auf ihn gerichteten Pistole hypnotisieren zu lassen, sondern blickte Dominik fest in die Augen. »Dem Koran zufolge müssen Muslime sogar ihre ungläubigen Eltern gut behandeln«, sagte er leise. Wieder zitierte er einen Koranvers:
[31:15] Wenn sie [deine Eltern] dich aber bedrängen, du sollest mir in meiner Göttlichkeit etwas beigesellen, wovon du kein Wissen hast, dann gehorche ihnen nicht! Und verkehre im Diesseits auf freundliche Weise mit ihnen, aber folge dem Weg derer, die sich mir bußfertig zuwenden! […]
Dominik lachte. »Ich kenne diesen Vers. Er stammt aus Sure 31, die noch in Mekka offenbart wurde. Du weißt genau so gut wie ich, dass dieser Vers abrogiert wurde. Das erklärst du sogar selbst in deinen gotteslästerlichen Büchern. Der Vers gilt nicht mehr! Er wurde durch die viel schöneren Verse aus der medinensischen Zeit ersetzt. Die medinensischen Verse verbieten es, sich mit Ungläubigen einzulassen, selbst wenn es sich dabei um die eigene Familie handelt.« Dominik zitierte einen weiteren Vers auswendig:
[9:23] Ihr Gläubigen! Nehmt euch nicht eure Väter und eure Brüder zu Freunden, wenn sie den Unglauben dem Glauben vorziehen! Diejenigen von euch, die sich ihnen anschließen, sind die wahren Frevler.
Kampels Knie wurden schwer. Er merkte, dass er nicht zu Dominik durchdrang. Er war etwa zwei Armlängen vor ihm zum Stehen gekommen. Vielleicht würde er ihm aus dieser Distanz die Waffe abnehmen können.
»Du kannst den Koran wirklich gut zitieren«, sagte Kampel. »Du hast den Islam scheinbar intensiv studiert.«
»Das habe ich!«, spie Dominik. »Ich verstehe den Islam besser, als du es jemals wirst! Weil ich im Gegensatz zu dir daran glaube. Und deshalb werde ich nun dem Weg Gottes folgen …«
In einer blitzschnellen Bewegung schoss Kampel auf Dominik zu und versuchte ihm die Pistole aus der Hand zu schlagen, doch Dominik hielt sie fest umklammert. Er versuchte die Waffe auf Kampel zu richten. Kampel wiederum drückte Dominiks Arme mit beiden Händen von sich weg. Die beiden Männer rangen mit aller Kraft um die Pistole. Es war ein Kampf um Leben und Tod.
Kampel trat mit dem Fuß gegen Dominiks Knöchel, wo er sich vor ein paar Jahren eine Fußballverletzung zugezogen hatte. Dominik fiel nach hinten, doch er ließ die Waffe nicht los, genauso wenig wie Kampel. Beide fielen zu Boden und wälzten sich herum, die Waffe zwischeneinander. Kampel versuchte die Pistole zur Seite zu drücken. Dominik wollte sie hingegen auf seinen Vater richten.
»Hör auf!«, schrie Kampel.
Dominik lag inzwischen auf dem Rücken. Er drückte die Pistole weiter in Kampels Richtung. Trotz der enormen Anstrengung stieß er etwas zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Es war ein Koranvers:
[9:123] Ihr Gläubigen! Kämpft gegen diejenigen von den Ungläubigen, die euch nahe sind! Sie sollen merken, dass ihr hart sein könnt. […]
In Dominiks Augen stand die nackte Überzeugung, als er diese Worte sprach. Es war wie ein glühendes Feuer. Als Kampel in seine Augen sah, wusste er, dass er seinen Sohn bereits verloren hatte. Wer auch immer durch Dominik sprach, es war nicht mehr er selbst.
Ihre Körper bebten vor Kraftanstrengung. Jeder versuchte die Pistole in eine andere Richtung zu drücken.
Plötzlich löste sich ein Schuss.
Kampel schaute schockiert an sich herunter. Doch er fühlte keinen Schmerz.
Sein Blick ging zu Dominik. Blut trat aus seiner Brust. Viel Blut. Die Kugel hatte ihn genau im Herzen getroffen. Er schien einen Schock zu erleiden, denn er fing an, zu zucken. Wenige Augenblicke später war er tot.
Kapitel 58
Die Bilder vor Kampels Augen verschwammen. Langsam kehrte er wieder in die Gegenwart zurück, so als würde er aus einem schrecklichen Albtraum erwachen.
Noch immer war er in der Dār-as-Salām-Moschee und richtete eine Pistole auf den Murrabi.
»Ich habe meinen eigenen Sohn umgebracht«, beendete Kampel schluchzend seine Erzählung. Er schrie den Murrabi an: »Und das alles wegen Ihnen! Sie haben Dominik dazu angestiftet!«
Eine gespenstische Stille war in der Moschee entstanden. Nicht einmal der gehässig blickende Murrabi sagte etwas.
Lisas sanfte Stimme drang zu Kampel wie ein Rettungsring in einem Sturm. »Das ist noch nicht die ganze Geschichte, Herr Kampel. Was haben Sie gemacht, nachdem Dominik gestorben ist?«
Kampel schloss die Augen. Die Bilder kamen wieder zurück. Sein Atem ging plötzlich schneller. »Ich … Eine Weile lang hielt ich Dominik einfach nur in den Armen«, keuchte er. »Ich brauchte lange, um zu begreifen, dass er wirklich tot war. Dann kam die Verzweiflung darüber, wie es weitergehen sollte. Die Polizei würde sicher denken, dass ich Dominik absichtlich umgebracht hätte. Ich konnte mir schon die Schlagzeilen in den Zeitungen vorstellen: ›Islamkritischer Autor bringt seinen eigenen Sohn um, der zum Islam konvertierte.‹«
»Aber es war doch Notwehr«, sagte Lisa. »Das hätte auch die Polizei begriffen. Spätestens dann, wenn sie herausgefunden hätte, dass Dominik die Pistole selbst besorgt und zu Ihnen gebracht hat.«
»Und wenn schon«, sagte Kampel bitter. »Das Gerede wäre trotzdem groß gewesen. Selbst wenn man mich freigesprochen hätte, wäre Dominiks Gesicht durch alle Medien gegangen. Alle Welt hätte sich an ihn als einen Mörder erinnert. Das konnte ich ihm nicht antun. Und schon gar nicht seiner Mutter. Was hätte ich Maria denn sagen sollen? Dass Dominik versucht hat, seinen eigenen Vater umzubringen? Das hätte sie völlig zerstört!« Kampel schüttelte verzweifelt den Kopf. »Und selbst wenn man mich juristisch freigesprochen hätte – moralisch war es tatsächlich meine Schuld. Es ist genau, wie Maria gesagt hatte: Ich war schuld, dass Dominik sich radikalisiert hatte. Ich habe ihn zum Dschihadisten gemacht. Er hat sich für den Islam nur wegen mir interessiert und wurde immer radikaler, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich war ein lausiger Vater.«
Kampel schniefte. Sein Blick wurde glasig. Er versank wieder in seinen Erinnerungen. »Ich entschied mich, Dominiks Tod zu vertuschen«, sagte er leise. »Nur so konnte ich sein Andenken retten und Maria vor der schrecklichen Wahrheit beschützen.«
»Was haben Sie mit der Leiche gemacht?«, flüsterte Lisa.
»Ich habe im Garten hinter meinem Haus ein Loch ausgegraben. Die ganze Nacht habe ich daran gearbeitet. Bei jedem Spatenstich hatte ich Angst, dass jemand mich bemerken würde, oder dass jemand den Schuss im Haus gehört hätte und die Polizei bereits auf dem Weg wäre. Aber ich hatte Glück. Niemand kam. Meine Nachbarn waren an diesem Tag im Urlaub.« Kampel schluchzte. »Als ich das Loch endlich ausgegraben hatte, habe ich Dominiks Leiche hereingelegt. Dann habe ich es wieder zugeschüttet.«
Lisa schnappte erschrocken nach Luft, doch sie unterbrach Kampel nicht. Auch der Murrabi hörte ihm aufmerksam zu.
Kampel war inzwischen völlig in seiner Erzählung gefangen. »Als Nächstes musste ich mir eine Geschichte ausdenken. Niemand sollte erfahren, dass Dominik gestorben war, weil er mich umbringen wollte. Stattdessen sollte alle Welt denken, er sei verschwunden. Natürlich hätte ich einfach behaupten können, dass Dominik ausgerissen wäre oder etwas in der Richtung. Aber das hätte mir niemand geglaubt. Außerdem hätte die Polizei früher oder später unweigerlich von Dominiks Konvertierung und seinem fundamentalistischen Verständnis des Islam erfahren. Das hätte Fragen aufgeworfen.«
Kampel machte eine Pause. »Ich musste mir eine realistische Geschichte ausdenken. Ich habe irgendwo gelesen, dass die besten Lügen möglichst nah an der Wahrheit liegen. Also habe ich mir eine Geschichte ausgedacht, wonach Dominik in den Heiligen Krieg gezogen sei – das stimmte ja auch. Allerdings führte der Weg Gottes Dominik in meiner Geschichte nicht zu mir, sondern nach Syrien, zum Islamischen Staat.
Die meisten europäischen Dschihadisten, die sich dem Islamischen Staat in Syrien anschließen, fliegen in die Türkei und reisen von dort weiter ins Kalifat. Diese Reiseroute wollte ich auch Dominik andichten, also habe ich ein Ticket für den nächsten Flug in die Türkei gebucht. Das Ticket habe ich mit Dominiks Kreditkarte bezahlt, die ich in seinem Portemonnaie fand. Ich benötigte dazu nur die Kreditkartennummer und die dreistellige Prüfziffer auf der Rückseite.«
»Aber das Personal hat Dominik tatsächlich im Flieger und an dem türkischen Flughafen gesehen!«, sagte Lisa verwirrt. »Wie ist das möglich, wenn er tot war?«
»Denken Sie noch einmal nach, was Ihnen das Flughafenpersonal berichtet hat: Sie alle sahen einen schlanken Mann von 1,85 Meter mit dunklen Haaren. Aber das war nicht Dominik. Das war ich.« Kampel lächelte Lisa traurig an. »Sie selbst sagten heute, dass Dominik mir wie aus dem Gesicht geschnitten war. Diesen Satz habe ich im Laufe meines Lebens immer wieder gehört. Ich und Dominik waren leicht zu verwechseln. Noch dazu, weil ich mit meiner Kleidung etwas jünger wirke, als ich tatsächlich bin.
Die Ähnlichkeit zwischen mir und Dominik habe ich mir zunutze gemacht. Ich bin unter Dominiks Namen in die Türkei geflogen. Damit wollte ich die Geschichte von seinem Verschwinden weiter untermauern. Ich konnte es nicht einfach nur dabei belassen, das Ticket zu kaufen. Man musste Dominik auch tatsächlich am Flughafen in der Türkei sehen, damit man mir die Geschichte glauben würde.
Ich habe einfach Dominiks Personalausweis genommen und ihn beim Einchecken am Flughafen vorgezeigt. Es war ein Billigflug und die Stewardess war in Eile, deshalb hat sie das Geburtsdatum auf dem Ausweis nicht kontrolliert und mich nur grob mit dem Foto verglichen. Sie hat mich ohne zu zögern durchgelassen.«
Kampels Blick glitt wieder ins Leere, während er weitersprach. »Ich musste die Geschichte, dass Dominik zum Islamischen Staat gegangen sei, aber noch weiter untermauern. Es reichte nicht, einfach nur in die Türkei zu fliegen, denn dort hätte Dominik genauso gut Urlaub machen können. Jeder sollte wirklich denken, dass er in den Dschihad gezogen wäre. Also habe ich mit Dominiks Handy eine SMS an Maria geschickt: ›Leb wohl, Mama. Möge Allah dich beschützen.‹ Ich habe in der SMS absichtlich das Wort Allah statt Gott verwendet, um die Polizei auf Dominiks Interesse am Islam hinzuweisen. Eigentlich war das unrealistisch, denn die meisten deutschen Muslime sprechen von Gott und nicht von Allah – schließlich bedeutet beides das gleiche und es gibt nach islamischer Auffassung sowieso nur einen Gott.
Von da an sollte Dominik für immer verschwinden. Kein Lebenszeichen sollte mehr von ihm ausgehen. Also habe ich den Akku aus seinem Handy entfernt und das Gerät in einen Mülleimer am Flughafen geworfen. Dann bin ich wieder nach Berlin zurückgeflogen, mit einem Ticket, das auf meinen eigenen Namen ausgestellt war und das ich in bar am Flughafen gekauft hatte.«
Kampel machte eine kurze Pause. »Mein Plan hat wunderbar funktioniert. Maria hatte sich wegen meiner SMS Sorgen um Dominik gemacht und eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgegeben. Die Polizei öffnete Dominiks Wohnung und stieß auf Propagandamaterial von islamischen Terrorgruppen auf seinem Computer. Als ich das entdeckte, war ich zwar erschrocken, aber gleichzeitig auch erleichtert. Es hat meine Geschichte von Dominiks Auszug in den Heiligen Krieg erhärtet. Wie ich sagte: Eine Lüge muss möglichst nah an der Wahrheit liegen …
Der Rest der polizeilichen Ermittlungen verlief ebenfalls ganz nach meinem Plan. Die Polizei untersuchte Dominiks Kreditkartenabrechnungen und fand heraus, dass er einen Flug in die Türkei gebucht hatte. Außerdem wurde das türkische Flughafenpersonal befragt und tatsächlich glaubten alle, sie hätten Dominik gesehen. Zuletzt bestätigten die Roaming-Daten von Dominiks Handy, dass er seine SMS aus der Türkei geschickt hatte. Damit war die Geschichte perfekt: Dominik war nach Syrien in den Dschihad gegangen und seither verschwunden. Ich musste zum Schluss nur noch das Loch in meinem Garten tarnen, in dem ich Dominik vergraben hatte …«
Kampel versank für einen Moment in seinen Gedanken. Schließlich wandte er sich an Lisa. »Kennen Sie die Redewendung sub rosa?«
Die Kommissarin schüttelte mit dem Kopf.
»Sub rosa ist Latein für unter der Rose«, erklärte Kampel. »Die Redewendung sub rosa bedeutet, dass alles, was unter der Rose liegt, ein Geheimnis bleibt. Das war schon zu allen Zeiten so: Im alten Rom wurden in den Speisezimmern Gemälde von Rosen an die Decke gehängt, um den Gästen zu signalisieren, dass das dort Besprochene nicht nach außen dringen sollte. Im Mittelalter mahnte eine einzelne Rose an der Decke von Ratskammern die Anwesenden zur Verschwiegenheit. Und in Kirchen sind an vielen Beichtstühlen Rosen in das Holz geschnitzt, zum Zeichen der Vertraulichkeit der Beichte.«
Eine Träne rann über Kampels Gesicht. »In dem Gewächshaus in meinem Garten pflanze ich wunderschöne Rosen an. Sie dienen mir als Andenken an Dominik. Jeden Abend wenn ich in dem Gewächshaus bin, denke ich an ihn. Doch das eigentliche Geheimnis befindet sich unter den Rosen. Sub rosa …« Kampel schluckte. »Das Gewächshaus steht auf Dominiks Grab. Ich habe es eilig errichtet, als ich aus der Türkei zurückkam, um Dominiks Grab in meinem Garten zu verstecken.«
Lisa schoss ein Bild durch den Kopf. Sie erinnerte sich an das Gewächshaus, dass sie vor wenigen Stunden in Kampels Garten gesehen hatte. Es stand völlig schief, so als hätte es jemand in großer Eile errichtet, ohne zu warten, bis der Zement für das Fundament an allen Stellen ausgehärtet war.
Als Lisa an Kampels Haus dachte, kam ihr ein weiteres Bild ins Gedächtnis: ein schwarzer Fleck in der Mitte der Wohnküche. Sie hatte es für einen Brandfleck gehalten. Lisa schluckte. Sie erkannte, dass sie sich geirrt hatte. Es war kein Brandfleck gewesen, sondern das dürftig reparierte Einschussloch einer Pistole. Genau dort musste Dominik gestorben sein.
Kampel festigte den Griff um die Waffe in seiner Hand. Er trat einen Schritt auf den Murrabi zu. »Jeden Tag, wenn ich in dem Gewächshaus bin, werde ich daran erinnert, dass unter mir mein toter Sohn liegt!«, schrie er wutentbrannt. »Und das alles wegen Ihnen!«
Der Murrabi wirkte trotz der Pistole vor seinem Gesicht völlig gelassen. »Bringen Sie mich nur um«, sagte er. »So wie Sie Ihren eigenen Sohn getötet haben.«
»Halt!«, rief Lisa. »Tun Sie’s nicht!«
Kampel war von ihrem Eingreifen verwirrt. »Warum nicht? Sie haben mir doch die Waffe gegeben! Sie sagten, ich solle selbst entscheiden, was mit ihm passiert. Und ich will, dass er stirbt!«
Lisa stockte. Sie rang nach Worten. Sie blickte zu Boden und seufzte. »Ich sollte Ihnen vermutlich endlich die Wahrheit erzählen, Herr Kampel.«
Kampel wich erschrocken zurück. »Was meinen Sie?«
»Ich sagte Ihnen, dass ich die Schuld auf mich nehmen würde, wenn Sie diesen Mann töten würden. Aber das war eine Lüge. Ich wollte, dass Sie ihn töten, damit Sie für den Mord bestraft werden würden. Aus demselben Grund habe ich den ursprünglichen Empfänger der Fitna getötet und seine Leiche vor Ihrem Haus geparkt. Ich habe ihn nicht aus Notwehr getötet, sondern in voller Absicht, um Ihnen einen Mord anzuhängen. Wenn das hier alles vorbei gewesen wäre, hätte ich alles Ihnen in die Schuhe geschoben, und Sie wären für beide Morde ins Gefängnis gekommen.«
Kampel war entsetzt. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand mit einem Hammer gegen den Kopf geschlagen. Alles drehte sich. Er verstand überhaupt nichts mehr.
»Warum wollten Sie mich so hintergehen?«, schrie er. »War ich für Sie nur ein Werkzeug, um die Fitna zu lösen?«
Lisa schüttelte den Kopf. »Nein, ich wollte Sie aus einem anderen Grund bestrafen.« Ihre hellblauen Augen wurden feucht. Sie zeigte auf den Murrabi. »Ich sagte Ihnen, dass mir dieser Mann ebenfalls einen Menschen genommen hat, den ich sehr geliebt habe. Das ist wahr. Aber Ihnen habe ich daran ebenfalls eine Schuld gegeben, Herr Kampel.«
Eine Träne lief über Lisas Wange. Ihr linkes Auge zuckte. Plötzlich begriff Kampel. Er hatte diese Art zu weinen schon einmal gesehen. Er erkannte die Wahrheit, noch bevor Lisa sie aussprach.
»Ihre Ex-Frau …«, sagte sie. »Dominiks Mutter … Maria … Sie war meine Schwester.«
Kapitel 59
Die Erkenntnis hallte durch Kampels Schädel. »Sie sind Marias Schwester?«, fragte er ungläubig in Lisas Richtung.
Sie nickte. »Dominik war mein Neffe.«
Als Kampel in Lisas blaue Augen schaute, wusste er, dass sie die Wahrheit sagte. Es waren die gleichen blauen Augen, die auch Maria gehabt hatte. Ansonsten sahen sie sich jedoch reichlich unterschiedlich: Maria war zwar ebenfalls blond gewesen, aber ihre Haare gingen eher ins Dunkle und sie war wesentlich größer. Nur die Augen der beiden Schwestern waren die gleichen. Kampel hatte diese Augen an Maria immer geliebt.
Eine Flut von Puzzleteilen spülte durch Kampels Kopf, die er in diese neue Wahrheit einzusetzen versuchte. »Obwohl Sie meine Schwägerin waren, habe ich Sie noch nie gesehen. Maria hat uns nie vorgestellt. Sie hat mir nicht mal ein Foto von Ihnen gezeigt. Sie hat immer so getan, als hätte sie keine Familie mehr.«
Lisa nickte traurig. »Gewissermaßen stimmte das auch. Was meine Schwester angeht, habe ich denselben Fehler wie Sie gemacht, Herr Kampel. Ich war viel zu selten für sie da. Vor vielen Jahren hatten wir einen schrecklichen Streit, nachdem unsere Eltern gestorben waren. Seitdem wollten wir beide nichts mehr miteinander zu tun haben.«
Kampel war noch immer verwirrt. »Was ist mit Ihrem Namen? Sie heißen Lisa. Maria sagte mir immer, ihre Schwester hieße Sophie.«
Lisa lächelte traurig. »Sophie ist mein zweiter Vorname. Maria hat mich schon seit unserer Kindheit immer mit Sophie angeredet, weil sie Lisa schrecklich langweilig fand.«
Ein Bild schoss durch Kampels Kopf. Er erinnerte sich plötzlich, wie die Kommissarin ihm vor wenigen Stunden ihren Dienstausweis gezeigt hatte. Darauf stand: »Kommissarin Lisa S. Albers.« Das S. musste für Sophie gestanden haben.
»Aber was ist mit ihrem Nachnamen?«, fragte Kampel. »Maria hieß mit Mädchennamen Wesig. Also warum heißen Sie Lisa Albers und nicht Lisa Wesig?«
»Ich habe geheiratet und den Nachnamen meines Mannes angenommen. Meines Ex-Mannes, um genau zu sein. Wir haben uns vor einigen Jahren geschieden.« Sie lächelte bitter. »Was unser Eheglück anging, waren Maria und ich uns wohl ziemlich ähnlich. Aber im Gegensatz zu ihr habe ich den Nachnamen meines Ex-Mannes einfach behalten. Mir war mein Mädchenname nicht wichtig.«
Lisas Blick glitt ins Leere. Ihre Gedanken wanderten in die Vergangenheit. »Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, nachdem sich Maria von Ihnen getrennt hatte, Herr Kampel. Sie war völlig aufgelöst und wusste nicht, was sie tun sollte. In Ihrer Not wandte sie sich an mich, obwohl wir seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Sie hatte niemanden sonst, den sie um Hilfe bitten konnte. Also zog sie zu mir. Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber wir versöhnten uns. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich wirklich für sie da …« Lisa seufzte. »Maria ging es schrecklich. Sie wirkte häufig abwesend. Sie war in einer Wolke aus Schmerz gefangen, durch die ich nur selten hindurchkam. Dominiks Verschwinden hat sie völlig zerstört.«
Lisas blaue Augen suchten Kampels Blick. »Immer wieder erzählte mir Maria, was sie Ihnen auch auf der Siegessäule sagte: Sie gab Ihnen die Schuld daran, dass Dominik sich für den Dschihad interessiert hatte.«
Eine Träne lief über Lisas Wange. »Eines Tages kam ich nach Hause und klopfte an das Zimmer meiner Schwester. Sie hat nicht geöffnet. Ich dachte, sie würde schlafen – nachdem Dominik verschwunden war, blieb sie manchmal tagelang im Bett. Irgendwann bin ich dann doch in ihr Zimmer gegangen. Und da lag sie: tot. Sie hatte sich selbst mit einer Überdosis Schlafmittel umgebracht.« Die Kommissarin schluckte schwer. »In dem Moment, als ich die Leiche meiner Schwester fand, ist etwas in mir gestorben. Ich habe mir schreckliche Schuldgefühle gemacht. Vielleicht hätte ich ihren Selbstmord irgendwie verhindern können, wenn ich schon früher für sie dagewesen wäre. Aber das war ich nicht. Ich war nie für sie da.«
Lisas Stimme wurde bitter. »Mit den Schuldgefühlen kam die Verzweiflung. Und mit der Verzweiflung die Wut. Ich versuchte, die Schuld auf jemand anderen zu schieben. Letztendlich gab ich die Schuld am Tod meiner Schwester zwei Männern: dem einen, weil er Dominik in den Dschihad geführt hatte, und dem anderen, weil sein nachlässiges Verhalten Dominik überhaupt erst dazu ermutigt hatte, diesen Weg zu gehen.« Sie zeigte auf den Murrabi und dann auf Kampel.
Lisa geriet ins Erzählen. »In den folgenden Wochen entwickelte ich einen einfachen Plan. Ich wollte, dass der Mann, der Dominik in den Heiligen Krieg geführt hatte, stirbt. Und ich wollte, dass Sie ihn töten und die Verantwortung dafür auf sich nehmen müssten, Herr Kampel.
Um meinen Plan umzusetzen, musste ich zunächst jedoch den Mann finden, der Dominik fortgeschickt hatte. Ich habe die Spur dieses Mannes monatelang verfolgt, Tag und Nacht. Ich war völlig besessen. Meine Vorgesetzten haben relativ bald festgestellt, dass ich in diesem Fall persönlich befangen war und mich von der Sache abgezogen. Aber ich bin drangeblieben.« Lisa atmete tief durch. »Irgendwann, nach Monaten der Suche, hatte ich endlich eine Spur. Ich bekam den Hinweis, dass demnächst in einer Berliner Moschee eine Fitna übergeben würde, die von dem Mann stammte, den ich suchte. Es war die perfekte Möglichkeit, um ihn endlich zu finden. Aber ich wusste auch, dass ich nicht in der Lage sein würde, diese Fitna alleine zu lösen. Ich brauchte Hilfe von einem Experten zum Thema Islam. Und da kam mir die Idee, wie ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen könnte.«
Lisa zeigte auf Kampel. »Sie sollten mir dabei helfen die Fitna zu lösen. Ich musste dann nur noch dafür sorgen, dass Sie den Mann hinter der Fitna auch tatsächlich umbringen würden, und ich könnte alles Ihnen anhängen.
Von da an war alles ganz einfach. Ich beschattete den Rekruten und beobachtete, wie ihm die Fitna übergeben wurde. Ich folgte ihm in eine dunkle Gasse, brachte ihn um und nahm ihm den Anhänger ab. Seine Leiche lud ich in einen Transporter, den ich vorher gemietet hatte, und fuhr zu Ihrem Haus, Herr Kampel. Ich wollte, dass seine Leiche später auf Ihrem Grundstück gefunden werden würde, damit jeder denken würde, dass Sie nicht nur den Mann hinter der Fitna, sondern auch den Rekruten umgebracht hätten. Die Polizei hätte geglaubt, dass Sie sich auf einem privaten Rachefeldzug wegen Ihrem Sohn befunden hätten.«
Lisa machte eine kurze Pause. Ihre Stimme wurde nachdenklich. »Als ich vor Ihrer Tür stand und klingelte, war mir sehr mulmig zumute, Herr Kampel. Ich kannte Sie nur aus Marias Erzählungen – bei denen Sie nicht gut wegkamen, glauben Sie mir. Es war deshalb umso eigenartiger, Sie dann persönlich kennenzulernen. Irgendwie surreal. Vor mir stand der Mann, dem ich die Schuld am Tod meiner Schwester gab und von dem ich in all den Monaten, in denen ich meinen Plan geschmiedet hatte, ein grausames Bild gezeichnet hatte. Ich hatte Sie mir als Scheusal vorgestellt. Aber Sie waren völlig anders. Um ehrlich zu sein, fand ich Sie gleich sympathisch. Das war sehr verwirrend.«
Lisa holte Luft. »Trotzdem blieb ich bei meinem Plan. Ich sagte Ihnen, dass ich Ihre Hilfe benötigte, um die Fitna zu lösen und dass ich mich an keinen Experten aus meiner Abteilung wenden konnte, weil ich von dem Fall abgezogen wurde. Das stimmte, aber ich verschwieg Ihnen, dass ich Ihre Hilfe vor allem deshalb in Anspruch nahm, um Ihnen später den Mord an dem Rekruten und dem Mann hinter der Fitna anzuhängen.«
Lisa fiel ein Detail ein. »Herr Kampel, als Sie einwilligten und wir uns auf den Weg zum Holocaust-Mahnmal machten, war ich übrigens sehr froh, dass Sie vorschlugen, Ihren eigenen Wagen zu nehmen – denn ich wollte den Kleintransporter mit der Leiche unbedingt auf Ihrem Grundstück stehen lassen. Hätten Sie meinen Wagen nehmen wollen, hätte ich Ihnen gesagt, dass er gerade kaputtgegangen sei oder etwas in der Art.«
Lisa lächelte leicht, als sie Kampel ansah. »Um ehrlich zu sein, hat es mir sogar Spaß gemacht, mit Ihnen der Fitna zu folgen. Sie waren ganz anders, als ich dachte. Das war für mich völlig verwirrend, denn je länger wir zusammenarbeiteten, desto ungerechter erschienen mir Marias Erzählungen über Sie und desto größere Zweifel bekam ich an meinem Plan …« Lisa hielt inne. »Herr Kampel, als Sie mir heute im Café am Checkpoint Charlie von Maria erzählten, merkte ich, dass Sie sie wirklich geliebt haben. Ihnen die Schuld am Tod meiner Schwester zu geben, erschien mir in diesem Moment völlig selbstsüchtig …«
Die Kommissarin befreite sich mit einem Kopfschütteln aus ihren Gedanken. »Aber dann dachte ich wieder daran, wie Maria von Ihnen gesprochen hatte, Herr Kampel. Und trotz aller Bedenken blieb ich bei meinem Plan, den ich schon so lange ausgefeilt hatte: Sie sollten den Autor der Fitna töten. Also drückte ich Ihnen die Waffe in die Hand und behauptete, ich würde die Schuld auf mich nehmen, wenn Sie den Mann hinter der Fitna umbringen würden.«
Lisa seufzte. »Aber das war gelogen. Ich hätte die Schuld niemals auf mich genommen. Ganz im Gegenteil: Ich hätte gegenüber der Polizei behauptet, dass Sie mir die Waffe abgenommen und den Autor der Fitna eigenmächtig erschossen hätten. Außerdem hätte ich gesagt, dass Sie den Rekruten getötet hätten, der den Anhänger ursprünglich bekommen sollte und so an die Fitna gelangt wären. Ich hätte behauptet, dass nicht ich Sie, sondern Sie mich aufgesucht hätten, um Ihnen bei der Suche nach der Fitna zu helfen. Dann wäre mein Plan verwirklicht gewesen: Der Mann, der Dominik in den Dschihad geführt und damit Maria in den Tod getrieben hatte, wäre getötet worden. Und Sie müssten dafür die Verantwortung übernehmen, Herr Kampel.«
Lisa trat langsam auf Kampel zu. »Aber ich weiß jetzt, dass meine Schwester völlig falsch lag. Sie haben keine Schuld daran, dass Dominik sich radikalisierte. Und für ihren Tod sind Sie genauso wenig verantwortlich. Ganz im Gegenteil, Sie wollten Maria sogar beschützen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schrecklich es für Sie gewesen sein muss, Ihren eigenen Sohn zu vergraben und seinen Tod zu vertuschen. Und das haben Sie alles nur für Maria getan, um sie vor dem grausamen Wissen zu bewahren, dass Dominik Sie töten wollte. Sie haben damit mehr für meine Schwester getan als jeder andere.« Lisa schüttelte traurig den Kopf. »Leider hat es ihr jedoch nicht geholfen. Maria hat sich trotzdem umgebracht. Sie war von einer Wolke des Schmerzes umgeben, durch die niemand dringend konnte. In ihrer blinden Verzweiflung gab sie Ihnen die Schuld an Dominiks Verschwinden. Wahrscheinlich half ihr das, um besser mit der Situation fertigzuwerden. Genauso wie ich Ihnen die Schuld an Marias Tod gab. Das war alles falsch.«
Lisa deutete auf den Murrabi. »Dieser Mann trägt die alleinige Verantwortung dafür, was Dominik getan hat. Er hat Dominiks Schmerz und Zorn über die Trennung seiner Eltern schamlos ausgenutzt, um aus ihm ein Werkzeug für den Dschihad zu machen.« Lisa trat einen weiteren vorsichtigen Schritt auf Kampel zu. Ihre Stimme wurde eindringlicher: »Dieser Mann wird für seine Taten bezahlen, das schwöre ich Ihnen, Herr Kampel. Aber das geht nur, indem wir ihn vor ein Gericht stellen. Wenn wir ihn festnehmen, sorge ich höchstpersönlich dafür, dass seine Taten bis ins Detail untersucht werden. Er wird sich für jeden einzelnen rekrutierten Dschihadisten und für jede zerstörte Familie verantworten müssen.«
Stille trat ein. Kampels Blick wanderte zwischen Lisa und dem Murrabi hin und her. Die Waffe in seiner Hand zitterte.
Der Murrabi hatte die ganze Zeit über aufmerksam zugehört. »Wir haben hier ein hübsches kleines Familientreffen«, sagte er mit sarkastischem Lächeln. »Offensichtlich lag Dominik uns allen sehr am Herzen.«
Bei der Erwähnung von Dominiks Namen wurde Kampels Griff um die Pistole plötzlich fester. Er zielte genau auf den Kopf des Murrabi.
Der Murrabi wirkte nicht im Geringsten eingeschüchtert, sondern lächelte. »Gut so, Kampel! Nun bringen Sie mich endlich um! Ich bin bereit, dem Schöpfer entgegenzutreten. Ich habe ihm gedient, wie kaum ein anderer. Zahlreiche Mudschahidin habe ich auf seinen Weg geführt. Wenn ich nun im Heiligen Krieg sterbe, werde ich einen der höchsten Plätze im Paradies erhalten, ganz nah bei Gott.« Der Murrabi schloss die Augen und zitierte einen berühmten Ausspruch Mohammeds aus den Hadithen: »›Wisset, dass das Paradies unter den Schatten der Schwerter liegt.‹«[193]
»Ich tu’s!«, rief Kampel wütend. »Ich schwöre, ich tu’s!«
»Ich bitte Sie darum«, sagte der Murrabi grinsend. »Aber dann werden Sie auch mit den Konsequenzen leben müssen: Ich werde als der bekannte Schullehrer sterben, der Zeit seines Lebens für einen friedlichen Islam warb. Und Sie werden der islamkritische Autor sein, der mich aus persönlichem Hass auf Muslime umgebracht hat. Denn nichts anderes wird die Welt glauben. Wenn ich tot bin, werden Sie nie beweisen können, dass ich etwas mit dem Islamischen Staat zu tun hatte.«
»Aber wir haben Ihre Fitna-Gedichte«, sagte Kampel. »Die beweisen, dass Sie Terroristen rekrutieren!«
Der Murrabi lächelte. »Ich bitte Sie, Herr Kampel, was wollen Sie denn schon mit ein paar Gedichten beweisen? Es sind Gedichte, die sich mit islamischen Glaubensfragen beschäftigen. Eine Schnitzeljagd unter Muslimen, das ist alles. Außerdem haben Sie nur die fünf Gedichte dieser Fitna von mir. Alle anderen Prüfungen habe ich jedes Mal vernichtet, sobald ein Schüler sie gelöst hat. Und außerdem hätten Sie die Fitna genauso gut selbst verfassen können, Herr Kampel. Ein bekannter Religionswissenschaftler wie Sie hätte durchaus die Fähigkeiten dazu …«
»Er hat recht«, sagte Lisa zu Kampel. »Ohne ihn können wir nichts beweisen. Wir müssen ihn vor ein Gericht stellen! Nur so können wir seine Machenschaften aufklären.«
Der Murrabi schüttelte den Kopf. »Hören Sie nicht auf sie, Kampel! Töten Sie mich! Gott wird mich im Paradies erwarten.« Mit einem grausamen Lächeln setzte er hinzu: »Ich werde Dominik von Ihnen grüßen.«
Kampel zitterte vor Wut. »Sagen Sie nicht seinen Namen!«, schrie er.
»Nehmen Sie die Waffe runter«, flüsterte Lisa eindringlich. »Lassen Sie ihn nicht so einfach davonkommen! Bitte tun Sie’s für Dominik – für meinen Neffen.«
Kampel hielt die Pistole fest umklammert. Der Lauf der Waffe zielte auf den Murrabi. Er müsste nur seinen Zeigefinger auf den Abzug drücken und der Mann, der ihm seinen Sohn weggenommen hatte, wäre endlich tot.
Aber würde das irgendetwas ändern? Würde er dadurch ruhiger schlafen können?
Sein Blick suchte Lisas große hellblaue Augen – Marias Augen. Hätte sie gewollt, dass er es so beenden würde?
Kampel ließ die Pistole sinken.
»Sie werden vor einen weltlichen Richter treten«, sagte er zu dem Murrabi. »Nicht vor Gott.«
Lisa atmete erleichtert auf.
Plötzlich donnerte eine Stimme durch die Moschee: »Keine Bewegung! Waffe fallen lassen und Hände hoch!«
Kampel zuckte zusammen, als er diese Stimme hörte. Sie war leise, aber sie hatte die Kraft eines Feuersturms. Er hatte nicht erwartet, sie je wiederzuhören.
»Ich sagte, Waffe fallen lassen und Hände hoch!«
Kampel zögerte nicht. Er ließ die Pistole in seiner Hand zu Boden fallen. Dann hob er die Hände über seinen Kopf und drehte sich um.
Im Türrahmen der Moschee stand der Araber, der Kampel und Lisa schon den ganzen Tag über verfolgt hatte. Der Killer hielt sich eine Hand an den Bauch, wo Kampel ihn auf dem Friedhof angeschossen hatte. Sein Hemd und seine Hose waren voller Blut. In der anderen Hand hielt er die Pistole mit dem großen Schalldämpfer. Die Waffe zielte genau in Kampels Richtung.
Der Araber schloss die Tür der Moschee mit einem Fußtritt hinter sich und schritt in den Raum hinein. Er blieb in einigen Metern Sicherheitsabstand vor ihnen stehen.
Kampel und Lisa hatten beide ihre Hände gehoben. Nur der Murrabi rührte sich nicht und wirkte völlig gelassen. Er lächelte den Araber breit an.
»Sind Sie der Autor der Fitna?«, fragte der Attentäter den Murrabi.
Der Murrabi nickte. »Ja, der bin ich, mein Bruder.«
Auch über das Gesicht des Arabers ging nun der Anflug eines Lächelns. Noch immer hielt er die Pistole in seiner Hand vor sich ausgestreckt.
Kampel starrte wie hypnotisiert in den Lauf der Waffe, die in seine Richtung zeigte. Es war, als würde er in einen Abgrund schauen.
Er wusste, dass gleich alles vorbei sein würde. Das Letzte woran er dachte, war sein Sohn.
Dann drückte der Araber ab.
Kapitel 60
Die Kugel schlug mitten in der Stirn des Murrabi ein. Ein Blutschwall trat aus seinem Kopf, dann sackte er zu Boden. Er war sofort tot.
Der Dschinn warf einen kurzen Blick auf den toten Murrabi und grinste zufrieden. Danach richtete er die schallgedämpfte Pistole in seiner Hand auf Kampel und Lisa. Er deutete mit dem Lauf auf Lisas Dienstwaffe, die Kampel vor sich fallen gelassen hatte. »Schieben Sie die Pistole mit dem Fuß zu mir!«, befahl er.
Kampel benötigte einen Moment, bis diese Anweisung in seinem Kopf ankam. Er war völlig verwirrt. Er hatte fest damit gerechnet, dass der Araber ihn und Kommissarin Albers erschießen würde, aber nicht den Murrabi. Ich dachte, der Kerl will den Murrabi retten?
»Die Waffe!«, wiederholte der Araber ungeduldig. »Und keine Tricks!«
Kampel erwachte aus seiner Verwirrung. Wie befohlen, versetzte er Lisas Dienstwaffe vor ihm einen schwungvollen Tritt mit dem Fuß. Die Waffe glitt über den Teppich zu dem Killer.
Der Dschinn deutete mit der Pistole in seiner Hand auf den Teppich zu Kampels und Lisas Füßen. »Hinsetzen!«
Kampel zitterte am ganzen Körper. Wollte er sie etwa im Sitzen erschießen? Lisa bedeutete ihm mit einem mahnenden Blick, dem Befehl Folge zu leisten. Beide setzten sich langsam auf den weichen Teppich der Moschee.
Der Dschinn setzte sich ebenfalls. Während er seinen Körper zu Boden sinken ließ, hielt er sie mit der Pistole in Schach. Mit der anderen Hand hielt er sich die Wunde am Bauch. Als sein Körper den Teppich berührte, biss er einen Moment lang die Zähne vor Schmerz zusammen. Offenbar belastete die Bewegung seine Bauchwunde.
Der Dschinn deutete auf Kampel und Lisa und dann auf die Leiche des Murrabi. »Als Sie auf dem Friedhof der Şehitlik-Moschee mit diesem Mann da telefonierten, hörte ich, dass Sie sich hier mit ihm treffen sollten. Nachdem Sie den Friedhof verlassen hatten, habe ich meine letzte Kraft zusammengenommen und mich zu Fuß hierhergeschleppt.« Der Dschinn sprach leise und erschöpft. Seine Stimme war nun kein Feuersturm mehr, sondern nur noch ein heißes Glimmen.
Er schaute an sich selbst herunter auf das Blut, das sich aus seinem Bauch über seine Hand ergoss. »Ich kenne solche Wunden«, sagte er. »Ein klassischer Bauchschuss. Ich werde sterben. Ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit ich noch habe, deshalb will ich Ihnen schnell mein Angebot unterbreiten.«
»Ihr Angebot?«, fragte Lisa kampfeslustig zurück, trotz der auf sie gerichteten Pistole. »Warum sollten wir irgendetwas tun, das Sie uns vorschlagen?«
Der Dschinn hatte mit dieser Frage gerechnet. Mit seiner freien Hand hielt er ein Handy in die Höhe. »Wenn mein Kontaktmann innerhalb der nächsten Minuten keinen Anruf von mir bekommt, wird er die Polizei verständigen und eine Streife zu Herrn Kampels Haus schicken lassen. Er wird der Polizei erzählen, dass Sie einen Mann getötet und seine Leiche auf Kampels Grundstück abgestellt haben, Frau Albers.« Der Dschinn wandte sich zu Kampel. »Mein Kontaktmann wird der Polizei außerdem berichten, was sich unter dem Gewächshaus in Ihrem Garten befindet, Herr Kampel.«
Kampel fuhr überrascht zusammen. »Woher wissen Sie …?«
»Ich stand in den letzten Minuten vor der Tür und habe gelauscht«, unterbrach der Dschinn ihn. »Ich habe alles gehört, was Sie besprochen haben. Dabei habe ich ein paar wirklich sehr interessante Dinge über Ihren Sohn erfahren, Herr Kampel … und über Ihren Neffen, Frau Albers.« Der Dschinn deutete auf die Leiche des Murrabi, die ein paar Meter entfernt von ihnen lag. »Während ich vor der Tür stand, habe ich die ganze Zeit gehofft, dass Sie diesen Mann erschießen würden, Herr Kampel. Dann hätte ich es nicht tun müssen.«
Kampel konnte seine Verwirrung nicht länger zurückhalten. »Warum haben Sie ihn denn überhaupt erschossen? Sie arbeiten doch beide für den Islamischen Staat!«
Der Dschinn schaute Kampel einen Augenblick lang verwirrt an. Dann lachte er leise auf. Das Lachen schien ihm Schmerzen zu bereiten, denn er hielt sich den Bauch. Er wurde wieder ernst und schüttelte den Kopf. »Ich arbeite nicht für den Islamischen Staat.«
»Aber Sie wollten doch die Fitna beschützen! Deshalb haben Sie uns die ganze Zeit über verfolgt, oder nicht? Wir sollten uns nicht in die Rekrutierung von Dschihadisten für den Islamischen Staat einmischen und den Kopf hinter der Organisation nicht enttarnen.«
»Unsinn! Ich wollte die Fitna nicht beschützen. Ich wollte die Fitna und ihren Urheber vernichten.« Der Dschinn zeigte auf den toten Murrabi. »Ich wollte diesen Mann davon abhalten, weiterhin Mudschahidin zu rekrutieren und zu Terroranschlägen anzuspornen. Außerdem sollte niemals jemand von seinen Aktivitäten erfahren – deshalb wollte ich Sie beide ebenfalls aus dem Weg räumen. Ich kann es nicht zulassen, dass Sie sich mit Ihrem Wissen über diesen Mann an die Öffentlichkeit wenden.«
Wieder drehte sich alles in Kampels Kopf. Er verstand überhaupt nichts mehr.
Der Dschinn betrachtete einen Moment lang den toten Murrabi, aus dessen Stirn noch immer Blut strömte und sich über sein Gesicht ergoss. Es war ein grausiger Anblick. Der Dschinn seufzte. »Der Murrabi, wie er sich selbst nannte, war ein guter Mann. Er führte viele Mudschahidin auf den Weg Gottes. Eine ehrenvollere Aufgabe kann ein Muslim kaum erbringen. Er wird zweifellos einen hohen Platz im Paradies erhalten.« Der Dschinn schwieg kurz und schüttelte dann den Kopf. »Aber seine Herangehensweise an den Dschihad war völlig falsch. Er hat der Sache Gottes nur geschadet. Deshalb musste er sterben.«
Der Dschinn wandte seinen Blick wieder zu Kampel und Lisa. In seinen Augen glühte die pure Verachtung. »Auch ich will, dass aus eurer erbärmlichen, ungläubigen Welt das Dār al-Islām wird, das Land Gottes. Aber das erreichen wir Muslime nicht mit Gewalt, wie es der Murrabi wollte. Die Terroranschläge, die er und seine Mudschahidin verüben, gefährden nur den wahren Krieg, den wir gegen euch führen. Es gibt weitaus effektivere Waffen im Dschihad als das Schwert …«
Der Dschinn deutete in den großen Raum hinein, in dem sie saßen. »Diese Moschee ist ein perfektes Beispiel für die Art von Dschihad, die wir Muslime im Moment stattdessen führen sollten. Schauen Sie sich um.« Er sprach zwar leise, doch es war ein Befehl.
Kampel und Lisa ließen ihren Blick durch den großen, hellen Raum der Moschee fahren.
»Fällt ihnen irgendetwas auf?«, fragte der Dschinn.
Lisa überlegte. Worauf wollte der Attentäter hinaus? Was war an dieser Moschee besonders? Sie kramte in ihrem Gedächtnis. Sie wusste, dass die Dār-as-Salām-Moschee schon seit vielen Jahren in den Berichten des Verfassungsschutzes auftauchte, weil Verbindungen zur Muslimbruderschaft vermutet wurden. Außerdem waren hier schon verschiedene Extremisten aufgetreten.[194] Kurioserweise hatte der Imam der Moschee dennoch einen Verdienstorden des Landes Berlin erhalten. Darüber hinaus fiel Lisa jedoch nichts ein, was diese Moschee besonders machen würde.
Auch Kampel schüttelte verwirrt den Kopf. »Diese Moschee wirkt für mich völlig normal«, sagte er.
Der Dschinn lächelte süffisant. »Endlich ein Rätsel, das der große Religionswissenschaftler Paul Kampel nicht lösen kann – im Gegensatz zu den Fitna-Gedichten des Murrabi.« Er schaute sich in dem Gebetsraum um und lächelte. »Wissen Sie nicht, was der Raum, in dem wir gerade sitzen, früher war? Bevor dieser Ort zu einer Moschee wurde?«
Kampel schüttelte den Kopf.
Der Dschinn beugte sich langsam zu Kampel vor. Seine Augen loderten auf. »Ich sage es Ihnen, Herr Kampel. Bis vor wenigen Jahren war dieser Raum keine Moschee, sondern eine Kirche.« Er machte eine Kunstpause. »Die Betreiber mussten die Kirche verkaufen, weil die christliche Gemeinde in Berlin-Neukölln immer kleiner wurde, während der Anteil der Muslime anstieg. Heute ist Berlin-Neukölln der islamischste Stadtteil Berlins. Also wurde dieses Gebäude an eine Gruppe verkauft, die es viel eher benötigte: an einen Moscheeverein.«[195]
Kampel riss überrascht die Augen auf und schaute sich in der Moschee um. Mit einem Mal erkannte er, dass der Gebetsraum tatsächlich die Dimensionen einer kleinen Kirche hatte. Wo heute der Gebetsteppich ausgelegt war, mussten früher einmal Kirchenbänke gestanden habe. Und vorne, wo das Minbar in Richtung Mekka zeigte, war wahrscheinlich ein Altar mit einem Kreuz gewesen.
Kampel drehte sich instinktiv zu dem Murrabi um, der tot hinter ihm lag. Wieder einmal wuchs Kampels Respekt für diesen Mann. Der Murrabi musste diese Moschee ganz bewusst als Treffpunkt ausgewählt haben. Auf diese Weise wollte er seinem neuen Rekruten die Eroberung der westlichen Welt durch den Islam versinnbildlichen.
Der Dschinn fuhr fort: »Diese Moschee ist beileibe nicht die erste Kirche, die der Islam eroberte. Denken Sie etwa an die Umayyaden-Moschee in Damaskus, im heutigen Syrien. Sie ist eine der ältesten Moscheen der Welt – aber sie war ursprünglich als Kirche errichtet worden. Sie wurde erst im Zuge der arabischen Eroberungen umgewandelt. Oder nehmen Sie die Hagia Sophia in Istanbul, eine der berühmtesten Moscheen überhaupt. Auch sie war früher einmal eine Kirche. Wie Sie sicherlich wissen, hieß Istanbul früher Konstantinopel und war eine christliche Stadt. Als Sultan Mehmed II. im Jahr 1453 die Stadt eroberte, drangen mutige Muslime in die Hagia Sophia ein, trieben die Christen zusammen und metzelten sie nieder. Fortan war die Kirche eine Moschee und aus dem christlichen Konstantinopel wurde das islamische Istanbul. Auch viele andere Länder wurden um diese Zeit herum islamisch: Bosnien, Albanien, der Sudan, Brunei, Indonesien …«
Fasziniert lauschte Kampel den Worten des Dschinn. Er hatte diesen Mann bisher für einen stumpfsinnigen Killer gehalten, doch er begriff, dass der Araber einen scharfen Verstand besaß. Die historischen Fakten, die er nannte, waren genauso tadellos wie seine deutsche Aussprache.
Der Dschinn blickte Kampel verächtlich an. »Ich glaube an den Heiligen Krieg, Herr Kampel. Ich bin davon überzeugt, dass es das Ziel Gottes ist, die gesamte Welt islamisch zu machen. Aber dazu haben wir heute eine viel stärkere und subtilere Waffe als das Schwert. Schauen Sie sich um!« Wieder warf der Dschinn einen Blick in den Gebetsraum. »Um diese Kirche zu einer Moschee zu machen, musste kein einziger Tropfen Blut vergossen werden. Kein einziger Schuss war dazu nötig. Diese Kirche wurde allein durch die Demografie erobert: Die Zahl der Christen in Berlin-Neukölln nimmt ab und die Zahl der Muslime nimmt zu. Das ist alles.« Er machte eine große Geste. »Und genauso wird der Islam den Rest eurer ungläubigen Länder erobern. Ganz ohne Waffen. Mit jedem Muslim, der in dieses Land einwandert und mit jedem muslimischen Kind, das hier geboren wird, wird das Land ein Stück islamischer.« Die Stimme des Dschinn glühte auf. »Und denken Sie bloß nicht, es wäre dem Islam heutzutage nicht mehr möglich, christliche Länder demografisch zu erobern! Denken Sie nur an den Libanon: Noch um 1930 herum war der Libanon ein mehrheitlich christliches Land, vielen Schätzungen zufolge sogar bis in die 50er-Jahre. Damals waren etwas mehr als die Hälfte aller Libanesen christlich. Im Laufe der Zeit wanderten jedoch viele Christen aus und immer mehr Muslime wanderten ein. Außerdem bekamen die Muslime viel mehr Kinder.[196] Dadurch stellen Muslime im Libanon heute die Mehrheit, 54 Prozent aller Libanesen sind Muslime.[197] Der Libanon wurde von einem christlichen zu einem islamischen Land. Und das allein durch die Kraft der muslimischen Demografie.«
Der Dschinn machte eine weitere Kunstpause. »Auch in Europa wächst die muslimische Bevölkerung unaufhaltsam. In Deutschland hat sich die Zahl der Muslime in den letzten 25 Jahren fast verdoppelt.[198] In Österreich hat sich die Zahl der Muslime im gleichen Zeitraum sogar vervierfacht![199] Gleichzeitig werden die christlichen Gemeinden in Europa immer kleiner und die Zahl der Atheisten wächst.« Der Dschinn holte kurz Luft. »Aber ich will Sie nicht mit Statistiken langweilen, Herr Kampel. Sie kennen diese Zahlen besser als ich. Wie mir mein Kontaktmann berichtete, haben Sie erst vor Kurzem ein Buch über dieses Thema veröffentlicht. Sie nennen diese Entwicklungen den Demografischen Dschihad.« Der Dschinn überlegte kurz und lächelte. »Ein schöner Name, wie ich finde. Der Punkt ist, dass wir Muslime in der westlichen Welt durch unsere bloße Anzahl an Kontrolle gewinnen werden. Diese Prozesse dauern lange, aber sie sind sehr wirkungsvoll. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir die Mehrheit stellen werden.«
Kampel musste an einen Vers aus dem dritten Gedicht der Fitna denken:
Es wird schon bald ’ne Mehrheit sein, die sich nach Mekka wend’t,
am Orte, wo »das deutsche Volk« uns heute noch regiert.
Der Dschinn kam zum Schluss seines Monologs: »Eure Religion ist schwach. Ihr seid schwach. Wenn der Islam über dieses Land herrscht, werdet ihr Ungläubigen euch unterwerfen oder sterben.«
Lisa wirkte von diesen flammenden Worten weit weniger beeindruckt als Kampel. Sie deutete auf die Leiche des Murrabi. »Also haben Sie ihn umgebracht, weil er Ihrer Vorstellung vom Demografischen Dschihad im Weg stand?«
Der Dschinn nickte. »Der Murrabi hat viele mutige Mudschahidin dazu gebracht, euch Ungläubigen großartige Schläge zu versetzen: Sie haben euch auf offener Straße abgestochen, sich in die Luft gesprengt, sind in Menschenmengen gerast … All diese Attacken sind sehr ehrenvoll. Die Mudschahidin haben Schrecken in die Herzen der Ungläubigen geworfen, so wie der Koran es verlangt. Aber sie hatten bei ihren Angriffen nicht das große Ganze im Blick.« Die Augen des Dschinn flammten auf. »Sie haben der Sache Gottes nicht geholfen, sondern ihr geschadet. Mit jedem Terroranschlag erwachen ein paar Ungläubige mehr aus ihrer Lethargie und fordern, die Einwanderung von Muslimen zu beenden. Das darf nicht passieren! Die Grenzen müssen offen bleiben, damit weiterhin Muslime einwandern können. Je mehr Muslime einwandern, desto mehr muslimische Familien werden nachgeholt und desto mehr muslimische Kinder werden gezeugt. Hier in Berlin bekamen im Jahr 2016 deutsche Frauen weniger als 1,4 Kinder. Irakische Frauen bekamen dagegen 4,3 Kinder, afghanische Frauen 4,8 Kinder und syrische Frauen sogar 5 Kinder.[200] Diesen Geburtenüberschuss müssen wir nutzen!« Der Dschinn deutete auf die Leiche des Murrabi. »Dieser Mann musste sterben. Die gewaltsamen Attacken gegen die Ungläubigen müssen aufhören. Unsere schärfste Waffe ist die Demografie, nicht das Schwert.«
Als der Dschinn nun auf den toten Murrabi blickte, lachte er etwas auf. »Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet er hinter der Fitna stecken würde. Ich kenne ihn aus dem Fernsehen. Er hat den Islam dort immer äußerst freundlich präsentiert. Wie es scheint, war er ein Meister der Taqīya.« Der Dschinn seufzte. »Wäre er nur dabei geblieben. Mit der Täuschung der Ungläubigen hätte er dem Islam einen größeren Dienst erwiesen als mit seinen Terroranschlägen. Wenn die Öffentlichkeit erfährt, dass ausgerechnet er Mudschahidin rekrutierte, werden die Folgen für die Sache Gottes verheerend sein. Das darf ich nicht zulassen.« Er blickte zu Kampel und Lisa. »Und Sie werden mir dabei helfen.«
Der Dschinn verzerrte das Gesicht vor Schmerz. Ein neuer Schwall Blut trat aus seiner Wunde. »Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich will Ihnen nun mein Angebot unterbreiten. Sie werden mir dabei helfen, die letzten Spuren der Fitna auszulöschen und ich sorge dafür, dass Sie unbeschadet aus dieser ganzen Angelegenheit herauskommen.«
Der Dschinn umriss ihnen in kurzen Worten seinen Plan. Kampel und Lisa waren schockiert. Was dieser Mann sagte, klang schrecklich.
Und doch war es für alle die beste Lösung.
Lisa überlegte. »Und Sie lassen uns gehen, wenn wir tun, was Sie sagen?«
Der Dschinn nickte. »Ich lasse Sie gehen. Und Sie werden nie wieder etwas von mir oder meinem Kontaktmann hören. Aber nur, wenn Sie sich genau an die Abmachung halten. Wenn Sie jemals etwas über mich oder die Fitna erzählen, wird mein Kontaktmann auf Sie zukommen. Er wird aller Welt von Kampels totem Sohn unter seinem Gewächshaus berichten und von dem jungen Mudschahid, den Sie getötet haben.« Er schwieg kurz. »Nehmen Sie mein Angebot an?«
Kampel und Lisa schauten sich an. Sie konnten nicht fassen, worauf sie sich da einließen, doch es schien tatsächlich die einzig sinnvolle Möglichkeit zu sein. Auf diese Weise würden sie nicht nur sich selbst, sondern auch Dominiks Andenken retten können.
Kampel nickte. »Wir nehmen an.«
»Gut«, sagte der Dschinn. »Dann geben Sie mir den Anhänger mit der Fitna.«
Kampel griff in die Innentasche seiner Jacke und zog den Anhänger hervor, den Kommissarin Albers ihm heute gebracht hatte. Er betrachtete noch einmal den schwarzen Zylinder an der grünen Kette. Mit diesem unscheinbaren Schmuckstück hatte alles angefangen. Ein ganz ähnlicher Anhänger hatte Dominik dazu gebracht, in den Dschihad zu ziehen. Und heute war Kampel diesem Anhänger gefolgt und hatte endlich den Mann gefunden, der dafür verantwortlich war.
Tu es für Dominik, sagte er sich selbst.
Kampel warf den Anhänger zum Dschinn. Der Araber öffnete den Anhänger kurz, überprüfte den Zettel darin und nickte zufrieden. Dann griff er hinter sich und nahm Lisas Dienstwaffe in die Hand, die Kampel ihm zuvor übergeben hatte. Für einen kurzen Moment glaubte Kampel, der Araber würde sie entgegen seines Versprechens erschießen, doch er entfernte das Magazin aus der Pistole und verteilte die einzelnen Patronen auf dem Boden vor sich. Dann steckte er das geleerte Magazin zurück in die Waffe und schob sie über den Gebetsteppich hinweg zu Lisa.
»Ich will nicht, dass man Ihre Waffe hier findet, wenn ich fertig bin«, sagte er.
Die Kommissarin nickte knapp und steckte die leere Waffe in ihre Jacke.
Als Nächstes wiederholte der Dschinn den Vorgang mit seiner eigenen Pistole. Er entließ das Magazin aus der Waffe und entleerte die einzelnen Patronen vor sich auf dem Teppich. Dann steckte er das leere Magazin zurück in die Waffe und schob sie in Lisas Richtung.
»Meine eigene Pistole darf man hier ebenfalls nicht finden«, sagte er. »Nichts soll auf einen Mudschahid hindeuten.«
Lisa war überrascht, dass der Dschinn ihr seine Pistole gab, doch sie steckte sie ein und nickte.
»Und nun gehen Sie«, sagte der Araber. Das Feuer in seiner Stimme flammte noch einmal bedrohlich auf: »Und denken Sie an meine Worte: Wenn Sie je ein Wort über diese Sache verlieren, werden Sie es bereuen!«
Kampel und Lisa nickten. Sie standen langsam auf und gingen an dem Dschinn vorbei zur Eingangstür der Moschee. An der Tür angekommen, blickte Kampel noch ein letztes Mal zurück in den Gebetsraum. Der Dschinn saß mit dem Rücken zu Ihnen und starrte auf das Minbar.
So endet es, dachte Kampel. Niemand wird je erfahren, was hier passierte.
Er öffnete die Tür der Moschee und verschwand mit Lisa in der kalten Winternacht.
Kapitel 61
Der Dschinn stöhnte auf vor Schmerz. Die Wunde an seinem Bauch blutete immer stärker. Der Gebetsteppich unter ihm war inzwischen voll von seinem Blut. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, um den letzten Teil seiner Mission zu beenden: Er musste alle Spuren der Fitna vernichten.
Unter Schmerzen bildete der Dschinn in der Mitte des Gebetsraums einen großen Haufen aus Flyern und Broschüren, die er in der Moschee gefunden hatte. Das Papier war das perfekte Brennmaterial für das Feuer, das er legen wollte. Er hätte auch die verschiedenen Korane im Gebetsraum dafür verwenden können, doch er schreckte davor zurück, sie anzuzünden. Die Korane würden durch das Feuer in der Moschee zwar ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen werden, doch er wollte das Feuer nicht mit ihnen beginnen. Das wäre ein Frevel am Wort Gottes.
Nachdem der Dschinn das Papier großzügig vor sich verteilt hatte, kramte er in seiner Tasche nach den Pistolenkugeln, die er aus seiner eigenen Waffe und der Dienstwaffe der ungläubigen Polizistin entnommen hatte, und legte sie ebenfalls auf den Haufen. Das Schießpulver in den Kugeln würde das Feuer rasch beschleunigen. Dann bückte er sich zu einer Flasche Reinigungsmittel, die er in einem Hinterzimmer der Moschee gefunden hatte, und übergoss damit das Papier. Der Fleckentferner war vermutlich angeschafft worden, um den Gebetsteppich zu reinigen. Heute würde die schnell entzündliche Chemikalie nicht nur den Teppich sauber halten, sondern das öffentliche Ansehen des Islam im Land des Krieges.
Der Dschinn seufzte, als er daran dachte, was sich unter dem mit Reinigungsmittel getränkten Papier befand. Er hatte den Haufen auf der Leiche des Murrabi gebildet. Die Flammen würden den Körper des Mannes verschlingen. Es schmerzte den Dschinn jedes Mal, wenn er einen Mudschahid umbringen musste. Und nun musste er die Leiche eine Mudschahid sogar noch verbrennen, wie die eines Ungläubigen. Dies war für gewöhnlich ein großer Frevel, doch Gott würde dem Dschinn verzeihen. Wenn der Islam siegen sollte, durften die Machenschaften des Murrabi niemals an die Öffentlichkeit gelangen.
Der Dschinn hatte alles genau durchdacht. Der Leichnam des Murrabi würde bis zur Unkenntlichkeit verbrennen, sodass die Polizei niemals seine Identität herausfinden würde. Niemand würde je erfahren, dass er Mudschahidin rekrutiert und zu Terroranschlägen angespornt hatte. Er würde allen nur als beliebter Schullehrer in Erinnerung bleiben, der von einem Tag auf den anderen plötzlich verschwunden war.
Der Dschinn hatte vor ein paar Minuten mit Raschid telefoniert und ihm seinen Plan erläutert. Raschid war zunächst schockiert gewesen, doch er hatte schnell begriffen, dass dies die beste Lösung war. Er würde die Polizei auf eine falsche Fährte locken und die Identität des Brandopfers verschleiern. Womöglich könnte er sogar dafür sorgen, dass die Öffentlichkeit glauben würde, das Feuer in der Moschee sei von Feinden des Islam aus Hass gelegt worden.
Wie auch immer es genau ablaufen würde: Die Ungläubigen würden nichts über die wahren Aktivitäten des Murrabi erfahren. Es würde kein öffentliches Aufsehen geben und keine Skandale. Alles würde so weitergehen wie bisher und der Islam würde sich durch die Demografie weiterhin rasant verbreiten. Es würde lange dauern, aber irgendwann würde aus dem Land des Krieges dann das Land des Islam werden, so wie es schon mit so vielen anderen ungläubigen Ländern geschehen war. Gott würde dafür sorgen.
Der Dschinn griff in seine Jacke und zog den Anhänger mit der Fitna hervor. Andächtig betrachtete er das arabische Wort, das in goldener Farbe schwungvoll auf den schwarzen Anhänger gemalt war:
فتنة
Fitna. Die Glaubensprüfung.
Der Dschinn wusste, dass das Wort auf dem Anhänger ein Zeichen Gottes war. Was er gleich tun würde, war die schwierigste Prüfung, vor die der Herr ihn jemals gestellt hatte. Der Dschinn würde diese letzte Fitna bestehen müssen, um seinen Glauben zu beweisen und sich einen Platz unter dem Thron Gottes zu verdienen.
Der Dschinn warf den Anhänger auf den Papierhaufen. Dann bückte er sich zu zwei weiteren Flaschen Reinigungsmittel, die neben ihm standen. Er öffnete die erste Flasche und verteilte ihren Inhalt großzügig auf dem Teppich um sich herum. Die zweite Flasche entleerte er über seinem Kopf. Der Fleckentferner lief seinen Körper herab. Er wurde klitschnass.
Der Dschinn musste alle Spuren der Fitna vernichten. Dazu gehörte auch er selbst. Auch er würde eine nicht identifizierbare Leiche werden, die man in der ausgebrannten Moschee finden würde. Es würde sein, als hätte es ihn nie gegeben. Er würde wie ein Geist verschwinden. Wie ein Dschinn.
Er zog ein Feuerzeug aus seiner Tasche.
Ich bin bereit für deine letzte Prüfung, Herr. Ich werde mein Leben für einen Platz an deiner Seite eintauschen, genau wie es der Prophet – Friede sei mit ihm – durch dich offenbarte.
Der Dschinn zitierte leise einen Koranvers vor sich hin:
[4:74] Diejenigen aber, die das diesseitige Leben um den Preis des Jenseits verkaufen, sollen um Gottes willen kämpfen. Und wenn einer um Gottes willen kämpft, und er wird getötet – oder er siegt –, werden wir ihm im Jenseits gewaltigen Lohn geben.
Er ließ das Feuerzeug in seiner Hand klicken. Die Flamme stach jäh hervor und fing an, zu tanzen. Der Anblick brachte ihn zum Lächeln. Er musste an die vielen wundersamen Geschichten über die Dschinn denken, die ihm seine Mutter als Kind jede Nacht vorgelesen hatte. Die Dschinn waren Geister aus Feuer. Gott hatte sie geschaffen, um ihm zu dienen. Nun würde er selbst zu einem Dschinn werden.
Er hielt die Flamme an seine Jacke. Dann ließ er das Feuerzeug auf den Papierhaufen vor sich fallen. Die Flammen züngelten schnell in die Höhe und umschlossen ihn.
Er verschwand in dem Feuer und damit für immer aus der Welt der Menschen. Wie ein Dschinn.
Kapitel 62
»Parken Sie wieder neben dem Haus«, bat Kampel auf dem Beifahrersitz.
Lisa nickte und brachte den Kleintransporter in der Einfahrt zum Stehen, wo sie ihn heute bereits bei ihrem ersten Besuch abgestellt hatte.
Kampel schwitzte noch immer. Er war völlig abgekämpft – körperlich wie emotional. Er konnte noch immer nicht glauben, was er und Kommissarin Albers gerade getan hatten.
Er schaute auf die Armbanduhr an seinem Handgelenk. Seit sie die Dār-as-Salām-Moschee verlassen hatten, waren vier Stunden vergangen. Danach hatten sie sich sofort zu Kampels Haus begeben, hatten zwei Schaufeln aus seiner Garage genommen und waren in Lisas Lieferwagen zu einem Waldstück außerhalb Berlins gefahren. Tief im Wald lag ein kleines Privatgrundstück, das die Kommissarin geerbt hatte. Ihr Vater hatte dort Zeit seines Lebens eine Ferienhütte bauen wollen, war aber nie dazu gekommen. Auf dem Grundstück hatten sie stundenlang ein tiefes Loch ausgehoben. Dann hatten sie die Leiche des Dschihadisten, dem Lisa die Fitna abgenommen hatte, in das Loch gelegt und es wieder zugeschüttet.
Damit hatten sie ihren Teil der Abmachung mit dem Araber erfüllt: Die Leiche des Anwärters sollte für immer verschwinden und niemand sollte jemals von seinem Tod erfahren. So als hätte es ihn und die Fitna niemals gegeben.
Kampel und Lisa lauschten der Musik aus dem Autoradio, das sie auf der Fahrt leise hatten laufen lassen. Sie hatten gehofft, die Musik würde sie davon ablenken, was sie gerade getan hatten.
»Sind Sie sicher, dass niemand die Leiche finden wird?«, fragte Kampel.
»Ganz sicher«, antwortete Lisa. »Morgen werde ich auf dem Grab ein Fundament gießen und darauf eine kleine Laube errichten. Außerdem ist das Grundstück abgezäunt. Dort verläuft sich niemand versehentlich hin.« Sie schwieg eine Weile. »Wir haben unseren Teil der Abmachung erfüllt. Wir können jetzt nur hoffen, dass der Araber sich an seinen Teil hält.«
Im Radio wurde die Musik gerade von einer Nachrichtensendung unterbrochen. Als Kampel die ersten Worte des Berichts hörte, drehte er sofort lauter.
Eine Nachrichtensprecherin berichtete in sachlichem Ton: »In der Dār-as-Salām-Moschee in Berlin-Neukölln hat es einen Großbrand gegeben. Die Feuerwehr benötigte Stunden, um das Feuer in den Griff zu bekommen. In der Moschee wurden zwei Personen gefunden, die bei dem Brand ums Leben kamen. Aufgrund ihrer schweren Verbrennungen konnten die Leichname bisher noch nicht identifiziert werden. Die Brandursache ist derzeit noch unklar.«
Lisa schaltete das Radio aus, als die Nachrichtensprecherin zum nächsten Thema überging.
»Da haben wir unsere Antwort«, sagte sie. »Der Araber hat sich an die Abmachung gehalten. Es ist vorbei.«
Wieder breitete sich Stille zwischen Kampel und Lisa aus. Beide wussten, dass sie sich nun voneinander trennen könnten, doch etwas hielt sie zurück. Sie wollten noch nicht auseinandergehen.
»Ich werde jetzt in mein Gewächshaus gehen … Dominik besuchen.« Kampel zögerte. »Möchten Sie mitkommen?«
Lisa lächelte traurig. »Ich hatte gehofft, dass Sie mich das fragen würden.«
Sie schnallten sich ab und stiegen aus dem Kleintransporter. Kampel führte Lisa durch die Seitentür in sein Haus.
Als Kampel das Licht in der Wohnküche anschaltete, überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl. Es schien ihm Tage her zu sein, dass er und Lisa hier gesessen und über das erste Gedicht in dem Fitna-Anhänger gesprochen hatten. Doch seitdem waren nur wenige Stunden vergangen.
Kampel ging durch die Wohnküche zur Glasschiebetür, die zum Garten hinausführte. Lisa folgte ihm, blieb jedoch nach einigen Metern in der Mitte des Raums stehen. Sie starrte auf einen dunklen Fleck auf dem Parkett zu ihren Füßen, von dem sie noch vor wenigen Stunden gedacht hatte, dass es ein Brandfleck sei.
Kampel bemerkte ihren traurigen Blick. Er nickte. »Hier ist die Kugel eingeschlagen, die Dominik ins Herz traf. Er ist genau an dieser Stelle gestorben.«
Eine Träne rann über Lisas Gesicht und fiel zu Boden. Ihr linkes Auge zuckte dabei. Sie weinte wie ihre Schwester.
Kampel öffnete die Glasschiebetür. »Kommen Sie«, sagte er und forderte Lisa auf, ihm hinaus in den Garten zu folgen. Gemeinsam gingen sie über das Gras zu dem schiefstehenden Gewächshaus, das Kampel vor fast einem Jahr in größter Eile errichtet hatte.
Kampel betrat das Glashaus und schaltete eine Lampe an der Decke an. Das Gewächshaus erstrahlte in einem angenehmen warmen Licht.
Lisa sah sich fasziniert um. Der kleine, gläserne Raum war an den Seiten vollgestellt mit Blumenkästen, in denen Unmengen von Pflanzen akkurat nebeneinander standen. Die Blumen waren von dicken Erdhaufen umgeben, die sie vor der winterlichen Kälte schützen sollten, doch noch immer schauten ihre bunten Blüten keck hervor. Von all den bunten Gewächsen sprangen Lisa die Pflanzen am Ende des Gewächshauses besonders ins Auge.
»Mein ganzer Stolz«, verkündete Kampel, als er auf die majestätischen Pflanzen zeigte. »Meine weißen Rosen.«
»Sie sind wunderschön«, sagte Lisa leise.
»Danke. Ich komme jeden Tag hierher und denke an Dominik, wenn ich diese Rosen betrachte. Weiße Rosen stehen für Liebe über den Tod hinaus.«
»Und für ein Geheimnis … Sub rosa.«
Kampel nickte. »Ja, sub rosa. Direkt unter uns liegt Dominik begraben.«
Sie betrachteten schweigend die weißen Rosen. Es waren wunderschöne Pflanzen. Zerbrechlich, aber wunderschön.
Nach einer Weile warf Kampel einen Blick zur Kommissarin. Er merkte, dass sie sich schon seit Langem über etwas den Kopf zerbrach.
»Woran denken Sie?«, fragte er.
Lisa versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Mir geht die ganze Zeit durch den Kopf, was Sie von Ihrer letzten Begegnung mit Dominik erzählten. Als Dominik Sie mit einer Pistole bedrohte, zitierten Sie einen Koranvers, der dazu aufruft, seine ungläubigen Eltern gütig zu behandeln. Dominik führte dagegen einen Vers an, in dem es hieß, Muslime sollten sich von dem ungläubigen Teil ihrer Familie trennen. Welcher der beiden Verse stimmt denn nun?«[201] Lisa holte kurz Luft und sprach dann weiter. Ihre Worte kamen immer schneller. Es war deutlich, dass sie zutiefst verwirrt war. »Diese Frage habe ich mir heute immer wieder gestellt: Was stimmt denn nun? Herr Kampel, Sie haben mir heute zahlreiche Koranverse genannt, in denen zum Krieg gegen die Ungläubigen aufgerufen wird. Aber ich weiß, dass es auch viele friedliche Verse im Koran gibt. Welche dieser Verse stimmen denn nun? Die gewalttätigen oder die friedlichen? An welche Verse sollen sich die Muslime halten?« Sie holte noch einmal tief Luft. Dann kam die alles entscheidende Frage. »Worauf ich hinauswill: Ruft der Islam zum Frieden oder zur Gewalt auf?«
Kampel hatte der Kommissarin interessiert zugehört. Er konnte ihre Verwirrung sehr gut nachvollziehen. Auch er selbst hatte sich diese Frage im Laufe seiner wissenschaftlichen Laufbahn immer wieder gestellt.
Ruft der Islam zum Frieden oder zur Gewalt auf?
Kampel schwieg eine Weile. Er wägte seine Worte sehr genau ab, bevor er zu seiner Antwort ansetzte.
»Lassen Sie mich Ihnen eine Geschichte erzählen«, sagte er. »Vor ungefähr dreihundert Jahren führten die klügsten Physiker der damaligen Zeit eine hitzige Debatte über das Licht. Einige Physiker behaupteten, das Licht bestehe aus einzelnen Teilchen – ein Vertreter dieser Theorie war beispielsweise der weltberühmte Sir Isaac Newton. Andere Physiker meinten hingegen, das Licht bestehe aus Wellen. Nach den Erkenntnissen der damaligen Zeit schlossen sich diese beiden Modelle gegenseitig aus. Nur eine der beiden Lösungen konnte korrekt sein: Das Licht musste entweder aus Teilchen oder aus Wellen bestehen.
Die Debatte um die Beschaffenheit des Lichts wurde in der Physik intensiv und mit häufig wechselnden Ergebnissen geführt. In den ersten Jahren des Streits schloss sich die Mehrheit der Wissenschaftler Newtons Ansicht an, dass das Licht aus einzelnen Teilchen bestehen müsse, denn diese Annahme passte sehr gut zu den damaligen physikalischen Erkenntnissen. Einige Jahre später jedoch zeigten verschiedene physikalische Versuche – wie etwa das Doppelspaltexperiment –, dass das Licht sich in bestimmten Situationen tatsächlich wellenförmig verhält. Daher setzte sich in den folgenden Jahren wiederum die Überzeugung durch, das Licht bestehe aus Wellen.
Vor etwas mehr als hundert Jahren machte die Physik mit dem Aufkommen der Quantenmechanik schließlich eine erstaunliche Entdeckung: Das Licht besteht aus Wellen und aus Teilchen. Obwohl die Teilchen- und die Wellenhypothese einander ausschließen, sind sie beide richtig. Diese Eigenschaft des Lichts wird als Welle-Teilchen-Dualismus bezeichnet.«
Kampel machte eine kurze Pause. »Der Islam ist von einem ganz ähnlichen Dualismus geprägt. Der Islam ruft gleichzeitig zum Frieden und zur Gewalt auf. Beides sollte einander ausschließen und doch ist es wahr.«
Kampel blätterte in dem dicken Koran, den er noch immer mit sich trug. »Der Koran ist in seinen Aussagen zum Thema Gewalt äußerst widersprüchlich – vor allem, wenn man die mekkanischen und die medinensischen Verse miteinander vergleicht. Als Mohammed noch in Mekka lebte, predigte er, dass Muslime die Ungläubigen geduldig ertragen sollten.« Kampel las vor:
[50:39] Ertrage nun geduldig, was sie [die Ungläubigen] sagen! […]
»In Mekka rief der Prophet die Muslime nicht dazu auf, die Ungläubigen zu bekämpfen, sondern sich ganz einfach von ihnen abzuwenden.«
[53:29] Wende dich nun von denen ab, die sich von unserer Mahnung abkehren, und denen der Sinn nur nach dem diesseitigen Leben steht!
»Mohammed predigte sogar, dass Muslime den Ungläubigen Glück wünschen sollten.«
[25:63] Die wahren Diener des Barmherzigen sind diejenigen, die demütig und bescheiden auftreten, und die, wenn törichte Leute sie ansprechen, »Heil!« sagen […]
Kampel suchte eine andere Stelle im Koran. »Jahre später, als Mohammed nach Medina auswanderte, eine große muslimische Armee aufbaute und zahlreiche Gebiete eroberte, wandelten sich seine Predigten radikal. In Medina rief er nicht mehr zum Frieden, sondern zur zügellosen Gewalt auf. Einer der radikalsten Verse aus der medinensischen Zeit ist sicherlich der Schwertvers, den Mohammed kurz vor seinem Tod offenbarte. Demzufolge sollen Muslime die Ungläubigen immer und überall töten.« Kampel las vor:
[9:5] Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf! […]
Lisa schluckte. Kampels sachliche Art vorzulesen, ließ ihr die Worte noch brutaler erscheinen.
Der Religionswissenschaftler blätterte weiter. »Auch andere medinensische Verse sind in ihrem Aufruf zur Gewalt gegen Ungläubige nicht weniger drastisch …«
[2:191] Und tötet sie [die Ungläubigen], wo immer ihr sie zu fassen bekommt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben! Der Versuch, Gläubige zum Abfall vom Islam zu verführen, ist schlimmer als Töten. […]
»Viele dieser dschihadistischen Verse habe ich Ihnen im Verlauf des heutigen Tages bereits vorgelesen«, sagte Kampel.
»Aber welche Verse gelten denn nun?«, fragte Lisa verwirrt. »Die friedlichen Verse aus der mekkanischen Zeit oder die gewalttätigen Verse aus der medinensischen Zeit? Dass beides gilt, ist doch gar nicht möglich!«
Kampel lächelte. »Genau dasselbe behaupten die Dschihadisten. Auch sie sind der Meinung, dass die friedlichen Verse aus Mekka und die gewalttätigen Verse aus Medina einander widersprächen und nur eine der beiden Lehren stimmen könnte. Sie lösen diesen Widerspruch auf, indem sie sich an diejenigen Koranverse halten, die Mohammed zuletzt offenbarte. Ihrer Auffassung nach ersetzen die jüngeren Verse aus Medina die älteren Verse aus Mekka – man nennt diesen Vorgang Abrogation. Die Abrogation wird im Koran an einigen Stellen erwähnt. So erklärt der Koran, dass Gott bestimmte Verse aufheben kann, indem er sie ›in Vergessenheit geraten lässt‹. Gott kann nicht nur die gewöhnlichen Muslime, sondern sogar Mohammed höchstpersönlich bestimmte Koranverse vergessen lassen. Er kann bereits ausgesprochene Koranverse einfach löschen oder er tauscht sie durch neue und bessere aus. Den Verfechtern der Abrogation zufolge wurden die friedlichen mekkanischen Verse durch die gewalttätigen medinensischen Verse abrogiert, also ersetzt.«[202] Kampel schaute einen Moment lang gedankenverloren in die Ferne. Traurigkeit schlich sich in seine Stimme. »Auch Dominik berief sich auf die Abrogation. Bei meiner letzten Begegnung mit ihm zitierte ich verschiedene mekkanische Verse, um ihn davon abzubringen, mich zu töten. Doch er tat die mekkanischen Verse als veraltet ab und behauptete, sie seien durch medinensische Verse ersetzt worden.«
Kampel wandte seinen Blick wieder zu Lisa. »Andere Muslime hingegen lehnen das Konzept der Abrogation strikt ab. Sie argumentieren, dass der Koran direkt von Gott stammt und seine Worte perfekt und für alle Zeiten gültig sind. Dieser Auffassung nach gelten sowohl die friedlichen mekkanischen Verse als auch die kämpferischen medinensischen Verse. Das ist der Dualismus des Islam: Diese beiden Konzepte sollten sich eigentlich ausschließen und doch sind sie beide gültig. Es ist wie mit dem Licht – es besteht aus Teilchen und aus Wellen, obwohl dies auf den ersten Blick unmöglich scheint.«
Kampel überlegte kurz, wie er Lisa diesen Widerspruch noch besser verständlich machen konnte. »Der Dualismus zieht sich durch viele islamische Konzepte«, sagte er. »Nehmen Sie beispielsweise den Dschihad. Wie Sie wissen, bezeichnet der Begriff Dschihad im wörtlichen Sinne eine Anstrengung. Im islamischen Sinne zielt das Konzept des Dschihads darauf ab, dass ein Muslim jede ihm mögliche Anstrengung erbringen muss, um den Islam in der Welt zu verbreiten. Wie diese Anstrengung im Einzelnen aussieht, wird im Koran und in den Hadithen jedoch sehr unterschiedlich beschrieben. Zum einen gibt es die sogenannten inneren Anstrengungen für den Dschihad, also die Bekehrung von Ungläubigen durch Wort und Schrift. Zum anderen gibt es die äußeren Anstrengungen für den Dschihad, also der gewalttätige Kampf gegen die Ungläubigen mit dem Schwert. Beide Konzepte des Dschihads sind korrekt. Es besteht ein Dualismus.«
Kampel hielt kurz inne. »Egal, ob man nun der Argumentation der Abrogation oder der des Dualismus folgt: Die gewalttätigen Koranverse kommen nach islamischem Verständnis von Gott und sind damit ein fester Bestandteil des Islam. Von den Millionen Muslimen auf der Welt hält jedoch nur eine kleine Minderheit Gewalt im Namen des Islam für gerechtfertigt. Dennoch wäre es falsch, Ihnen zu verschweigen, dass gewalttätige Einstellungen in der islamischen Gemeinde eine gewisse Verbreitung finden.« Kampel blätterte in seinem Koran und zog mehrere Blätter hervor, die er lose in das Buch gelegt hatte. Sie waren eng mit kleiner Schrift bedruckt. »Lassen Sie mich Ihnen ein paar Ergebnisse von Umfragen unter Muslimen zitieren.«
Kampel las Lisa im Schnelldurchlauf kurze Untersuchungsergebnisse vor, die er in verschiedenen Kategorien notiert hatte.
—UMFRAGEN UNTER MUSLIMEN—
GEWALT IM NAMEN DES ISLAM
- 20 % der Türkeistämmigen in Deutschland finden: »Die Bedrohung des Islam durch die westliche Welt rechtfertigt, dass Muslime sich mit Gewalt verteidigen«. 7 % finden Gewalt gerechtfertigt, um den Islam zu verbreiten und durchzusetzen.
- Befragte: 1201 türkeistämmige Personen ab 16 Jahren in Deutschland.[203]
- Unter muslimischen Neuntklässlern können sich 29,9 % gut vorstellen, selbst für den Islam zu kämpfen und ihr Leben zu riskieren. 18,6 % finden: »Es ist die Pflicht jedes Muslims, Ungläubige zu bekämpfen und den Islam auf der ganzen Welt zu verbreiten.« 17,7 % finden: »Gegen die Feinde des Islam muss mit aller Härte vorgegangen werden.«
- Befragte: 280 muslimische Neuntklässler in Niedersachsen.[204]
- Unter muslimischen Studenten in Großbritannien finden 32 % es berechtigt, im Namen der Religion zu töten.
- Befragte: 600 muslimische Studenten an britischen Universitäten.[205]
- 9 % der britischen Muslime finden Gewalt zur Durchsetzung politischer und religiöser Ziele akzeptabel. 29 % würden den Islam aggressiv verteidigen. 9 % der Befragten sind als »Hardcore-Islamisten« einzustufen.
- Befragte: 1000 Muslime in Großbritannien.[206]
- 7 % der britischen Muslime finden, dass Selbstmordanschläge gegen Zivilisten in Großbritannien gerechtfertigt sein können (9 % bei den 18-24-Jährigen). 16 % finden, dass Selbstmordanschläge gegen das Militär in Großbritannien gerechtfertigt sein können (25 % bei den 18-24-Jährigen).
- Befragte: 1131 Muslime in Großbritannien.[207]
- 10 % der britischen Muslime sympathisieren mit Gewaltanwendung bei politischen Protesten.
- Befragte: 1081 Muslime in Großbritannien.[208]
- Unter jungen Türken in den Niederlanden finden es 80 % nicht falsch, dass Dschihadisten Krieg gegen Ungläubige führen. 87 % finden es gut, wenn niederländische Muslime Dschihadisten unterstützen.
- Befragte: 300 türkische Niederländer zwischen 18 und 34 Jahren.[209]
- 33 % der muslimischen Jugendlichen in Frankreich finden Gewalt akzeptabel, um ideologische Ziele zu erreichen. 32 % haben fundamentalistische Einstellungen. 24 % verurteilen den dschihadistischen Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo am 07.01.2015 nicht. 21 % verurteilen den dschihadistischen Anschlag auf die Konzerthalle Bataclan am 13.11.2015 nicht.
- Befragte: 1750 muslimische Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren an 21 Schulen in Frankreich.[210]
- 26 % der jungen Muslime in den USA finden, Selbstmordanschläge können gerechtfertigt sein. (In Großbritannien liegt die Zustimmung in dieser Altersgruppe bei 35 %, in Frankreich bei 42 %, in Deutschland bei 22 % und in Spanien bei 29 %.)
- Befragte: 1050 muslimische US-Amerikaner. In den anderen Ländern jeweils etwa 400 Befragte.[211]
- 25 % der muslimischen US-Amerikaner finden Gewalt gegen andere US-Amerikaner im Namen des globalen Dschihads gerechtfertigt. 19 % finden Gewalt gerechtfertigt, um die Scharia in den USA durchzusetzen. 29 % finden Gewalt gegen Personen gerechtfertigt, die den Islam beleidigen.
- Befragte: 600 Muslime in den USA.[212]
- 19 % der muslimischen Amerikaner finden Selbstmordanschläge zum Schutz des Islam teilweise gerechtfertigt. In 36 weiteren untersuchten Ländern liegt der Schnitt bei 28 %.
- Befragte: Über 30.000 Befragte in 36 Ländern.[213]
- 12 % der Muslime in den USA finden Gewalt »manchmal« oder »oft« gerechtfertigt, um politische, soziale oder religiöse Ziele durchzusetzen.
- Befragte: 1001 muslimische US-Amerikaner.[214]
- In islamischen Ländern finden über 10 % der befragten Muslime Anschläge gegen Zivilisten gerechtfertigt, um den Islam zu schützen. 13 % geben dies in Pakistan an, 15 % in der Türkei, 29 % in Ägypten, 39 % in Afghanistan und 40 % in Palästina.
- Befragte: Über 30.000 Befragte in 36 Ländern.[15]
SYMPATHIEN MIT TERRORISTEN
- 20 % der Türken finden, die Opfer der Anschläge auf die Satirezeitung Charlie Hebdo hätten ihren Tod verdient, weil sie sich über Mohammed lustig machten.
- Befragte: 3000 Personen in der Türkei.[216]
- 21 % der Türken finden, der Islamische Staat repräsentiere den Islam. 10 % würden den Islamischen Staat nicht als Terrororganisation einstufen.
- Befragte: Über 1500 Personen in der Türkei.[217]
- Unter muslimischen Neuntklässlern in Deutschland finden es 8 % richtig, dass Muslime im Nahen Osten versuchen, durch Krieg einen Islamischen Staat zu gründen. 3,8 % finden: »Muslimen ist es erlaubt, ihre Ziele notfalls auch mit terroristischen Anschlägen zu erreichen.«
- Befragte: 280 muslimische Neuntklässler in Niedersachsen.[218]
- 10 % der Muslime in Belgien haben Verständnis für den Islamischen Staat.
- Befragte: 500 Muslime zwischen 15 und 55 Jahren aus Flandern und Brüssel.[219]
EXTREMISMUS IN MOSCHEEN
- 45 % der britischen Muslime stimmen zu, dass Prediger, die zur Gewalt gegen den Westen aufrufen, den »Mainstream« im Islam darstellen.
- Befragte: 1000 Muslime in Großbritannien.[220]
- 21 % der muslimischen US-Amerikaner sind der Meinung, es herrsche ein »ziemliches« bis »großes« Maß an Extremismus in der US-amerikanischen muslimischen Gemeinde.
- Befragte: 1033 muslimische US-Amerikaner über 18 Jahren.[221]
- 51 % der Moscheen in den USA präsentieren auf ihren Internetseiten Texte, die deutlich zur Gewalt aufrufen; 30 % präsentieren Texte, die »gemäßigt« zu Gewalt aufrufen. Nur 19 % der Moscheen haben keine gewalttätigen Texte auf ihren Internetseiten.
- Untersucht: 100 repräsentative Moscheen in den USA.[222]
- 35 % der britischen Muslime sind der Meinung, extremistische Meinungen in ihrer muslimischen Gemeinde übertönen gemäßigte Meinungen.
- Befragte: Über 3000 Muslime in Großbritannien.[223]
Kampel gab Lisa einen Moment, um die vielen Informationen zu verarbeiten. Sie hatte ihm aufmerksam zugehört, doch er merkte, dass ihr der Kopf brummte.
Kampel holte Luft. »Letztendlich liegt es an den Muslimen, was sie aus dem Koran machen. Für die Mehrheit der Muslime ruft ihre heilige Schrift zum Frieden auf. Der Islam spendet diesen Menschen Trost und gibt ihnen Kraft. Für andere ist der Koran dagegen eine Aufforderung zum Kampf gegen die Ungläubigen. Was die Muslime aus dem Islam machen, liegt ganz allein an ihnen selbst.«
Kampel und Lisa standen eine Weile schweigend nebeneinander und betrachteten die weißen Rosen vor sich.
»Ich glaube, ich sollte jetzt gehen«, sagte Lisa leise. Sie berührte Kampel am Arm. »Danke für alles, was Sie heute für mich getan haben.«
»Ich muss Ihnen danken«, meinte Kampel. »Nach Dominiks Tod fühlte ich mich unglaublich leer. Jeden Tag habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, warum Dominik sich gegen mich gewandt hat und wer ihn dazu anstiftete. Aber jetzt …« Er suchte nach Worten. »Vielleicht kann ich nun endlich damit abschließen … Jetzt da ich weiß, wer Dominik in den Dschihad geführt hat. Dieses Wissen bringt mir meinen Sohn zwar nicht zurück, aber ich bin nun endlich nicht mehr im Ungewissen.«
Lisa nickte verständnisvoll. »Nach Marias Selbstmord ging es mir ähnlich. Ich bin in ein tiefes Loch gefallen. Ich wollte irgendjemandem die Schuld an ihrem Tod geben und die lud ich Ihnen auf.« Sie senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Das war falsch. Es tut mir schrecklich leid, was ich Ihnen antun wollte. Ich hoffe, Sie können mir verzeihen.«
Kampel lächelte. »Keine Sorge. Ich weiß, dass Sie aus Liebe gehandelt haben. Wir waren nur Opfer.«
Lisa lächelte traurig zurück. »Danke«, sagte sie leise. »Machen Sie’s gut.« Sie drehte sich um und öffnete die Tür des Gewächshäuschens.
Als sie über die Schwelle trat, wurde Kampel plötzlich schwer ums Herz. Er hatte Angst davor, alleine in sein großes Haus zurückzukehren.
»Warten Sie. Wollen Sie vielleicht …« Er zögerte. »Wollen Sie vielleicht noch auf einen Tee bleiben? Ich habe noch so viele Fragen über Maria.« Er machte eine kurze Pause. »Außerdem wäre es schön, wieder ein Stück Familie in diesem Haus zu haben. Sie sind immerhin meine Ex-Schwägerin. Und Dominiks Tante.«
Lisa lächelte. »Ich bleibe sehr gerne. Dominiks Tante hätte ihren Neffen schon vor langer Zeit einmal besuchen sollen.«
Für einen Moment lächelten sie sich schweigend an.
Lisa trat über die Schwelle des Gewächshauses hinaus in den Garten. »Ich koche schon mal das Wasser für unseren Tee. Ich glaube, Sie wollen noch eine Minute lang alleine sein.«
Wieder einmal war Kampel überrascht davon, wie die Kommissarin seine Gedanken zu lesen schien. »Danke«, sagte er. »Ich komme gleich nach.«
Lisa schloss die Tür des Gewächshauses hinter sich und ging durch den Garten in Kampels Haus.
Kampel war wieder alleine. Gedankenverloren betrachtete er seine weißen Rosen. Beim Anblick der Pflanzen merkte er, dass sich etwas in ihm verändert hatte. Als er vor wenigen Stunden die Rosen betrachtet hatte, hatte er nur ihre Details wahrgenommen. Er hatte die Farbe der Blütenblätter, die Dicke der Stängel und den Wuchs kontrolliert und daran abgelesen, wie gut die Pflanzen gediehen. Doch über all diesen Details hatte er gar nicht wahrgenommen, wie schön die weißen Rosen waren.
Die Rosen hatten Dornen, an denen man sich stechen konnte. Doch ebenso hatten sie wunderschöne Blüten. Sie konnten verletzten und gleichzeitig erfreuen. Ein Dualismus, dachte Kampel.
Er schaltete das Deckenlicht aus und trat aus dem Gewächshaus. Bevor er die Tür hinter sich schloss, richtete er ein paar geflüsterte Worte zu seinen weißen Rosen und zu dem, was unter ihnen lag: »Ich werde dich immer lieben, Dominik. Bitte vergib deinem Vater. Er wusste nicht, was er tat.«
Kampel schloss die Tür und ging über den Rasen zu seinem Haus. Über ihm kündigte sich der kommende Sonnenaufgang mit einem ersten blauen Streifen am Horizont an. Ein neuer Tag begann.